die Waldparty

Text

von  atala

Ich erinnere mich, wie du sagtest, ich soll mitkommen. Heute Nacht soll ich dich treffen, hinter dem Bahnhof, und meinen Eltern sagen, ich schlafe bei dir. Zieh Stiefel an, hast du gesagt, und nimm eine Sonnenbrille mit! Das war zwei oder drei Wochen nachdem wir vom Tessin zurückkehrt waren. An einem Abend im Tessin saßen wir am Feuer, alle anderen aus der Klasse hatten Nein gesagt, sie würden das nicht tun. Nur wir haben uns über die Flammen hinweg angeschaut und uns mit den Augen versichert, dass wir anders dachten.
In der Schule saßen wir jetzt immer nebeneinander und die Pausen verbrachten ich mit dir in der Ecke, wo man sich zum Rauchen traf, obwohl ich nicht rauchte. Wir standen im selben Kreis mit älteren Schülerinnen und Schüler. Sie nahmen mich wahr, weil du mich mitnahmst. Du gehörtest zu den Coolen, aber ich hätte dich nie laut so genannt.
Ich erinnere mich an das Gefühl, in meinem Bauch, an meine feuchten Hände und dass es eine milde Frühherbstnacht war, als ich aus der Wohnung meiner Eltern in die Nacht ging. Ich hatte ihnen erzählt, dass ich bei einer alten Freundin übernachten würde, im Dorf, in dem wir vorher gewohnt hatten. Jetzt musste ich noch zwei Stunden totschlagen, später hätte ich nicht gehen können, sonst hätten es meine Eltern merkwürdig gefunden. Ich spazierte zum Bahnhof, ging da in alle Shops und begutachtete jedes Produkt, ohne etwas zu kaufen. So verging die Zeit, bis es endlich so weit war, dich zu treffen.
Ich habe dich nicht sofort erkannt, wie du zwischen den leeren Parkplätzen standst, wo es nicht beleuchtet war. Zuerst nahm ich nur eine Gestalt wahr, erst als du dich umdrehtest, konnte ich deinen schmalen Körper sehen. Ich weiß noch, du trugst einen schimmernden Minirock und eine Bomberjacke. Als du mich bemerkt hast, lächeltest du und ich lächelte zurück. Wir standen im Dunkeln auf einem verlassenen Parkplatz mitten in der Nacht und spürte, ich war genau am richtigen Ort.
Diesmal übernahmst du die Führung, du steuertest auf eine Bushaltestelle zu und als der Bus kam, sagtest du, dass wir bis zum anderen Ende der Stadt sitzen bleiben. Außer dem schwachen Licht einer Straßenlampe war es an der Endhaltestelle dunkel. Du bist vor mir zwischen eine Häuserzeile hindurchgegangen, auf einen Weg, der in ein Tal hinab durch den Wald führte. Du brauchtest mir nicht zu erzählen, was wir tun, ich wollte dir blindlings folgen. Einmal hast du mir erzählt, dass du in einer Bar jemanden nach Kokain gefragt hast, einfach weil du es ausprobieren wolltest. „Manchmal muss man alles hinter sich lassen und etwas wagen“, hattest du gesagt und ich hatte genickt.
Wir waren schon mitten im Wald, als du anhieltest und deine Handfläche geöffnet hast. Ich beleuchtete sie mit meinem Handylicht und sah zwei durchsichtige Kapseln mit einem hellen Kern. Eine nahmst du zwischen Daumen und Zeigefinger und hieltst sie mir ganz dicht vors Gesicht. Das Gegenlicht zeigte das Innere der Kapsel, Umrisse von Miniaturkristallen waren zu erkennen. „MDMA“, sagtest du und schautest mir fest in die Augen. „Es ist ganz leicht, du musst dir nur vorstellen, du würdest einen Bonbon verschlucken.“
Seit wir uns begegnet waren, musste ich keine Entscheidung mehr treffen, alles fügte sich wie von selbst. Du sagtest, wir machen es gleichzeitig. Aus der Innentasche deiner Bomberjacke nahmst du ein Fläschchen Wasser hervor und hieltest es mir hin. Ich legte die Kapsel auf deine ausgestreckte Zunge und öffnete meinen Mund, dann nahm ich einen großen Schluck Wasser. 
Wir gingen weiter durch den dunklen Wald, über uns hörte ich die Autobahnbrücke rauschen. Du hast mich gefragt, ob ich schon etwas spüre, und ich wollte schon Nein sagen, aber dann bemerkte ich ein warmes Gefühl, dass sich von der Bauchgegend aus ausbreitete, meine Fingerspitzen fingen an zu kribbeln und mir wurde übel, aber auf eine gute Art.
Wir waren angekommen. Zwischen den Brückenpfeilern war es hell. Ein großes Feuer brannte, Lichterketten waren an den Bäumen ringsum befestigt und selbstgebaute Pavillons angebracht worden. Ich kannte den Ort. Wir waren im Tal, in dem es neben dem Wald nur ein paar Bauernhöfe gab. Früher muss es unbrauchbares Land gewesen sein, heute hatte es hier ein paar Felder und Kühe weideten auf einer Wiese. An Sonntagen gingen hier Leute spazieren, doch jetzt stand einer an einem mitgebrachten Tisch und legte Techno auf.
Jemand umarmte uns, seine Haare waren zu einem Afro frisiert, er stellte sich als Noah vor. Du rauntest mir ins Ohr, dass er einer der DJs und der Veranstalter sei. Noah erzählte aufgeregt, dass der Stromgenerator ausgesetzt habe und die Lautsprecher nicht funktioniert hätten, erst vor kurzem konnten sie ihn wieder zum Laufen bringen. Darum hatte es sich angehört, als wäre die Musik aus dem Nichts gekommen, habe ich gedacht, aber auch, dass ich trotzdem durch eine unsichtbare Tür geschritten sein musste, in einen Raum, in dem andere Gesetzte gelten. Die Materialien hatten sich verändert, der Boden schwankte plötzlich und ich meinte, dass er sich zu Hügel hinauftürmte, die dann aber auf einmal wieder verschwanden.
Da traf ich zum ersten Mal Jonathan. Er war einer von zwei Männern, die dich kannten und die du mir vorgestellt hast. Ich erinnere mich nur an Jonathan, nicht an seinen Begleiter, ich weiß aber noch, dass beide schwarzglänzende Lederjacken trugen. Jonathan hatte großen Augen und seine Haut war sehr hell, fast durchsichtig. Vielleicht war er nicht wirklich so weiß, möglicherweise hat die Erinnerung einen Schleier um ihn gelegt. Ich erinnere ihn, die Augenlider halb verschlossen, vielleicht aber auch das, eine Ungenauigkeit.
Wir umarmten uns und legten sofort die Köpfe an ihre Brust. Ich habe mich in dieser Nacht in jeden einzelnen verliebt, den ich getroffen habe. Von der Party erinnere ich nur Bruchstückhaftes. Mein Blick hat sich geschärft, aber auch alles Schemenhaft gemacht. Ich habe sehr lange meine Hände betrachtet, bin mit der Fingerkuppe den Gelenken nachgefahren und habe die Knöchel bestaunt. Ich meine, dass ich lange am Feuer gesessen und dass ich getanzt habe, ich glaube, ich habe die Schuhe ausgezogen und bin auf dem Waldboden umhergegangen. Ich habe das Herz auf der Zunge getragen und alle über irgendwas vollgetextet. Deutlich erinnere ich mich aber an das Gefühl, überzeugt davon zu sein, dass die ganze Welt mir gehört. Ich war unglaublich nervös, aber so, als wäre etwas sehr Gutes passiert. Bei jedem Atemzug, den ich nahm, spürte ich das Glück in meinen Venen, wie es sich in alle Kapillaren verteilte. Deine Augen hast du in alle Richtungen verdreht und dein Kiefer mahlte unsichtbares Brot. Manchmal schlossest du lange deine Augenlider und sie zuckten, während du dich zur Musik bewegt hast. Ich war so glücklich, dass ich dachte, gleich sterben zu müssen.
Und auf einen Schlag: Klarheit. Ich saß mit dir und mit den zwei Jungs am Feuer. Es spielte keine Musik mehr, man hörte die Stimmen der Leute. Rund um mich herum war alles in bläuliches Morgenlicht getaucht, die Steine und Gräser, die Gesichter der Leute waren schon zu erkennen, auch der Müll, der am Boden lag. Von diesem Moment in dem wir am Feuer sitzen, gibt es ein Foto. Der Freund von Jonathan muss irgendwann aufgestanden sein und mit einer Kamera ein Bild gemacht haben, denn es war die Zeit bevor jedes Handy gestochen scharfe Fotos machen konnte.
Auf dem Bild habe ich wegen der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammengekniffen, du hast mit den Fingern das Peace-Zeichen gemacht. Jonathans Blick ist abwesend, er schaut auf etwas, das außerhalb des Bildrandes ist, durch den Blitz leuchtet seine Haut. Dieses Foto hat nach dem Unfall eine andere Bedeutung bekommen. Alle Online-Freunde haben später darunter kommentiert, das weinende Smiley, ein gebrochenes Herz und – was ich am meisten hasste, drei große Buchstaben, die für Anteilnahme und Trauer stehen sollen, ich aber aus Rapvideos kenne und so ausgelaugt sind, dass es nur noch eine Worthülse ist. RIP.
„Die Bullen sind da“, hat Jonathans Freund gerufen, nachdem er abgedrückt und hinter uns etwas gesehen hat. „Komm wir hauen ab“, sagtest du und standst auf. Ich nahm deine Hand, die du mir anbotst, Jonathan und der andere folgten. Wir schoben uns an Noah vorbei, der mit zwei Polizeibeamten diskutierte, die ihre Arme verschränkten. Als wir an der improvisierten Bar vorbeigingen, schnapptest du dir noch ein paar Bier, ich griff auch nach einem. Ich fühlte mich nicht schlecht dabei, stellte ich überrascht fest, es war das erste Mal, dass ich etwas gestohlen hatte.
Es musste etwas fünf oder sechs Uhr morgens gewesen sein, vereinzelt hörte man schon die Vögel zwitschern. Meine Glieder zitterten, ich fühlte eine Kälte, die von innen zu kommen schien. Die Aufregung in mir hatte sich gelegt, aber ich hätte unmöglich jetzt schlafen können. Wenn ich nur schon an einen ruhigen Raum dachte, in dem ich die Augen schließen müsste, rastete ich fast aus.
„Ich weiß, was wir jetzt machen!“, riefst du und schautest uns vielsagend an. Du hast deinen Arm zum Himmel gehoben, ich schaue nach oben, aber sah nur die Baumkronen. „Kommt mit!“ Du bist geradewegs durch den Wald hindurch geschritten alles den Hügel hinauf. Ich lief dir nach und schaute währenddessen auf den Boden, sah nur das braune Laub, ab zu und junge Bäume und Sträucher. Jonathan und der andere stampften neben mir her, keuchten und hoben ab und zu den Flaschenhals zum Mund.
Plötzlich stand ich auf Beton, ich hob den Kopf, wir standen direkt unter der Autobahnbrücke. Es hatte noch nicht viel Verkehr am Sonntag in der Früh, man hörte nur vereinzelt jemanden vorbeifahren. Jonathan holte aus seiner Tasche eine blaue Pille hervor, sie hatte die Form eines sechseckigen Sterns. Er hat eine Ecke abgebissen und sie dann weitergegeben, bis ich einen Brocken in der Handfläche hatte, den ich ohne Wasser runterschluckte. Ich schaute in die Runde, Jonathans Pupillen schienen so groß wie seine Augen und du hast ohne Unterbruch nervös an deiner Lippe herumgekaut. Plötzlich hast du dich umgekehrt und bist das letzte steile Stück nach oben geklettert. Die Jungs und ich haben kurz einen Blick gewechselt, aber dann bin ich dir gefolgt und sie kamen mir nach. Wir standen zu viert hinter der Leitplanke, ein Lastwagen jagte gerade an uns vorbei und blies uns seinen Fahrtwind ins Gesicht. Die Straße war doppelspurig und führte auf der anderen Seite in die Gegenrichtung.
Du hast dich zu mir gewendet und gesagt: Traust du dich? Dann bist du über die Absperrung gesprungen und über die erste Doppelspur gerannt. In der Mittelplanke hast du dich umgedreht und uns zugewinkt. Ich glaube nicht, dass ich eine bewusste Entscheidung getroffen habe, vielmehr ist dir mein Körper wie fremdgesteuert gefolgt. Ich rannte über die Autobahn in deine Arme, du kreischtest mir ins Ohr, aber vielleicht war auch ich es, die geschrien hat. Du nahmst meine Hand und wir rannten über die andere Doppelspur. Ich erinnere mich daran, dass die Sonne aufging, dass eine goldene Spur in der Luft lag. Du nahmst deine Sonnenbrille hervor und setztest sie auf die Nasenspitze, ich tat es dir nach. Wir lehnten uns über die Schranke und schauten ins Tal herunter.
Als wir da standen, ich glaube, ich habe nichts hinterfragt. Nie habe ich gesagt, Tan, ist das dein ernst? Deine Vorstellung von Freiheit ist eine schnelle Straße, sind Pillen, ist ein Sonnenaufgang. Ist das alles echt oder spielen wir gerade in einem Spielfilm über das Erwachsenwerden?
Ich habe nicht viel dabei gedacht, als du den Arm ausholtest und die Bierflasche herunterschmettertest, ich schaute ihr nach, wie sich drehte und vom Wind seitlich getrieben wurde, dann habe ich sie aus dem Blickfeld verlor. Ein Auto hupte wiederholt und lange, das an uns vorbeifuhr. Der Fahrer öffnete das Fenster und rief uns irgendwas nach. Wir drehten uns um und rannten zu den anderen zurück, dann lachend die Böschung herunter. Und während wir über die Wurzeln stolperten, war ich davon überzeugt, dass es die schönste Nacht meines Lebens gewesen war.

Ich dachte damals, wir seien mutig, wenn wir alles aufs Spiel setzen für eine Nacht. Heute denke ich, dass ich damals Mut mit etwas anderem verwechselt habe. Vielleicht mit dem Gefühl, bis zu einer Klippe zu gehen, die Zehen über den Rand zu strecken, dann aber nicht zu springen. Weil ich da noch gedacht habe, der Tod sei eine Erfindung und ich hätte eine Haut um mich und alle die ich liebe auch. Eine Haut, die macht, dass alles abprallt, was nicht passieren soll.
Unser Foto im Wald ist das zweitletzte Bild auf Jonathans Profil. Sein letztes zeigt ihn, wie er auf der Lehne eines Bänkchens sitzt, die Füße hat er auf der Sitzfläche, seine Ellbogen sind auf seinen abgestützt, er beugt sich nach vorne, aber blickt zur Seite.
Vor kurzem hat mich die Plattform an meinen zehnjährigen Freundschaftstag mit Jonathan erinnert. Mein Bild und seins – er sitzt immer noch Zweiundzwanzigjährig auf der Bank – drehen sich im Kreis, blaue und rosa Ballone erscheinen dazu.


Anmerkung von atala:

Es ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text in dem es um das Ende einer Freundschaft geht.

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Kommentare zu diesem Text

aliceandthebutterfly (36)
(29.02.20)
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 atala meinte dazu am 01.03.20:
Vielen Dank fürs Durchlesen, die Empfehlung und den Lieblingstext! Dein Kommentar hat mich sehr gefreut, da ich am Text noch herumbastle und ihn schon verwerfen wollte. Dieser Ausschnitt steht etwa in der Mitte der längeren Erzählung, wenn ich sie beende, stell ich sie gern rein. Mal schauen, obs dann gelesen wird, längere Sachen funktionieren im Internet halt nicht so gut.
Liebe Grüsse!
aliceandthebutterfly (36) antwortete darauf am 01.03.20:
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 Dieter_Rotmund (01.03.20)
Und ich habe nur endgültig keine Lust mehr, Texte zu lesen, die mit "ich" beginnen, sorry.

 miljan (06.08.20)
Das ist ein sehr schöner, auch trauriger Text. Ich mag seinen melancholischen Grundton, seine Beobachtungen und Bilder und die klare, dabei irgendwie fragile Sprache, wie man sie in Literaturforen nur sehr selten findet. Überhaupt schreibst du sehr schön; gäbe es ein Buch von dir in diesem Stil, würde ich es lesen.
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