R e i n k a r n a t i o n

Satire

von  Reliwette

“Radio Fünf mit den fröhlichen Wellen für Frühaufsteher – heute zum Thema Reinkarnation – ist heute alles anders? Ein Interview mit dem berühmten Kunst- und Kultur-Historiker, Dr. Michelangelo. Am Mikrofon Heinz Habermann. Vielen Dank, dass Sie zu früher Stunde zu uns ins Studio gekommen sind.“
„Guten Morgen, Herr Habermann.“
„Reinkarnation, was verstehen Sie darunter?“
„Unter diesem Begriff verstehen wir eine Wiedergeburt, will sagen, der Geist eines Verstorbenen wird in einem neuen Leben mit einem neuen Körper wiedergeboren.“
„Sie meinen damit eine Art Zweitauflage des früheren Menschen nach dessen Ableben?“
„Nun ja, Zweitauflage ist wohl nicht der richtige Begriff für dieses Phänomen, dann schon eher eine Wiederbelebung einstmaliger Fähigkeiten in einem neuen Körper mit erneuertem Bewusstsein.“
„Ist das alte Bewusstsein weg?“
„Ja, das ist weitgehend weg, aber es kann durchaus passieren, dass dem einen oder anderen Wiedergeborenen gewisse Situationen bekannt oder vertraut vorkommen.“
Handelt es sich bei Wiedergeborenen um weiterentwickelte Personen, um Prototypen eines Menschen von morgen?“
„Weiterentwicklungen ja, Prototypen eines Übermenschen von morgen, nein. Ich gehe davon aus, dass auch Sie bereits zwei- oder dreimal wiedergeboren wurden!“
„Was, ich?“
„Ich bin fest davon überzeugt, ebenso wie ich davon überzeugt bin, dass ich in meinem früheren Leben der bekannte Bildhauer Michelangelo war.“
„Ich kann mich aber an rein gar nichts erinnern!“
„Der Wiedergeborene fängt praktisch ganz von vorne an, er muss neu lernen, nur - es geht wesentlich schneller. Manche Dinge kommen uns vertraut vor, eine Sprachbegabung hier, eine musische oder mathematische Begabung dort, oder ein außerordentlich gut entwickelter Betrüger, da ganz hinten links in der Zuschauerreihe!“
„Ach, das ist ja interessant. Sie glauben, dass ein Betrüger eine Gnadenbegabung in sich trägt?“
„Wir können das durchaus als eine fehlgeleitete Form einer kreativen Begabung bezeichnen, als eine Art Mutation. Die Schöpfung wird das natürlich sofort korrigieren.
Dennoch können wir feststellen, dass Betrüger oft intelligente Personen sind, die planen und zielgerichtet agieren können. Ihnen mangelt es allerdings an sozialer Kompetenz. Oft handelt es sich um Beziehungsverräter. Zuweilen leiden sie selbst unter diesem Manko. Sie spielen sich und ihrer Umwelt ständig Lügenmärchen vor und müssen aufpassen, dass sie sich nicht widersprechen. Letztlich glauben diese Personen selbst an ihre Lügenmärchen und speichern diese im Kopf als Realitäten ab.
Aus der Pflanzenwelt kennen wir das Phänomen des Betruges schon recht lange. Nehmen wir den Sonnentau als Beispiel, eine fleischfressende Pflanze. Sie täuscht ihre Besucher mit spiegelnden, duftenden Tröpfchen an den Rändern ihrer Blütenkelche. Insekten, die auf diese Verlockung hereinfallen, werden verdaut. Diese Pflanze lebt vom Betrug. Irgendwie hat sich fast die gesamte Zivilisation auf Täuschung und Beeinflussung eingestellt, nehmen wir Sie als Beispiel!“
„Mich?“
„Warum nicht? Sie haben sich zum Journalisten ausbilden lassen.“
„ Nein, nicht lassen, selbst ausgebildet!“
„Auch gut. Was liegt näher als die Vermutung, dass Sie, sagen wir, um 1530 bereits als Laternenausrufer in einer kleinen Stadt in Mitteldeutschland gelebt haben und ...“
„Ich? Ein Laternenausrufer?“
„ … und später, sagen wir – um 1793 - als Aalverkäufer auf dem Fischmarkt aktiv waren.“
„Das wird ja immer spannender, was glauben Sie denn noch über mich zu wissen?“
„Natürlich kann das auch ganz anders gewesen sein. Vielleicht waren Sie vor Christi Geburt ein Trommler in den Diensten eines Pharaos und waren sogar im Beamtenverhältnis.“
„Eines Pharaos?“
„Meinetwegen auch auf einer Sklavengaleere in den Diensten eines römischen Kaisers!“
„Unglaublich, was Sie da sagen, ich kann es mir nicht vorstellen!“
„Nicht wahr? Ihr Charisma liegt vermutlich im Trommeln. So genau kann ich das aus dem Stegreif nicht ermitteln, aber es würde passen. Der Laternenausrufer, der Marktschreier mit seinen Aalen, der Trommler! Aus der Trommel wurde Ihr Mikrofon, aus den platschenden Ruderschlägen Ihre Stimme. Das Rhythmische haben Sie beibehalten, denn Ihre Sendung läuft wöchentlich und wiederholt sich in Intervallen. Jedes Mal dienstags um sieben Uhr in der Frühe. Das einzige, was sich in den Jahrhunderten verändert hat, ist die Geschwindigkeit des Taktes. Wir sprechen hier von der oszillatorischen Schwingungs-phase ...“
„Aha!“
„Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist der Umstand, dass Ihr Trommeln und Ihre jetzige Tätigkeit etwas gemeinsam haben, die Signalwirkung! Das ist, wie wenn ein Stein ins Wasser geworfen wurde.“
„Ich? Ins Wasser geworfen?“
„Nur als Beispiel, ich muss mit einem Beispiel arbeiten, damit die Hörer es verstehen!“
„Also gut, ich wurde ins Wasser geworfen!“
„Sie werden als Stein ins Wasser geworfen. Das ist ein Unterschied! In dem Fall gehen von Ihnen gleichmäßige ringförmige Wellen aus, welche die Trägheit der Wasseroberfläche überwinden. Die Intensität der Wasserwellen ist abhängig von bestimmten physikalischen Größen.“
„Und was passiert jetzt?“
„Nichts, die Ringe des Wassers sind Ihre Trommel.“
„Ach, die Trommel!“
„Ja genau, es entstehen Schallwellen, die primär von den Trommelstöcken erzeugt werden. Diese sind abhängig von der Größe der Trommel, von der Länge und dem Gewicht der Trommelstöcke und der Energie, die sie bewegt. Dabei setzt die Luft den Schallwellen Widerstand entgegen. Das muss auch so sein, denn sonst könnten wir ja hören, was sich die Buschtrommler in Afrika zu sagen haben. Die Menschheit würde ja vom Wesentlichen abgelenkt.“
„Ich kann Ihnen nicht mehr folgen. Was hat das alles mit Reinkarnation meiner völlig unbedeutenden Person zu tun?“
„Es ist doch ganz einfach. Ihre Trommel von damals, das ist heute der Sender. Der Widerstand der Luft ist heute der Regulierknopf am Empfangsgerät, auch Potentiometer genannt.“
„Ich denke, Sie sind Kunst- und Kulturexperte! Jetzt glaube ich, dass Sie Elektriker sind!“ „Nein, lassen Sie sich nicht beirren, das Potentiometer am Empfangsgerät ist Ihr Handicap.“
„Mein Handicap, was ist das jetzt wieder?“
„Mit der Häufigkeit der Reinkarnationen nimmt auch das persönliche Handicap zu, und zwar proportional.“
„Das einzige Handicap, das ich zurzeit zu überwinden habe, besteht in einer längst fälligen Gehaltserhöhung. Ich werde im Anschluss an diese Sendung zu meinem Intendanten gehen. Proportional, sagen Sie?“
„Der Zuhörer kann Sie sogar ganz ausschalten, was ich Ihnen nicht wünsche. Theoretisch könnte er das aber. Sehen Sie, als Trommler auf der Galeere gaben Sie die Taktgeschwindigkeit der Ruderzüge vor. Damals konnte Ihnen keiner entkommen. Schließlich befanden sich alle in der gleichen Fortbewegung auf dem Schiff. Jedoch trommelte nur einer, viele mussten rudern, einer half mit der Peitsche nach, der Steuermann hielt den Kurs. Einige ließen sich fahren! Sie alle kamen nicht von dem Schiff weg. Das ist bis heute so geblieben.“
„Sie wollen mich doch nicht ernsthaft mit einem Galeerentrommler vergleichen, Herr Dr. Michelangelo!“
„Weshalb nicht? Was bezwecken Sie sonst mit der Werbung, die der Sender regelmäßig in die Sendungen einstreut, so dass niemand mehr weiß, wo vorne und wo hinten ist? Das geht sogar so weit, dass niemand mehr behalten kann, worüber gerade gesprochen wurde.“
„Moment mal, die Werbung mache doch nicht ich!“
„Der Trommler hat auch keine Kriege geführt, aber die Soldaten, die sich auf den Schiffen befanden, die durch Galeerensklaven bewegt wurden!“
„Also, wenn ich geahnt hätte, welche Richtung unser Interview genommen hätte, wäre ich heute Morgen im Bett geblieben.“
„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Unsere gemeinsamen Handicaps sind die Sachzwänge, denen wir ständig ausgesetzt sind. Die Reinkarnation gibt Ihnen ja auch eine neue Chance. Der Wiedergeborene entwickelt seine Begabungen weiter. Er darf dabei nur nicht die Sinngebung aus den Augen verlieren und sein Augenmerk ausschließlich auf die Überwindung der Widerstände richten.“
„Moment, Moment, Sie stellen ja die Lauterkeit des Rundfunkwesens infrage, besonders die der freien Sender, von uns Rundfunkjournalisten will ich gar nicht erst reden!“
„Also bitte, sprechen wir über Ihre Motivation!“
„Hauptaufgabe des Rundfunks besteht darin, die Menschen über Zeitgeschehen zu informieren oder über kulturelle Ereignisse!“
„Erdnussbutter?“
„Ja, ja, lästern Sie nur! Wir müssen ein großflächiges Informationsnetz abdecken. Es geht doch nicht darum, die Zuhörer darüber zu informieren, wie der Kaiser seine Nacht verbracht hat!“
„Ach nein?“
„ Wir haben doch zweifellos Bildungsaufgaben zu übernehmen. Wir arbeiten Geschichte auf und leisten soziale Hilfen in Form von Aufklärung. Letztlich überwachen wir, dass sich keine schädlichen Strömungen und Tendenzen in die Gesellschaft einnisten, indem wir aufdecken.“
„Wer bestimmt denn, was schädliche Tendenzen in der Gesellschaft sind, der Rundfunkbeirat? Außerdem: Den ethischen Beweggründen steht die Werbepauke entgegen. Ich stelle lediglich die Reinkarnation in den Vordergrund und habe sie auf Ihren Beruf hin untersucht. Das Thema Kunst und Kultur ist noch viel schwieriger. Hier treten noch viel mehr Handicaps auf als in Ihrem Metier!“
„Ich bedanke mich für das Interview.“
„Bitte, gerne!“
„ Es ist 7 Uhr 20. Radio Fünf mit der Werbung.“

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Kommentare zu diesem Text


 unangepasste (04.03.20)
Das mit den Handycaps - da habe ich die ganze Zeit auf die Auflösung gewartet. Dabei wird es am Ende nur noch spannender.

 Graeculus meinte dazu am 05.03.20:
Handycap ist ein schönes Wort, aber ganz neu erfunden; das mit der Benachteiligung ist ein Handicap, wie Reliwette auch schreibt.

 Reliwette antwortete darauf am 05.03.20:
Ja, Graeculus, messerscharf erkannt! Gruß! H.T.R.

 IngeWrobel (05.03.20)
Mit jeder Zeile wuchs die Spannung und mein Grinsen wurde breiter. Nun kann ich mit einem Lächeln im Gesicht schlafen gehen – danke dafür!
Liebe Grüße
Inge

 Reliwette schrieb daraufhin am 05.03.20:
Liebe Grüße zu Dir Grüße zu Dir, liebe Inge-Kollegin . Ich hatte beim Schreiben ein fettes Grinsen im Gesicht! Bleib gesund und ideenreich! Hartmut

 IngeWrobel äußerte darauf am 24.03.20:
Danke für das erneute Schmunzeln beim erneuten Lesen!
,-) Inge

 Reliwette ergänzte dazu am 25.03.20:
Gruß Und Kuss!
Hironymus
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