Ich bin tot - Ein Erfahrungsbericht

Bericht zum Thema Tod

von  Graeculus

Es ist passiert: ich bin gestorben. Vor drei Tagen. Nicht durch ein Verbrechen und nicht wegen einer Infektion, sondern ganz trivial durch einen Herzinfarkt. Ein Sekundentod. Bei meinem Lebenswandel ist das keine ganz große Überraschung.

Eine echte Überraschung aber war für mich, daß ich nicht einfach erloschen bin, sondern die Eindrücke sich fortsetzten und ich sogar diesen Bericht schreiben kann. Da war ich baff. Probieren geht eben über Studieren.

Die Buddhisten werden enttäuscht sein, denn ich bin nicht wiedergeboren. Vielleicht fehlte mir das Loch im Kopf, durch das meine Seele in einen anderen Körper hätte entweichen können. Auch die Moslems haben es nicht so recht getroffen, und einige von ihnen sind stinksauer: jahrelang den Dschihad gekämpft, und dann keine einzige Jungfrau (die hier tatsächlich extrem selten vorkommen)!
Vielmehr war es Jesus, der in einer kurzen Gerichtsverhandlung über meine Zukunft entschieden hat. Da ich die ersten drei der Zehn Gebote zeitlebens ignoriert sowie mit dem sechsten Gebot die eine oder andere Kollision erlebt habe, außerdem das Gebot der Nächstenliebe für mich eine Überforderung war, kam für mich klarerweise nur die Hölle in Betracht. Mein Argument, der Herr hätte unsere Nächsten etwas liebenswerter schaffen sollen, um die Liebe zu ihnen nicht so schwierig zu machen, verfing nicht. „Befehl ist Befehl!“ bekam ich zu hören.

Da sitze ich nun.
Es folgt eine Beschreibung meiner ersten Eindrücke von unserem Alltag. So ganz ungewohnt ist das Dasein in der Hölle nicht: Wir haben hier unsere Diktatoren und Möchtegern-Diktatoren, unsere Feindschaften, unsere Streitereien unter Ehepartnern (bemerkenswert: nie kommt nur einer von ihnen in die Hölle), auch unsere Lügen und Betrügereien. Eigentlich ganz so wie auf der Erde minus Mord, nur halt jetzt für immer.

Wie verbringen wir unsere Zeit? Im Fernsehen gibt es bloß zwei Sendungen zur Auswahl: Florian Silbereisen und „Deutschland sucht den Superstar“ – da weiß man gleich, warum die Hölle Hölle heißt. Die örtliche Bibliothek führt ausschließlich die Bibel sowie Heiligenviten – auch nichts, womit man Tag um Tag füllen mag.

Aber wir haben hier eindeutig die interessanteren Leute. Gestern erst habe ich gesehen, wie Adolf Hitler von seiner Schäferhündin Blondi gebissen worden ist, sodaß er nicht, wie auf dem Tagesplan vorgesehen, eine Synagoge besuchen mußte. Und Trotzkij diskutierte stundenlang mit Stalin, dessen Befehl „Verpaßt diesem verdammten Schurken endlich neun Gramm ins Genick!“ von Berija trocken kommentiert wurde: „Geht nicht. Er ist ja schon tot.“ Vorgestern hatten wir eine spannende Hitparade, in der Alexander der Große, Dschingis Khan, Napoleon, Hitler, Stalin und Mao Zedong miteinander konkurrierten, wer mehr Menschen ums Leben gebracht habe. Die Sache endete in einer Prügelei zwischen Dschingis Khan und Mao Zedong um den Ruhm Asiens.

Das ist schon unterhaltsam, und über Langeweile können wir uns in dieser Hinsicht nicht beklagen.
Im Himmel dagegen, so heißt es, kann man nur zwischen „Beten mit Mutter Teresa“ und einem Volkshochschulkurs „Warum der Darwinismus falsch ist“ wählen, während hier Charles Darwin eine gutbesuchte Vorlesung mit dem Titel „Warum ich doch recht hatte“ hält.

Beeindruckend sind auch die peniblen Vorbereitungen für das zu erwartende Eintreffen künftiger Bewohner: Da werden Siedekessel aufgestellt und vorgeheizt für Putin, Kim Jong-un (direkt neben seinen Vorfahren), Baschar al-Assad (der Vater gleich gegenüber) und viele andere. Der Kessel für Donald Trump hat sogar schon ein irgendwie rührendes, blankpoliertes Messingschild mit der Aufschrift: „This is no fake news.“

Das sind meine ersten Eindrücke. In einer Woche mehr – dann habe ich meinen ersten Termin auf der Streckbank. Macht’s gut. Wir sehen uns.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (18.03.20)
Nun sieh zu, wie du da wieder rauskommst. LG Gina

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Wenn ich fliehe, welcher Staat gewährt mir dann Asyl?

Grenze.
Beamter: "Woher kommen Sie?"
Ich: "Aus der Hölle."
Beamter: "Sie meinen Syrien?"
Ich: "Nein, aus der anderen Hölle."
Cora (29) antwortete darauf am 18.03.20:
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 Graeculus schrieb daraufhin am 18.03.20:
Du ahnst gar nicht, wie voll, wie eng es in der Hölle ist! Singapur ist eine Wüste dagegen.
Aber wenn Du einmal Asyl dort beantragst, schaffe ich Platz für Dich, versprochen. Wem sollen wir dann einheizen? Ich mache mit.
Cora (29) äußerte darauf am 18.03.20:
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 Graeculus ergänzte dazu am 18.03.20:
Dann treffen wir uns in der Eishölle. Das klingt so nett nach Eishalle.
Serafina (36)
(18.03.20)
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 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Tot heißt Nullinie auf dem EEG. Soweit warst Du hoffentlich/vermutlich noch nicht nach dem Unfall.
Die sog. Nahtoderlebnisse sind interessant, aber tot sind diese Leute offenbar nicht, denn ihr Gehirn erzeugt noch Empfindungen und Eindrücke.
Auf dieser Grundlage berichten dann viele von himmlischen, manche auch von höllischen Erlebnissen.
Ich denke - wie Du - nicht, daß das auf Realität basiert.
Serafina (36) meinte dazu am 18.03.20:
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 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Da hast Du Glück im Unglück gehabt. Der echte Tod kommt dann später. Empfinde es bitte nicht als taktlos, wenn ich Dir auch dafür Glück ("einen guten Tod") wünsche.
Serafina (36) meinte dazu am 18.03.20:
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 Graeculus meinte dazu am 19.03.20:
Gut. Dann zitiere ich noch Rainer Maria Rilke:
O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

 TrekanBelluvitsh (18.03.20)
Ich hoffe doch, dass Hitler, der alte vegetarische Wienhasser, jeden Tag ein Schnitzel Wiener Art verspeisen muss.

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Und jeden Tag wird er dreimal von seinen Generalen verraten. Morgen, mittags und nachts.

 AchterZwerg (18.03.20)
Allerköstlichst, Greckulus! :)
Und nur gerecht: Auch die vermeintlich Guten werden bestraft:

Im Himmel dagegen, so heißt es ... und einem Volkshochschulkurs „Warum der Darwinismus falsch ist“ wählen, während hier Charles Darwin eine gutbesuchte Vorlesung mit dem Titel „Warum ich doch recht hatte“ hält.

Schlimmer gehts nimmer. Wenngleich das höllische Fernsehprogramm ebenfalls zu wünschen übrig lässt.

Mäklige Grüße
der8.

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Ach, schlimmer geht's fast immer. Dante hat ja in seiner "Göttlichen Komödie" die Hölle in Stufen bzw. Kreise eingeteilt. Aber selbst wenn ich seinen Bericht über den tiefsten Kreis der Hölle lese, die Eishölle, in der Brutus, Cassius und Judas im Maul Luzifers zermahlen werden, denke ich mir: Und wenn die jetzt noch tagein, tagaus Florian Silbereisen sehen müßten ...!

 Bluebird (18.03.20)
Lieber Graeculus,
vielleicht könnte ein kurzer Blick in jenen "Abgrund" helfen sich, sich zu Lebzeiten eines Besseren zu besinnen.:   Ein Beicht aus der Hölle
Entschuldige bitte, dass ich so "humorlos" reagiere, aber das Thema ist - für mich - zu gruselig und wichtig, um damit Spässe
zu treiben

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Wie die Frühmenschen darauf gekommen sind, es gebe ein Leben nach dem Tode, ist ja klar: Ihnen sind die Toten in Träumen erschienen, haben zu ihnen gesprochen usw. Das wußten sie sich dann nur so zu erklären, daß die verstorbenen Elten eben noch leben.
Heute, da man die Funktionsweise des Gehirns besser versteht, benötigt man diese Erklärung nicht mehr.

Und die Hölle, die ist als Drohung unverzichtbar, um diejenigen, die unerwünschtes Verhalten zeigen, trotz aller Mängel der irdischen Strafverfolgung auf die Spur zu bringen.
"Gott sieht alles!", so warnten uns Kinder früher die Pfaffen, "und wehe den Sündern!" Da weiß man, wer wozu die Hölle erfunden hat.
Sowas nistet sich im Gehirn der Kinder fest und bestimmt manchmal auch dann noch ihr Leben, sogar ihr Erleben, wenn sie erwachsen sind.

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
P.S.: Ich kann zwar die Hölle auf Erden, aber unmöglich die im Jenseits ernstnehmen.

 eiskimo (18.03.20)
Wenn wir alle in der Hölle so viel scharfen Verstand, so viel Lust am Beobachten und kritische Distanz haben dürfen, wäre mir gar nicht bange. Klingt bei Dir ja alles höchst unterhaltsam.
Gemein ist natürlich, dass man sozusagen für den Ehepartner mit bestraft wird.
Dein Text hat mich an Jean-Paul Satre erinnert, an seinStück "Geschlossene Gesellschaft" (Huis Clos). Da landen drei Personen in der Hölle und fragen sich "Warum?". Der gleichnamige Film mit Arletty ist grandios.
Wie kamst Du auf dieses Höllen-Motiv? Corona?
LG
Eiskimo

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
An Sartres "Huis Clos" habe auch ich beim Schreiben gedacht.
Die Idee ist toll, aber ich gebe Sartre in einem Punkt nicht recht (falls er das ausdrücken wollte): Für eine solide Hölle braucht man nicht drei Personen als Mindestausstattung: zwei genügen (Stichwort: Ehe), und eine einzige ist vielleicht die schlimmste Variante. Ich meine, im tibetischen Buddhismus heiße die schlimmste Hölle "Hölle der Einsamkeit".

 Lluviagata (18.03.20)
"Da sitzte ich nun."

Warst du auch im Siedekessel? Das muss ich zuallererst wissen.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Die Siedekessel sind nur für Prominente. Man munkelt was von Energiesparen als Grund, zumal die hier unten mit den Sonnenkollektoren Probleme haben.
Manchmal ist es gut, wenn man kein Prominenter ist, nicht wahr?

 EkkehartMittelberg (18.03.20)
hallo Graeculus, es ist interessant, wie sich das literarische Motiv "Hölle" seit Dantes Göttlicher Komödie verändert hat. Während es bei Dante Furcht und Schrecken verbreitet und bei Sartre noch recht ernst behandelt wird, muss es in jüngerer Vergangenheit bis hin zum Schlager einer humorvollen Darstellung weichen. Die Hölle har ihren Schrecken verloren und gilt im Vergleich zum Himmel als die weniger langweilige Alternative. Dazu trägt deine witzige Darstellung bei.

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Ja, der Trend ist erkennbar. Er korrespondiert sicherlich mit der Abnahme tiefer religiöser Überzeugungen. Wo diese noch virulent sind, macht man bis heute keine Scherze über die Hölle.

Schon in der Antike kann man eine ähnliche Verschiebung von Homer bis zu Lukian, dem großen Scherzbold, beobachten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.03.20:
Wieder etwas von dir gelernt. Ich wusste nicht, dass sich Lukian über den Hades ausgelassen hat.

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Der hat mit seinem Spott vor nichts haltgemacht. Die "Totengespräche" oder "Gespräche in der Unterwelt" sind sogar ein (relativ) berühmtes Beispiel dafür. Und sein deutscher Bruder im Geiste, Chr. M. Wieland, hat den Lukian komplett übersetzt.

(Mit meinen Kenntnissen ist es übrigens gar nicht so weit her; nur in meiner Lieblingsepoche, der Antike, kenne ich mich einigermaßen gut aus.)

 TassoTuwas (18.03.20)
Danke für diesen aufschlussreichen Bericht aus der Hölle, der mir schlagartig die Augen geöffnet hat. Nein, da will ich nicht hin, sogar um den Preis, von nun an ein anständiges Leben führen zu müssen.
Du sitz ich doch lieber neben dem Engel Aloisius auf der Wolke und singe den ganzen Tag "Hosianna"!
Eine Hölle mit Internetanschluss, das ist der größte aller denkbaren Schrecken.
TT

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Jetzt so aus eigener Erfahrung kann ich Dir sagen: Mit der Himmelslangeweile à la Aloisius haben wir es hier nicht zu tun.

Daran, daß ich meine Erlebnisse hier online bei kV vorgestellt habe, magst Du erkennen, daß Dir der größte aller denkbaren Schrecken in der Hölle nicht erspart bleibt.
Um ihm zu entgehen, wirst Du tatsächlich "Hosianna" singen müssen.

 LottaManguetti (18.03.20)
Halt mir nen Platz frei, Graec!

 Graeculus meinte dazu am 18.03.20:
Okay, mache ich. Aber nur bis meine Frau nachkommt, denn Ehepaare - ich sagte es - landen stets gemeinsam in der Hölle.
Aha (53)
(19.03.20)
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 Graeculus meinte dazu am 19.03.20:
Ja, auch das Gewissen. Aber die ganz bösen Bösen wissen nichtmal was das ist: ein Gewissen.

toltten_plag - das weckt Erinnerungen. Nie mehr zurückgekehrt. Leider.

Einzelne Szenen, mehr habe auch ich bei diesem Florian (ein Wesen halb Mensch - halb Show) nie durchgehalten.

 AndroBeta (24.03.20)
HALLO darf ich dich meinen Freund nennen ? Einen fremden Mann der offensichtlich viel erlebt, du schreibst,...Buddha hilft dir dabei, das du wieder hier bei uns bist, das ist gut an irgendwas glaubt der Mensch das hilft. Ich kann dir nicht viel vom Leben erklären doch weiß ich worüber du nachdenkst. Ich weiß manchmal auch nicht ob ich die Welt noch mag, man muss wohl seinen Platz finden einfach nicht suchen sondern rasten. erschöpft pausieren und DA sein. Spüren und Atmen. Wünsche dir gute Träume. die du realisieren kannst..das Glück ist nicht berechenbar-

 Graeculus meinte dazu am 25.03.20:
Danke für den Kommentar. Mit meinen Träumen komme ich gewöhnlich besser klar als mit dem, was nach dem Aufstehen passiert.

 Dieter Wal (23.07.20)
Was hat Darwin angestellt? Dass er bei Euch referiert, ist beneidenswert. Was soll ich tun, seine Vorlesungen bald hören zu dürfen?
Aha (53) meinte dazu am 23.07.20:
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 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
Du willst Darwins Vorlesung hören?
"Then you gotta go
find out something only dead men know."
Aha (53) meinte dazu am 24.07.20:
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 Dieter Wal meinte dazu am 24.07.20:
Graeculus: "Then you gotta go find out something only dead men know."

Wolf von Kalckreuth, der sich 19-jährig erschoss, schrieb in seinem Abschiedsbrief u. a. an seine Eltern, dass er sich darauf freute, sich mit Sokrates unterhalten zu können. Und dabei war er nicht nur laut den Sonetten seiner letzten Jahre fraglos auch durchaus in krankem Sinn depressiv. Und konnte mit dem evangelischem Christentum seiner Zeit und weiteren Religionen absolut nichts anfangen. Die Metaphern seiner Sonette leuchten aus sich selbst heraus magisch. Ihre Handhabung ist noch symbolistisch, doch deutet sie in ihrer namenlosen Transzendenz bereits Maler wie Ernst Fuchs an.

Übrigens: Du hast einen wunderschönen Text geschrieben!

 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
Er wollte sich mit Sokrates unterhalten!
Schon Sokrates selbst hat ja gemäß Platons "Apologie" in seinem Prozeß die Hoffnung geäußert, er werde sich nach seinem Tod (also dem absehbaren Todesurteil) im Jenseits mit den großen Männern der Vergangenheit unterhalten können. "Nun ist es Zeit auseinanderzugehen, für mich um zu sterben, für euch um weiterzuleben. Wer aber von uns den besseren Teil erlangt, das weiß nur Gott."

Danke für das Lob. Ich werde den Text demnächst einmal in einer Lesung testen.
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