Das Rad des Glücks und Gottes Wahl.

Essay

von  Willibald

Puh!

Komik und Humor und kognitiv-analytische  Überreaktion? Ja!  Da gibt es einen gewissen David Shrigley. Und er liefert im Titel eines seiner Bücher das Thema dieses Essays: "How are you feeling? At the centre of the inside of the human brain‘s mind."

Wir liefern Aufhellung und  Hintergründe. Oder versuchen es wenigstens.

Bei  einer  ersten  Annäherung  an  Shrigleys Text-Bild-Kombinationen  fällt  sofort  sein  besonderer Stil  auf.  Ein  kindlicher,  gewollt  roher,  naiv  wirkender  Präsentationsmodus,  der  im  tradierten, die  Medien  bestimmenden  Stilspektrum  sicher  nicht  gängig  ist  und  daher  irritiert und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Mit dem Titel „Wheel of fortune“ wird man ein Glücksrad auf einem Rummelplatz assoziieren, das in einer Drehbewegung und dem zufälligen Stillstehen verschiedene Gewinnchancen eröffnet, von sehr guten bis hin zu minderen Preisen bis hin zu „Nieten“.  Als kulturell Interessierter kann man hier an die Carmina Burana denken, dort ist „Rad der Fortuna“ ein Bild und ein Modell für das Auf und Ab im Privatleben und in dem Leben der Gemeinschaft. Vielleicht von Gott gesteuert, vielleicht vom Zufall, von der Glücksgöttin, vielleicht von einer blinden, vielleicht von einer bösen  Macht.




Abb.1: Wheel of Fortune
(Shrigley,  Weak  messages create bad situations, 2014; S. 135.)

Setzt man zunächst das erste Assoziationsfeld, den Glücksrummel, an, so liefert Shrigley Überraschendes. Statt der unterschiedlichen Preise gibt es überwiegend nur einen Preis, der gewiss kein Gewinn ist: „Poverty“, also „Armut". Bei genauerem Hinsehen gibt es allerdings  eine Ausnahme, ein Feld ist durch das Wort „Death“ belegt. Alles andere als ein Gewinn. Und alles andere, sogar die "Poverty", dürfte im Vergleich ein Gewinn sein?

Das Glücksangebot des Rummelplatzes wird also in „Wheel of  Fortune“  völlig  demontiert.  Was übrig bleibt, ist die harte Realität. Der Rummelplatz ist oft für arme Menschen, ähnlich wie das Glücksspiel (auch in den Formaten Lotto oder Toto) eine Chance, doch keine tragfähige, der Armut zu entkommen. Somit ist das einzig Sichere die andauernde Mittellosigkeit und das, was einmalig bei jedem Menschen ist und allen Menschen gemeinsam ist, nämlich der Tod.

Interessanterweise deprimiert den Rezipienten  dieses melancholisch-traurige Szenario kaum, vielmehr wird er in den Feinstrukturen der Rohzeichnung ein schwarz-humoriges Modell finden, ein schwarzhumoriges Gedankenkonstrukt. Die hochgespannte Erwartung auf ein Glücksmoment im Zufallsspiel stürzt ab. Die lakonischen knappen Mittel, mit denen Bild und Text arbeiten, wirken nicht pathetisch-tragisch-traurig, sie unterlaufen die Tristesse und wirken wie  ein trockener, entlastender Witz.

Ähnlich funktioniert Shrigleys Bild „God chose me“. Ein Strichmännchen auf der linken Seite des Bildes, sich bewegend auf einer Linie, die wohl den Untergrund des Bodens signalisiert, über    ihm eine große fünf-fingrige Hand, bei der man unwillkürlich nachzählt, wie viele Finger das sind, so breit wie sie ist.



Abb.2: God Chose Me
(Shrigley, Weak messages create bad situations,  2014; S. 32.)

Der Text liefert erste Deutungsmöglichkeiten. Bild und Text erhellen sich gegenseitig:

Gott kann jemanden  erwählen  und  ihn  zu  einem  besonderen  Günstling  machen.  So  sind  etwa  "die"  Juden  in der Religions- und Kulturgeschichte  als das "auserwählte Volk"  verortet. Natürlich wissen kulturell bewanderte RezipientInnen, wie sehr die Juden seit der Römerzeit gelitten haben: als Volk in alle Welt zerstreut, dem Holocaust unterworfen und jetzt von feindlichen Nachbarn umringt und selber unter sich darüber zerstritten, wie man am besten mit der Situation umgehen kann. In anderen Worten: Mit der Auserwähltheit ist es nicht hoch her..
Die schützende Hand Gottes?
Nein.

Eine andere Interpretationsmöglichkeit liefert das Szenario - Linguisten sagen gern "das Script" -  des Schachspiels: Eine Figur wird ergriffen und auf dem Spielfeld bewegt, sei es um eine feindliche Figur zu bedrohen, sie zu schlagen oder selbst geschlagen zu werden. In jedem dieser Fälle ist die Figur kein selbstständiges, sich selbst steuerndes Subjekt, sondern eine Spielfigur in der Hand eines Mächtigeren, der in der Wirklichkeit die Zügel in der Hand hält. Die Figur spielt nicht, mit ihr wird gespielt, ihr wird mitgespielt.

Als eine weitere, sicher nicht letzte Interpretationsmöglichkeit bietet sich etwas Bedrohliches an – die Strichmännchenfigur wirkt klein, machtlos gegenüber der überdimensionalen Hand und nicht resistent, sie kann von der über ihr (bedrohlich) schwebenden, riesigen Hand einfach weggestoßen oder zerdrückt werden.

Der Titel der  Bildsammlung  „How  are  you  feeling?  At  the  centre  of  the  inside  of  the  human brain‘s mind“ dürfte - wie anfangs erwähnt - auf das Thema der Bilder und auf die  Eigenart  des  menschlichen  Bewusstseins  hinweisen.  Beim  Betrachten  und  Verstehen  von  Kunst  erleben  wir  uns  als  den Teil eines Spiels. In unserem Bildgedächtnis sind kulturelle Einheiten gespeichert, Redensarten, Daten, visuelle Metaphern, Fortuna-Modelle,  religiöse Modelle. Gottes Wahl und die ikonische Hand, helfend oder bedrohlich, all das findet sich in unserem mentalen Lexikon abrufbar, recht gut  verankert  im kulturellen Archiv einer jeden Gesellschaft.

Shrigleys Text-Bild-Kombination aktiviert dieses Potential und schafft so dem Rezipienten das Vergnügen des Wiedererkennens, Kombinierens und Verstehens. Und die gewisse Entlastung, die sogar dann wirkt, wenn wir uns über die gewisse, "kurzweilige" Unzulänglichkeit der Erheiterung amüsieren?

Wie dem auch sei. "Das" Komische signalisiert Lächerliches und erzeugt  durch Auslachen Herabsetzung und Ausgrenzung. Und  "das"  Komische liefert uns das Spiel des souveränen Geistes, es nimmt uns hoch und auf und ernst. Und weiß dabei zu nutzen, dass wir die Fähigkeit und die Würde besitzen, über uns und unsere Vorstellungen zu lachen -  ohne lächerlich zu sein. Und ohne verlacht zu werden.

Primär-Literatur:

Shrigley, David:
How are you feeling? At the centre of the inside of the human brain‘s mind. Edinburgh: Canongate Books LTD, 2012.
Shrigley, David:
Weak messages create bad situations. A manifesto by David Shrigley. Edinburgh: Canongate Books LTD 2014.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (23.03.20)
Gefällt 100%ig! :)

Ebenso wie der Auserwählte unter allen Umständen erwählt bleibt, wird der Kultivierte beispielsweise als Nutznießer des sozialen Wohnungsbaus nichts (oder wenig) von seiner Substanz verlieren.

Ob ihm das etwas "nutzt", ist eine andere oder besser die falsche Frage. - Der Erwählte (ach, Herr Werfel :) ), kann namenlos sein, gezeichnet und gemieden; er trägt doch die Gewissheit in sich, nahe bei seinem jeweiligen Gott zu sein, gleichsam ein Teil von ihm und weiß um die Komik des Sensenmanns. Und um seine Unzerstörbarkeit im ursprünglichen Sinne.

Herzliche Grüße
der8.

 Willibald meinte dazu am 23.03.20:
Ach ja, lieber 8.!

Als Willibald noch aufs Wittelsbacher Gymnasium ging und von seinem Griechischlehrer recht getriezt wurde und deswegen ein wenig störrisch blickte, sagte Studiendirektor Schober zu ihm: "Wen der Herr liebt, den züchtigt er." Willibald murmelte: "Dann bitte etwas weniger Liebe." Und Kurt Fleckenstein, sein Nachbar meinte, ja, so sei das. Sie seien das auserwählte Volk.

Herr Schober ging wieder zum Vokabelabfragen über. Und ließ die Verben konjugieren, hinauf und hinunter.

greetse
ww

Antwort geändert am 23.03.2020 um 14:51 Uhr

 AchterZwerg antwortete darauf am 23.03.20:
Gemessen an deinem "Erfolg" behält Kurt Fleckenstein selbst im Nachhinein Recht.
Nicht, dass mich dies wunderte ...

 Willibald schrieb daraufhin am 23.03.20:
Verzwickt verzückt.

 LottaManguetti (23.03.20)
Das Komische, analysiert aus einer völlig anderen Perspektive, als wir das in der Regel tun, hat etwas Ernüchternes. Gleichwohl ich dein Essay hochinteressant finde, muss ich doch zugeben, wie sehr es mich schmerzt. Warum? Weil ich das Komische an sich zum größten Teil* als heilend empfinde und nicht unbedingt sachlich betrachten mag. Verstehste oder?
Interessant ists allemal!

Es grüßt
Lotta


*ausgehend davon, mein Humorzentrum fühlt sich angesprochen.

 LottaManguetti äußerte darauf am 23.03.20:
* weil es sich hier um eines der wenigen wirklich lesenswerten Essays bei kV handelt
** als Motivation, weitere zu schreiben

:)

 Willibald ergänzte dazu am 23.03.20:
Auf ihre Weise auch ernüchternd und doch...:

Es gibt einige Dinge, die so ernst sind, dass man darüber lachen muss.
NIELS BOHR

Was ist das Universum? Ist es ein großartiger 3D-Film, in dem wir die unfreiwilligen Schauspieler sind? Ist es ein kosmischer Witz, ein riesiger Computer, ein Kunstwerk eines SupremeBeing oder einfach ein Experiment? Das Problem beim Versuch, das Universum zu verstehen, ist, dass wir nichts haben, mit dem wir es vergleichen können.
HEINZ R. PAGELS

 BOHNEN

es grüßt nachdenklich
ww

Antwort geändert am 23.03.2020 um 17:24 Uhr

 LottaManguetti meinte dazu am 23.03.20:
Ich bin zu Tränen gerührt!

Das Zitat von Pagels hat dagegen das Potenzial, mich lange Zeit zu beschäftigen. Da ich täglich von Astrophysikern umgeben bin, die sich gern mal auf philosophische Pläusche einlassen, beschäftigt mich solches regelmäßig.
Danke dafür.

Lotta, ratlos, aber glücklich. 🤔

Antwort geändert am 23.03.2020 um 19:42 Uhr

 Moja (23.03.20)
Uff! Falls Gott die Wahl hatte, führte er mich direkt zu Deinem Essay - es geschehen noch Wunder - schon war ich hin und weg,
für einen langen genussvollen Moment ins Lesen vertieft - bitte mehr davon!

Danke & Grüße,
Moja

 Willibald meinte dazu am 23.03.20:
Hach!

Ein großer Dank an Moja für das Ermuntern zum Schreiben.



ww

 Moja meinte dazu am 23.03.20:
Wie einladend geschmückt, hier lasse ich mich jetzt gerührt nieder..., merci beaucoup!

Moja
Fisch (55)
(23.03.20)
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 Willibald meinte dazu am 23.03.20:
Ich kenne die Skepsis,
glaube ich,
gegenüber dem Erklären.
Von Witzen, von Jokes, von minimaler Lyrik.
Und dennoch beobachte ich,
so glaube ich,
nicht nur oberflächlich,
wie mein Bewusstsein reagiert.

greetse an den Fisch
ww

Antwort geändert am 23.03.2020 um 19:56 Uhr

 EkkehartMittelberg (23.03.20)
Lieber Willibald, ich finde deine Deutungen der Bilder von Shrigley sehr anregend. Für mich sind beide Ausdruck schwarzen Humors. "Wheel of Fortune" interpretiere ich so, dass einem meistens Poverty zuteil wird, deren einzige Alternative der Tod ist. Die Dominanz von Poverty wird verständlicher , wenn man den Begriff nicht nur materiell deutet.
In dem zweiten Bild sehe ich nur Bedrohliches, weil das Menschlein dem "chose" , das bedrohlich über ihm hängt, nicht entkommen kann, ob es das will oder nicht.
Shrigley versteht es mit einfachsten ikonographischen Bildern den Betrachter in den Bann zu ziehen. Du hast mir mit deinem Essay Zugang zu einem großen Künstler vermittelt.

 Willibald meinte dazu am 24.03.20:
Grüße dich, Ekki,

Danke für die Rückmeldung. Habe diesen Graphik-Autor im Internet entdeckt auf der Suche nach modernen, graphisch begleiteten Haikus und Minimal-Lyrik. War von der Machart abgestoßen-verblüfft. Und dann kam so eine Art Nahaufnahmen-Appetit.

Die schwarzhumorige Lesart scheint mir sehr zuzutreffen.

Immerhin gibt es auch eine Folgerung, die vielleicht zusätzlich auftaucht, wenn man das Bild betrachtet: Auf die eigenen Ressourcen geworfen zu werden, bedeutet, nicht zwingend mit dem Blick auf die Nabe des Glücksrades in das sich drehende, schwindelerregende Nichts abzusinken.

Beste Grüße
ww

p.s.

Nichts reimt sich richtig gut / auf Ekkehart / außer halt / Ekkehart.
(Gilt auch für Willibald.)

Antwort geändert am 24.03.2020 um 11:05 Uhr
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