Wie eine Vokabel zum Augenöffner wird

Kommentar zum Thema Konsum

von  eiskimo

Welche Vokabel der letzten Wochen entlarvt unsere Welt – nein, stellt sie radikal in Frage - ach, was sag ich: stellt sie vollends auf den Kopf?
Es ist die Vokabel „systemrelevant“.
Eigentlich ein Fremdwort, Soziologen-Jargon und ein bisschen elitär klingend, weiß heute jedes fünfjährige Kind, was damit gemeint ist. Denn systemrelevant, das sind jetzt unsere Helden in den Krankenhäusern, die tapferen Kassiererinnen in den Supermärkten, die Leute, die Print- und Onlinemedien aufrecht erhalten  und die stoisch weiter rollenden Brummi-Fahrer.
Die alten „Helden“, die sich vorher hervortaten mit tollem Jahresverdienst,  fetter Motorleistung des Dienstwagens oder ihren Miles and More bei Lufthansa, die interessieren keinen mehr.  Jetzt stellt man nur noch die Frage nach der Systemrelevanz, dem Nutzen und gesundheitlichen Wert einer Arbeit. Ganz simple Ansprüche rücken neuerdings in den  Fokus : Wie strukturiere und fülle ich sinnvoll meinen Tag oder besser noch: den  meiner Kinder?
Viele Wichtigtuer von früher müssen heute zu Hause bleiben, werden zu Home-Office und Videokonferenzen verdammt. Nicht wirklich relevante Konsum-Angebote fallen plötzlich unter den Tisch: Ein Großteil der Gastronomie, des Tourismus, der Sport- und Unterhaltungs-Industrie.  Na und?
Das Einkaufscentrum in meiner Stadt, das immer stolz mit seinen 188 Shops prahlte, musste jetzt 180 davon schließen...weil: nicht systemrelevant. Offen sind noch zwei Discounter, ein türkischer Supermarkt, das Reformhaus, die Apotheken und Kioske...
Schlimm ist das für die Arbeitsplätze, die da in Frage gestellt sind. Ganz klar. Aber gar nicht schlimm  ist für mich das geschrumpfte Angebot und der Verlust an sogenannten Freizeit-Optionen. Mir wird vielmehr klar, in welchem Umfang wir unser „normales“ Leben vorher ausstaffiert haben mit.. Irrelevantem.  Mit Luxus. Wie wir da über-versorgt waren!
Hunderte Mode- und Trendshops, Schmuck-Boutiquen, ganze Hallen voller Elektronik-Spielzeug, Feinkost, Fastfood, ja, die könnten getrost geschlossen bleiben, und unser Leben ginge erstaunlich glatt weiter.  Es wäre halt nur reduziert auf das, was relevant ist.
Was wir darüber hinaus gerne hätten, das müssen jetzt wir tatsächlich selber basteln, werkeln, improvisieren oder uns als Wunsch und Sehnsucht für später erträumen – vielleicht, so denke ich altmodisch:  eine ganz gesunde Erfahrung!

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (10.04.20)
Gerne gelesen. Du vergisst aber, dass auch unsere kulturelle Grundversorgung fast gänzlich weggebrochen ist. Ohne Kultur sind wir auch nicht anders als die Tiere.

 AZU20 meinte dazu am 10.04.20:
Daran dachte ich auch sofort. LG

 eiskimo antwortete darauf am 10.04.20:
Wir lesen, wir schreiben, wir hören Musik, haben Millonen Bilkd- und Tonträger in Reichweite... Ihr habt natürlich recht, was live-Aufführungen angeht. Da gibt es sehr relevante Kulturschaffende!
vG
Eiskimo

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 10.04.20:
Nix gegen Bücher, aber eine DVD oder so' n Streaming-Dienst, der mir oft nicht einmal ein OmU bieten kann, das ist nun mal absolut kein wirklicher Ersatz für einen Kinobesuch. Und Kunstausstellungen online, naja, wer's mag ...
Schreiben als kulturelle Grundversorgung? Verstehe ich nicht. Gilt das auch für Einkaufszettel?

 eiskimo äußerte darauf am 10.04.20:
Schreiben ist nicht nur eine Kulturtechnik, es schafft auch Kultur - aber hallo!
Auch das Drehbuch für den (im Kino zu sehenden!) Superfilm wurde mal von einem Kulturschaffenden ge-schrieben.
Sin (55)
(10.04.20)
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 EkkehartMittelberg (10.04.20)
hallo Eiskimo, es ist sehr wichtig, dass dein Text zur Diskussion stellt, was systemrelevant ist. In diesen Zeiten wird mir mehr denn je bewusst, dass auch darüber diskutiert werden sollte, ob unser kapitalistisches System seine scheinbar alternativlose Relevanz behalten sollte,
Liebe Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 10.04.20:
Ich finde, das treibt diese Berufe-Ranking ("Was ich beruflich mache, ist wichtiger als das was du machst!") nur auf die Spitze. "Alle Berufe sind gleich!", fordere ich. Auch in der freien Marktwirtschaft, die ihre Tücken hat, aber eigentlich alternativlos ist.

 eiskimo meinte dazu am 10.04.20:
Lieber Ekki!
Nur ein Wort: Einverstanden!
trotz allem
schöne Ostern!
Eiskimo
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