21 Gramm

Text

von  kalira

An die stechende Angst in den Schuhen habe ich mich gewöhnt. Auf die wunden Fersen habe ich etwas Mull gelegt und mit Paketklebeband um den Fuß gebunden. Medizinische Produkte stehen nur noch den Krankenhäusern und umfunktionierten Hallen zur Verfügung. Die letzten Bestände wurden vor Wochen zwangsversteigert. Bevor sich die Regierungen in Kriege ohne Kämpfer und Kämpferinnen ergeben, weil einfach zu wenig und zudem in diesen Sachen schlecht ausgebildete Menschen übrig sind, als sie sich gegenseitig umbringen zu lassen, wurden die von allen dringend benötigten Produkte durch ein weltweit eingesetztes Schiedsgericht versteigert. Wer braucht und noch hat, plündert die abgelaufen Verbandskästen verlassener Pkws.

Anfangs war es beinah zu einem Hobby der Massen geworden, Mund-Nase-Masken an der heimischen Nähmaschine selbst zu nähen. Man nahm, was zur Verfügung stand. Doppelt gelegter Baumwollstoff, die guten alten Bettlaken, die Dreieckstücher aus den aktuell nicht abgelaufenen Verbandskästen und Haus- und Urlaubsapotheken. Firmen wechselten von Kaffeefiltern zur Atemmaskenherstellung. Das bot den Menschen über einen kurzen Zeitraum eine sinnvolle Beschäftigung. Sie nähten im Akkord und im Glauben, die Segel und Ruder herumreißen zu können, einen Teil des relevanten Systems auszumachen. Aber es wurden weniger und weniger und die Wenigen sind schließlich getestet, auf Herz und Lungen durch das Gesundheitsamt geprüft und zur Umschulung im Sinne des Systems bestimmt worden. Wir sind schlicht weg zu wenig Menschen für all die unnütz gewordene Arbeit.

Meine Angst ist mir zur Gewohnheit geworden. Ich merke die Füße in den Schuhen kaum mehr. Ich gehe und schwirre den Drohnen gleich durch die Hallen. Ich schwirre die menschenleeren Straßen entlang nach Hause, in meine Wohnung ohne Möglichkeiten. In den Parks wuchern die Bäume und Büsche, die Tiere scheuen vor nichts mehr zurück. Die wenigen Menschen, die noch am Leben sind, haben keine Zeit mehr für den Park oder das Schlendern in der Wohnung. Die letzten Möglichkeiten, die noch geblieben waren. Ein Spaziergang durch den Park ohne Aufenthalt, kein Sitzen auf einer Bank. Kurz vor Schluss wurden die Spielplätze nicht mehr nur abgesperrt, Schaukeln, Wippen, Klettergerüste sogar die Bänke wurden abmontiert. Niemand ist mehr da, der gegen die Kontaktverbote oder überhaupt gegen irgendetwas verstoßen könnten.

Wenn ich nach Hause komme, bin ich so müde, dass ich nach der vorgeschriebenen Desinfektionsdusche direkt ins Bett gehe. Ich schlafe traumlos, ich stehe schlaflos auf, ich trinke Kaffee, ich gehe von dem Surren der Wachdrohnen begleitet zur Halle. Ich fühle meine Füße nicht, ich spüre meine Hände unter all den Hygienehandschuhen nicht, ich höre meinen Atem, der hin und wieder zwischen meinem Mund und der Maske hängen bleibt, aussetzt. Sekundenauszeit. Ich vermisse dich und dein Lachen, dass mir so lange verborgen blieb.

Sie können sich nicht auf alle Drohnen verlassen. Manche sind abgestürzt. Wir vermuten, sie wurden gehackt. Wir hoffen, es gibt noch die Menschen, von deren Überleben wir nichts wissen. Vielleicht leben sie in den Wäldern. Auf jeden Fall habe ich eines Morgens auf der Straße hinter meiner Haustür eine abgestürzte Drohne gefunden. Sie lag mit gebrochenen Beinen im Hauseingang. Ich habe mich auf der Straße und im Hausflur umgesehen und als ich niemanden erspähen konnte, schnappte ich den Drohnenleichnam und habe ihn in meine Wohnung gebracht.

Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich gedankenlos durch die Flure der Halle laufe und die ultrasterile Bettwäsche verteile. Ich sehe mich furchtlos und als hätte ich kein Gesicht hinter dieser Atemschutzmaske an den Betten stehen und sterbende Menschenhände halten. Als die Gegenwart noch so war, das wir uns die damals jetzige Zukunft so niemals hätten vorstellen können, las ich, die Seele eines Menschen würde 21 Gramm wiegen. Ich sehe mich manchmal an einem von den tausend Betten mit einer Briefwaage stehen.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (12.04.20)
Der Text fasziniert durch Überzeichnung, von der niemand genau sagen kann, ob es sich nicht um unsere vorweggenommene Zukunft handelt.
Und dann dieser genialische Titel, der vortrefflich in das Ende eingebunden ist ...

Grüße der Hochachtung
der8.

 kalira meinte dazu am 12.04.20:
danke. und beste grüße zurück :)
Fisch (55)
(12.04.20)
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 kalira antwortete darauf am 12.04.20:
danke für den hinweis. ich habe den rat angenommen und spüre der wirkung nach. ;)

 Moja (12.04.20)
Ein alptraumhaftes Szenario, weit vorausgedacht - spannend zu lesend, begeisterte Grüße, Moja
Sätzer (77) schrieb daraufhin am 12.04.20:
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