Auf dem Sklavenmarkt

Essay zum Thema Freiheit/ Unfreiheit

von  Graeculus

Natürlich gibt es heutzutage in Deutschland nur noch wenige Sklaven. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie lebten in der Antike und ein widriges Schicksal hätte Sie als Verkaufsobjekt auf einen Sklavenmarkt verschlagen. Aus geschäftlichem Interesse fragt Sie der Marktleiter: „Was können Sie eigentlich am besten?“

Da heißt es gut überlegen. Sie möchten vermutlich nicht Ihre ohnehin trübe Perspektive zusätzlich durch die Arbeit in einem Steinbruch oder Bergwerk verschlimmern. Einen zwar wohlhabenden, aber freundlichen und gebildeten Käufer, den könnte man wohl ein Glück im Unglück nennen.
Daher würde ich wohl erwidern: „Ich kann Kinder unterrichten.“ Das ist zwar – je nachdem, um was für Bengel es sich da handelt – nicht unbedingt ein Traumberuf, dem Steineklopfen aber allemal vorzuziehen.

Und Sie? Wie würden Sie Ihre beste Seite ins rechte Licht rücken?

Der griechische Philosoph Diogenes von Sinope aus dem 4. Jahrhundert v.u.Z., der Kyniker mit den frisch-frechen Äußerungen, stand vor diesem Problem. Wie zur Bestätigung der alten Einsicht, daß wir vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand sind, hatte er sich nämlich auf eine Schiffsreise eingelassen und war Piraten in die Hände gefallen, um sich kurze Zeit später auf einem Sklavenmarkt wiederzufinden. Er stand also zum Verkauf und sollte die Frage des Marktleiters beantworten. Was aber kann er als Sklave, als dienstbares Ding? Die Auskunft des Diogenes lautete: „Menschen beherrschen [ἀνθρώπων ἄρχειν].“

Eine tolldreiste Antwort, irgendwo zwischen Kühnheit und Frechheit angesiedelt! Und dann trieb er es noch auf die Spitze, indem er auf einen vornehm gekleideten Marktbesucher wies und hinzufügte: „Diesem verkaufe mich; der braucht einen Herrn [τούτῳ με πώλει. οὗτος δεσπότου χρῄζει].“

Diogenes ist so frei, die Dinge einfach auf den Kopf zu stellen. Und doch war das nicht dumm, sondern paradox und von tiefer Einsicht. Mehr als zwei Jahrtausende hat es gedauert, bis G. W. F. Hegel in seiner dialektischen Analyse des Verhältnisses von Herr und Knecht zu dem Ergebnis gelangt ist, daß durch die Überwindung der Todesfurcht und durch die Arbeit der Knecht zum Herrn des Herrn wird, der Herr hingegen, der beides nicht leistet, aber braucht, zum Knecht des Knechtes. Auf dem Weg über Karl Marx ist diese Einsicht zu einem Kampfslogan der Sozialdemokraten geworden: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“

Ein Diogenes ist und bleibt frei, selbst als Sklave.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (22.04.20)
Hallo Graeculus, das ist wahnsinnig interessant.
Du erhältst von mir eine Favorisierung allein wegen der spannenden Erzählung. Diogenes muss der Freieste unter Freien gewesen sein, denn wer lebt schon mit Vergnügen in einer Tonne ? Aber können wir bei den Nachrichten aus seiner Zeit sicher sein, dass es sich nicht um Fakes handelt, sondern um Fakten?

 Graeculus meinte dazu am 22.04.20:
Lieber Ekkehart,

ich danke für Dein Lob. Zu Deiner Frage: Dessen kann man bei den Quellen aus der Antike nur selten sicher sein. Fast alles, was wir über Diogenes von Sinope wissen, stammt von Diogenes Laërtios aus seinen "Vitae philosophorum" (Buch VI); er hat ca. 600 Jahre später gelebt, berichtet also keinesfalls über etwas, das er erlebt hätte.

Die Anekdote, auf die ich hier Bezug nehme, berichtet er gleich mehrfach in leichten Varianten, wobei er sich auf ein Buch eines gewissen Menippos bezieht ("Der Verkauf des Diogenes"), das für uns verloren ist. Offenbar war die Geschichte in der Antike populär.

In einer der Varianten befiehlt (!) Diogenes von Sinope dem Herold: „Rufe aus, ob einer gewillt sei, sich einen Herrn zu kaufen [κήρυσσε εἴ τις ἐθέλει δεσπότην αὑτῷ πρίασθαι].“

Der Name des Käufers ist überliefert: Xeniades. Ihm hat Diogenes gleich klargemacht: "Du mußt mir gehorchen, ob ich gleich dein Sklave bin"; gehorche er doch auch dem Arzte oder dem Steuermann, gesetzt auch, daß sie Sklaven wären.
Seufzend zitiert dieser darauf einen Euripides-Vers: „Aufwärts richtet sich nun der Lauf der Flüsse.“ (Medea V. 410)

Ist auch nicht ohne Witz, oder?

 Graeculus antwortete darauf am 22.04.20:
Am bekanntesten ist Diogenes von Sinope wohl durch die folgende Anekdote:
Als er im Kraneion sich sonnte, trat Alexander an ihn heran und sagte: „Fordere, was du wünschest“, worauf er antwortete: „Geh mir aus der Sonne [ἀποσκότησόν μου].“

 Graeculus schrieb daraufhin am 28.04.20:
Alexander von Makedonien, später der Große genannt! Auch das ist Mut, ihm eine solche Antwort zu geben.

 Regina (22.04.20)
nachdenklich-lg Gina

 Graeculus äußerte darauf am 22.04.20:
Nachdenken, ist (meistens) gut.

Herzlichen Gruß
Graeculus

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 25.04.20:
Vielen Dank für deine Mühe. Das ist wirklich witzig und erheitert mich.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.20:
Gern geschehen - umso mehr, als es Dich erfreut hat.

 ViktorVanHynthersin (22.04.20)
Lieber Graeculus,
Laut Global Slavery Index (GSI) wird schätzt, dass es derzeit in Deutschland rund 167.000 moderne Sklaven gibt. Weltweit sollen es 46 Mio. (2016, wiki) sein. Selbst wenn man die Zahlen halbiert, sind sie erschreckend.
Vielen Dank aber für die Anregung, sich mit diesem Thema (erneut) auseinander zu setzen.
Herzlichst
Viktor

 Graeculus meinte dazu am 22.04.20:
Fast habe ich es geahnt - so wenige Sklaven gibt es gar nicht in Deutschland. Nur sind sie es faktisch und nicht - wie in der Antike - auch juristisch, wo Sklaven unter das Sachenrecht fielen.

Herzlichen Gruß
Graeculus

 TassoTuwas (22.04.20)
Wie heißt es so schön, "Man sollte immer das Beste draus machen".
Wenn es denn der Alternativlosigkeit geschuldet ist, kommt dann z.B. der Sozialismus dabei heraus
TT

 Graeculus meinte dazu am 22.04.20:
Gut. Vom Sozialismus ahnte Diogenes nichts. Sein Lebenskonzept bestand darin, glücklich zu werden nicht durch die Befriedigung einer größtmöglichen Zahl von Bedürfnissen, sondern durch die Reduzierung seiner Bedürfnisse. Das ist wesentlich leichter und steht in jedermanns Hand.

 Graeculus meinte dazu am 22.04.20:
Des Diogenes Motto hätte das von Nikos Kazantzakis (in Neugriechisch) sein können:
Δεν ελπίζω τίποτα. Δε φοβούμαι τίποτα. Είμαι λέφτερος.

Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.

 Dieter_Rotmund (22.04.20)
Ein echter Freigeist und Draufgänger, dieser Diogenes! Sollte man mal einen Actionfilm über ihn drehen!

Ich war bisher der Meinung, jede Art von Arbeit (auch meine) sei eine Art von Prostitution. Aber zunehmend bin auch ich der Meinung, dass die Arbeitgeber mehr mich brauchen als ich sie.
Diese Freiheit(en) kann ich mir indes nur rausnehmen, weil ich nicht Ehepartner und Kinder durchzufüttern habe und kein Häuschen abbezahlen muss. Nun, ja. Familie ist eine übliche und gesellschaftlich akzeptierte Form der Sklaverei.

 Graeculus meinte dazu am 22.04.20:
Das stimmt! Ehe und Kinder machen auch gegenüber dem Arbeitgeber abhängig. Diogenes war, soweit wir wissen, nicht verheiratet.

Für einen Film würde er, da wir über dramatische Ereignisse seines Lebens - mit Ausnahme der mißglückten Schiffsreise - kaum etwas wissen, wohl als Nebenfigur gut taugen.
bleibronze (69)
(22.04.20)
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bleibronze (69) meinte dazu am 22.04.20:
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 Graeculus meinte dazu am 22.04.20:
An dieses Detail bei Tom Sawyer kann ich mich nicht mehr erinnern - bei aller Liebe zu Mark Twain. Sollte er die eigene Arbeit durch geschickte Propaganda losgeworden sein, entspräch das nicht dem, was Diogenes getan hat. Er hat sich viel Mühe gegeben im Haushalt seines Käufers (Xeniades), nur daß er dort nicht die Rolle des Sklaven, sondern die des Herrn tatsächlich durchgehalten hat. Ich habe oben schon erwähnt, daß Xeniades darüber gesagt hat: "Hier fließen die Flüsse aufwärts."

Aber pfiffige Kerlchen waren sie beide, Tom Sawyer und Diogenes von Sinope.
bleibronze (69) meinte dazu am 23.04.20:
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 Graeculus meinte dazu am 23.04.20:
Im Vergleich ist Hegel geistreicher, aber Mark Twain liest man freiwillig & gern, während man sich durch Hegel durchkämpfen muß.

Danke fürs Vorbeischauen, fürs Lesen und fürs Loben.

 Terminator (09.01.24, 01:08)
Und Sklavenseelen sind nur auf dem Papier frei. In Wirklichkeit werden sie von ihren Beziehungen, Verhältnissen, ihren Lebenssituationen und ihrem niederen Selbst beherrscht.

 Graeculus meinte dazu am 09.01.24 um 15:29:
Ach, was haben sich schon die Stoiker damit befaßt! Recht haben sie ja.
Andererseits ... war Marc Aurel frei? Sein tägliches Laudanum hat er schon benötigt.

 Dieter_Rotmund (10.01.24, 08:45)
Nun ja, vom antiken Sklavenmarkt bis zur SPD ist es ein weiter Weg, finde ich, da ist deine Brücke sehr schmal und wackelig.

 FrankReich meinte dazu am 10.01.24 um 09:08:
Zumindest für die, die Politik und Markt(wirtschaft) in einen Topf werfen. 👋🙂

 Graeculus meinte dazu am 11.01.24 um 23:00:
Immerhin hatte Diogenes einen seiner größten Auftritte auf einem Markt. Da war die Wahl des Ortes kein Zufall.
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