Biografie mit Augen

Text zum Thema Abgrund

von  Abuelo

Hatte braune Augen und hieß Esther,                                                                               
schwarze Locken flogen um die Stirn,
lachte, als er ihr im Kindergarten
seine Sandburg schenkte: Komm, spiel mit!
Konnte wüten, kreischte ganz abscheulich,
wenn ihr Stefan Kreide ins Genick
oder Kletten an die Haare steckte,
war lebendig, zungenfertig, schlau,
machte mit, als sie den Pauker foppten,
half in Mathe, Spicker unterm Rock.

Hob die Hand nicht mit zum deutschen Gruße,
war noch stolz auf ihren gelben Stern.
Hieß halt Esther, hatte braune Augen ...
Stand am Bus  - und er sah weg, stieg ein.
Sie blieb draußen. Ging zu Fuß. Die Locken
schwärzten sich in seine Seele. Er
blickte oft im Traum in ihre Augen.
Bis sein Kopf im Stahlhelm eingezwängt.

An der Rampe stand er - stramm - mit Knarre
beim Gedränge vor dem Güterzug.
Schmächtige Gestalt mit schwarzen Locken.
- Sie nach Auschwitz, er zum Kampf bereit -
Hieß sie Esther? - Hatte braune Augen -
beider Wege ostwärts, ungewiss ...

Sah das Grüppchen wanken bis zur Mauer,
Schießkommando aufgestellt – legt an! -
sah Gesichter aschefahl, sah Augen,
überließ sich kältestarr der Pflicht.

Lag im Graben, als die Bombe platzte,
fieberte im Lazarett, sprang auf,
wollte Hände waschen, die nun fehlten,
lebte lange noch, gab sich als Held.

Musste auch zur Ehe sich entschließen,
nervte übel, schrie oft laut im Schlaf,
konnte niemals sagen, was ihn quälte,

Augen, Locken nahm er mit ins Grab.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (28.04.20)
Ein großArtiges Gedicht zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung.

An der Form gefällt mir das gekonnte Spiel mit wohlklingenden Endungen und Halbreimen und die Separierung des Endverses, der so perfekt mit dem Titel korrespondiert.

Inhaltlich überzeugt mich das Verhaltene, eigentlich eher Unspektakuläre am Text. Du schilderst einen (kindlichen?) Verrat, und dessen misslungene Verdrängung, einen gescheiterten "Helden", der sich nicht vergeben kann. Trotz seiner "Bestrafung."

Insgesamt freue ich mich über diesen zeitgemäßen (modernen) Text, der um die Stärken altvorderer Dichter weiß, deren Können verspielt einbindet, aber niemals, niemals epigonal wirkt.

Sehr beifällige Grüße
der8.

 juttavon (01.05.20)
...ein wichtiger Text!
HG Jutta
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