orange, emulsiert

Gedicht

von  gitano

Die frühe Stunde schenkt mir
nur Almosen vom Tageslicht
an Verbindungsorten sammeln sich
viele Menschen
sind schon sehr ins Grau verstrickt.

Gestern sah ich erschrocken
erste Schokoladenweihnachtsmänner
aufgereiht im Supermarkt während ich
noch auf einen späten Sommer hoffte

Ich trage meine neue Regenjacke
orange, fast ein Tropenlicht,
manche spötteln: „wie die Stadtreinigung“,
einzig zwischen grau blau schwarzen Pendlermassen
versuche ich Schritt zu halten
kenne jedoch nicht die täglichen Rituale,
an Türen, Bahnsteig, im Strom
emulsiert wie ein Sandkorn in einer Träne
während einer Lautsprecheransage.

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Kommentare zu diesem Text

wa Bash (47)
(25.05.20)
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 gitano meinte dazu am 25.05.20:
hallo waBash,
interessante Fragen die Du da aufgreifst...
Es streiten sich die Gelehrten ab wann ein Text Lyrik ist und ab wann eher Prosa. Aber bei diesem Text hier ist es schon ziemlich eindeutig: Lyrik
Eindeutig dafür spricht die Metaphorik / und die dadurch durchgängig erweiterte Bedeutungsebene. Viele Fachleute sagen auch, dass die gebundene Rede/Sprache typisch für Lyrik ist. Dies ist hier der Fall. Desweiteren werden in diesem Text hier schon Zeilenbrüche eingesetzt um die Metaphorik zu befeuern: ein sehr offensichtliches Beispiel:
an Verbindungsorten sammeln sich
viele Menschen
UND:
viele Menschen
sind schon sehr ins Grau verstrickt.

"viele Menschen" hat somit eine rückbezügliche als auch eine vorgreifende Bindung (beidemal als Subjekt)

im dritten Abschnitt gibt es eine Art Kaskade, die sich auf "orange" bezieht:
orange, fast ein Tropenlicht
ornage, wie die Stadtreinigung
orange, einzig zwischen grau blau schwarzen Pendlermassen
orange, emulsiert wie ein Sandkorn in einer Träne

Im vers libre gibt es sehr viele Möglichkeiten und Konzepte:
Eine ist absichtlich Reime, Assonanzen und gefällige Sprachkolon (Sprechtakte) in Regelmäßigkeit zu meiden...natürlich um den inhaltlichen Gegenstand des Textes zu befördern. Damit ist auch Deine Frage beantwortet, ob Lyrik nicht in irgendeiner Art klingen muss. AutorInnen in den 80igern und schon in den 70igern haben dies teilweise konsequent vermieden.

Der Vers libre bleibt ein Vers. Ein Vers unterschiedet sich nicht zwangsläufig durch metrische Figuren von Prosa...aber durch Metaphorik schon und durch innere Verdichtung des Inhaltes, auch durch die Haltung des LyrICH. SOWIE DURCH die gebundene Rede/Sprache.

In meinem Text findest Du einen "Hybriden" (nach meiner Meinung)
Abschnitt I ist eindeutig lyrische Sprache
Abschnitt II könnte auch Prosa sein...aber der Abschnitt hat im Sinne der anderen Abschnitte eine Funktion (wie ein Einschub)
Abschnitt III dürfte eindeutig lyrische Sprache sein.

DAS ANDERSEIN oder sich anders wahrnehmen in Bezug auf die Masse. ist ja Thema oben.
Natürlich habe ich auf der Metaphorik, als auch auf der Versbauebene Einiges an Mitteln eingesetzt...die man hoffentlich nicht so offensichtlich bemerkt...
Aber die Rückbezüge insbesondere in Abschnitt III dürften doch schon sehr auffallen

Ich stimme Dir vollends zu, dass die Grenzen manchmal fließend sind und nicht immer leicht erkennbar. UND JA, hier auf KV habe ich in den letzten Zeiten auch viele nicht so toll angelegte Texte gefunden.

Es macht (mir) aber großen Spaß dazu zu lernen und damit mehr Ausdrucksmöglichkeiten in der Lyrik zu gewinnen.
Tolle Fragen die Du stelltst, hebt sich wohltuend ab...
Danke dafür....
gitano
wa Bash (47) antwortete darauf am 25.05.20:
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 gitano schrieb daraufhin am 26.05.20:
hi waBash,
die Summe ist mehr als jedes Einzelne...und so war mein Kommentar gemeint.
Vor Klopstock galt der Vers als lyrische Sprache meiner Kenntnis nach als metrisch geordnete, gebundene Sprache -fast immer in einer der klassischen Textformen.
Mit der Konstituierung des vers libre brach diese Auffassung auf: weder metrische Ordnung noch übergeordnete Textformen waren ein Kriterium für den Vers. Von KLANG oder KLANGKONZEPTEN (z.B. Reimschemata) war da nicht die Rede..
Jandel z.B. erzeugte Klangtexte ohne jeglichen Inhalt

Übergeordnete Konzepte, die früher und heute postilieren was Lyrik und Lyrikformen seien sind die sogenannten POETIKEN.
Jene POETIKvostellungen die auch etwas zum Vers libre sagen wären demnach für Dich interessant.

Ich teile Deine Auffassung nicht, dass mit der Odendichtung der Vers libre aufkam. Nach meiner Kenntnis sind Oden sehr streng geregelte metrische Textgebilde - die in manchem Vers zwar Spielraum für einige Verdfüße lassen - abe rnach griechischem Vorbild doch recht streng sind.

In meiner Fachliteratur steht, dass Klopstock in Deutschland wohl der erste war, der die Lösung von metrisch streng geordneten Strukturen postulierte...und damit als "Erfinder"/Erstnutzer des vers libre in Deutschland galt...

Nach moderneren Auffassung in Nachkriegszeiten - und dies war in Europa weitverbreitet - wurde der vers libre für das eingesetzt, was ich bereits oben beschrieb und auch als Komm unter Deinen Text: Konzeptionell war dies die Abkehr von Sprachgefälligkeit in harmonisch oder sprechrhythmisch schön klingende Kolons (Sprechtakte) und auch die Abkehr von anderen gefälligen Sprechklang wie Assonanz und Reim,
Man hat damit sehr viel von der Landschaft / der Industrie / den Umbrüchen nach der Kriegszeit lyrisch abgehandelt und sicher wollte manch einer auch Grenzen ausloten.
Dies ist auch eine KLANGAUFFASSUNG! die Abkehr vom klassisch Gefälligem
Es gab anderen Fokus: u.a. Brecht hat die Betonungsakzente nach Stärke (er unterschied 4 bis 5) betrachtet und gab seiner Lyrik damit eine andere Betonung.

Dein Beispiel greift mMn nach nicht zu unserem Diskurspunkt da es doch eindimensional linear erzählend ist. Ihm fehlen wesenliche Merkmale der lyrischen Sprache, die ich oben bereits nannte.

Leider weiß ich noch nicht genau worauf Du hinaus willst - eventuell hilfst Du mir noch ein wenig es besser zu verstehen?
Dann würde ich mich sehr gern mit Dir darüber austauschen.

Kritik an meinen Texten ist mir sehr willkommen! Für Änderungen am Text muß sie mich allerdings überzeugen - das passierte hier erst vor ein paar Tagen. Ich freue mich immer sehr über derlei Kritik- weil ich daran lerne, ein Teil meiner Bretter vorm Kopf los werde (lang bestehene Textpassagen mit denen ich noch nicht zufrieden bin - oder nocht nicht genaue Formulierungen etc., Brüche in der Metaphorik usw.)

Die beiden letzten Zeilen des Textes oben sind fast wie eine Conclusio in einem Sonett...(eine rmeiner Lieblingsformen...)
und summieren die Einzeleindrücke aus den Textzeilen auf...das Anderssein, das sich Andersfühlen, die Befindlichkeit in einer Masse ohne wirklich dazu zu gehören...eben die Exponiertheit...
Vielen DAnk wa Bash!
macht Freude mit Dir zu texten
gitano
wa Bash (47) äußerte darauf am 26.05.20:
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 gitano ergänzte dazu am 26.05.20:
Hi waBash,
anscheinend liegen wir mit unseren Auffassung gar nicht soo weit auseinander...für die lyrische Sprache legst Du aber strengere Maßstäbe an als viele andere AutorInnen. Dazu zwei Gedanken:
Zum einen hat es sehr lange gedauert, neuere Lyrik mit zeitgemäßer Sprache hervorzubringen - ohne die heute grausige barocken "Sprachdrechselleien und -verschraubungen"...Abostrophierungen, Inversionen etc.
Die Unsicherheiten auf diesem Feld mögen auch Texte hervorgebracht haben, deren Sprache weniger gebunden erschien, weniger jenseits einer Lyriksprache waren.
Desweiteren
Eine unaufgeregte Sprache kann trotzdem sehr gehaltvoll sein...auch wenn sie weniger Drama, weniger Bildfülle enthält. Ich habe im Sonettarchiv dazu einige schöne Beispiele lesen können und auch einige sehr schöne ruhig atmende Texte im vers libre an anderen Stellen.

Was Du zu einigen Aneinanderreihungen von Sätzen schreibst, die einfach durch Zeilenbrüche zum Gedicht gemacht werden wollen ....da kann ich nur zustimmen. Umso wichtiger dass man als Lyrikfreund entsprechendes Gehalt offeriert. Leider kann man heutzutage kaum mit Vertretern anderer Auffassungen vernünftig diputieren...Es ist tatsächlich so, dass ohne Bereitschaft schlecht diskutieren ist. ABER es gibt schon Ansatzpunkte, die sind etwas mühselig - aber zeigen die Unterschiede deutlich:
-Warum wähle ich diese Form für diesen Inhalt?
-welche Bilder sollen in welcher Schlüssigkeit welche Aussagemöglichkeiten begünstigen?
-welche metrischen, klanglichen (phonetischen Mittel setze ich wo und warum ein?
-welchen Sprachgestus wähle ich warum?
-welche Haltung hat ein eventuelles LyICH / LyDu
wichtig: was ist der innere Gehalt zum Stoff/ Thema und wie ist er exploriert (spätestens dort versagen die Möchtegernsonettisten)
...es gäbe noch sehr viel mehr.

Kunst, das bewußte manipulieren und Provozieren, begünstigen hinsichtlich einer beabsichtigten Wirkung...könnte diese Fragen beantworten. Der reine Zufall nicht und auch nicht die Effekthascherei...Weniger erfahrene Leser mögen auf Effekte reinfallen -Lyrikfreunde erkennen den inneren Gehalt des Stoffes und wie ihn der Autor aufbereitet hat um eine ganz persönliche Interpretation zu liefern.

Eine Bitte noch: Du solltest meine Texte kritisieren...eine Besänftigung wie "ich wollte Deinen Text nicht kritisieren" grenzt für einen Autor wie mich an eine Beleidigung...;-)
Sich mit meinen Texten intensiv Auseinandersetzen ist doch ein sehr großes Lob für den Text...und natürlich auch mich als Autor. UND KEINER DIESER TEXTE IST NACH JEDERMANS LESART PERFEKT!...es gibt fast immer was zu lernen und zu tun...
Hat mich sehr gefreut
gitano
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