Pauls Stammkneipe

Kurzprosa zum Thema Menschlichkeit

von  BeBa

Man spricht über irgendwen. Am Nachbartisch. Stammgäste vermutlich, drei oder vier. Ich versuche, die Stimmen zu zählen. Ist nicht einfach bei dieser Geräuschkulisse. Vor allem von der Theke her immer wieder Gegröle, wie kurz vor Mitternacht in jeder Kneipe.
Ich bin neu hier. Habe den letzten freien Einzeltisch in dieser dunklen Ecke gefunden. Ab und zu kommt der Wirt vorbei und bringt mir Bier.
Und sie sprechen weiter über diese Person. Ich weiß nicht, wie lange schon.
Sie trinken auf ihn. Auf Paul, höre ich! Und dass er mit der Frau vom Metzger was gehabt haben soll damals. Nein, nein, früher, als sie beide zur Schule gingen. Dann kam Julia. Die süße Julia. Jeder wollte sie, doch sie wollte nur Paul. Und heiratete ihn.
Irgendwo schreit jemand. Der Wirt blökt zurück und schon glätten sich die Wogen.
Julia ist gestorben. Im letzten Jahr, an diesem Scheißkrebs. Seitdem haben sie Paul kaum gesehen. Einer meint, sich abzukapseln, ist ein Fehler. Ein anderer nennt diesen Klugscheißer einen Schwachkopf. Es wird wieder lauter. Der Wirt bringt die nächste Runde. Und auch mir ein Bier.
Sie erzählen von Pauls Marotten. Seine Ausflüge: London, Paris etc.. Und diese regelmäßigen Theater- und Konzertbesuche in der Stadt. Sie lachen. Er war komisch, anders! Ich stehe auf.
„Wie meinen Sie das?“, frage ich und alle schauen mich an. Einen Augenblick herrscht absolute Ruhe. Selbst der Wirt schaut herüber zu uns.
„Na, seine Bücher hättest du sehen sollen“, meint einer von ihnen. „Eine riesige Regalwand haben sie gefüllt in seinem Wohnzimmer. Und wie Julia über diese Staubfänger geflucht hat! Das war natürlich nicht ernst gemeint.“
„Ach iwo“, meint ein anderer mit Tränen in den Augen, „die waren ganz dicke miteinander.“
„Wo bist du überhaupt her?“, fragt ein Dritter. „Komm, setz dich doch.“
Und dann lerne ich Paul kennen, diesen Sonderling aus ihrer Mitte.
„Man musste ihn gern haben!“ Das wird mir mit jeder neuen Runde Bier bewusster. Wir lachen, stoßen immer wieder an auf Paul und unsere Gläser verpassen sich von Mal zu Mal deutlicher.

Irgendwann ist Ende. Ich stehe da, mitten in dieser fremden Nacht. Mit neuen Bekannten, von denen einer vor zwei Tagen sein Leben beendet hat. Ohne seine Julia wollte Paul nicht mehr.

Heute Abend gehe ich wieder hin. Falsch bin ich hier nicht, glaube ich.

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Kommentare zu diesem Text


 IngeWrobel (30.05.20)
Wo gut über Abwesende gesprochen wird, da lass dich ruhig nieder – "böse Menschen haben keine Lieder".
Gerne gelesen.
Liebe Grüße
Inge

 BeBa meinte dazu am 30.05.20:
Das ist wohl wahr, Inge.

LG
BeBa
Aha (53)
(30.05.20)
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 BeBa antwortete darauf am 30.05.20:
Danke dir, Aha. Das freut mich.

LG
BeBa

 Dieter_Rotmund (30.05.20)
Herrlich! Der perfekte, lebendige Gegenentwurf zu Mojas gestrigen "IM CAFE".

 BeBa schrieb daraufhin am 30.05.20:
Danke für die Empehlung, Dieter.

Mojas Text hat mir aber auch gut gefallen. Schwierig, die beiden Texte zu vergleichen.

LG
BeBa

 EkkehartMittelberg (30.05.20)
hallo Beba, schreibst du mir, wo die Kneipe ist. Ich kommde auch.
Liebe Grüße
Ekki

 BeBa äußerte darauf am 30.05.20:
Info geht dir zu, lieber Ekki.

LG
BeBa

 eiskimo (30.05.20)
Ein toller, froh stimmender Nachruf! Und man spürt, wie systemrelevant Kneipen sind.
lG
Eiskimo

 BeBa ergänzte dazu am 30.05.20:
Oh ja, systemrelevant.

Danke dir, eiskimo.

LG
BeBa
Wortfetzen (74)
(30.05.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 BeBa meinte dazu am 30.05.20:
Danke dir, WF. Es freut mich, wenn die Atmosphäre bis zu dir geschwappt ist. Was will man mehr?

LG
BeBa

 AchterZwerg (31.05.20)
Ja,
"auf Paul. Und Julia."

Kneipen vermisst man am meisten, wenn sie mal nicht geöffnet sind oder gar für immer schließen.

Liebe Grüße
der8.

 BeBa meinte dazu am 31.05.20:
Ja, da werden sicher viele nicht mehr öffnen.


Danke dir, lieber 8.

LG
BeBa

 Moja (31.05.20)
Diese Kneipenszene gefällt mir sehr gut, die Atmosphäre ist unaufdringlich und lebendig beschrieben, habe ich gerne gelesen.

Lieben Gruß,
Moja

 BeBa meinte dazu am 25.06.20:
Danke, Moja.
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