Ich wollte nie Parallelgesellschaft sein

Anekdote zum Thema Identität

von  eiskimo

Meine Mutter war  „ en escht kölsch Mädsche“. Als sie „Frollein vom Amt“ bei der Post werden wollte, damals vor dem Krieg, musste sie Hochdeutsch lernen. Und sie lernte es, akzentfrei.
Mein Vater war in einer Baptistenfamilie großgeworden. Als er dann dieses „kölsche Mädsche“ heiraten wollte – streng katholisch, musste er konvertieren. Und das tat er mit Überzeugung.
Beruflich verschlug es ihn nach Frankreich, ihn mit seiner ganzen damals schon siebenköpfigen Familie. Keiner sprach Französisch. Alle mussten es lernen, und wir lernten es. Als unseren Herkunftsort gaben wir nicht Köln an, sondern Cologne.  C´est normal!
Michael, so heiße ich gut deutsch, mich nannte man dort dann Michel (Mi-schäll), das machte es mit den Gleichaltrigen auf der Straße einfacher. Und meine Schwester namens Mechthild – für Franzosen total unaussprechlich – firmierte gar als Mathilde.
Einer meiner Brüder heiratete dann  eine Französin . Er ist in Frankreich geblieben, ist dort Lehrer geworden, hat längst einen  französischem Pass. Er ist immer noch mein Bruder.
Keiner in meiner Familie wurde durch Wechsel und Anpassung seiner Identität beraubt. Niemand musste sich in seinem Wesen verbiegen. Im Gegenteil: Wir haben alle dazugewonnen.
Das Wort „Parallelgesellschaft“ ist mir bis heute fremd.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (07.06.20)
Paralllelgesellschaft sollte es auch nicht geben. LG

 eiskimo meinte dazu am 07.06.20:
Wir sind hier längst, denke ich, ein Bündel mehr oder minder kommunizierender Parallelgesellschaften. Das Verbindende schrumpft zusehends.
LG

 Regina (07.06.20)
Parallelgesellschaft entsteht meistens, wen große Gruppen gemeinsam auswandern. Einzelne passen sich an.

 eiskimo antwortete darauf am 07.06.20:
Ja, das leuchtet ein. Darum sollten diese Gruppen nicht in homogenen Vierteln wohnen, sondern vereinzelt.
Als mein Vater nach Frankreich versetzt wurde (er war bei der Bundeswehr), hätte er seine Familie sehr kostensparend in einer Militärsiedlung (quasi deutsche Kolonie) unterbringen können. Hat er nicht. Er wollte, dass wir Französisch lernen....

 Didi.Costaire (07.06.20)
So sollte es sein, aber nur einem Teil gelingt es.
Gerne gelesen.
Beste Grüße,
Dirk

 eiskimo schrieb daraufhin am 07.06.20:
Danke, Dirk!

 Graeculus (07.06.20)
Auch das ist die Gnade der späten Geburt. Als Frankreich noch der Erbfeind war, wäre das nicht so leicht vonstatten gegangen.

Die Familie meines Großvaters schrieb sich ursprünglich mit accent aigue. Auf eine Weise, die mir nie klar geworden ist, muß 'französisches Blut in meinen Adern rollen' ... dem damaligen Erbfeind!

 eiskimo äußerte darauf am 07.06.20:
Mein Bundeswehr-Vater war im 2. Weltkrtieg Besatzungssoldat in demselben Frankreich gewesen, in das er im Rahmen der NATO dann zurückkehrte. Einmal fuhr er mit mir Neunjährigem zurück in seine Garnison, just zu der Familie, in der er für 16 Monate einquartiert gewesen war. Wir wurden fast wie Familie empfangen.
Ich weiß natürlich, dass es auch ganz andere Erinnerungen an "les boches" gab...

 AchterZwerg (08.06.20)
Wenn der Treudeutsche nicht nur mit der Erbfeindin sympathisiert, sondern sie auch noch ehelicht, sträubt sich das Berliner Blut. Und so einer bleibt trotzdem dein Bruder? Kaum zu fassen! :)

Halbwegs empörte Grüße
der8.

 eiskimo ergänzte dazu am 08.06.20:
Das mit dem Bruder hat doch Verfassungsrang: Fraternité... Zusammen mit der Liberté und Egalité kein so abwegiges Programm, egal ob links oder rechts vom Rhein!
salut!
Eiskimo
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