Weilers

Erzählung

von  minze

Weilers waren bald eingezogen, nachdem wir da waren. Ich kann mich nicht mehr gut an die alte Frau erinnern, die vorher da war, nur, dass sie viel im Garten war, bei den Johannisbeersträuchern. Man konnte schon ahnen, dass sie ins Altenheim oder gleich ganz verschwinden würde. Ich war vielleicht acht Jahre alt, als sie einzogen. Ein zwölfjähriger Sohn und zwei kleine Kinder, so jung wie meine kleinen Brüder. Ich habe bald mitbekommen, dass Tanja ihren großen Sohn von einem anderen Mann als Fabian hatte. Der erste Mann kam immer mal wieder zu Besuch, auch mit seiner Frau. Sie tranken dann Wein und hatten Kerzen im Garten an. Ich habe es ein bisschen mitbekommen, weil wir abends mit Inlinern und Bobbycar auf der Straße fahren durften bis Tagesschau kam. Weilers Garten war offen, ein niedriges Mäuerchen um ihn herum, bis zum Ende der Straße und darin saßen sie alle, machten Stockbrot, sprachen miteinander. Ich kannte das nur von besonderen Aktionen der Kirche, Lagerfeuer, Stockbrot. Wir grillten zu Hause Rote Wurst für die Kinder. Weil Tobias im Januar Geburtstag hat und ich im Sommer, war er schon immer eifersüchtig auf meine Gartengeburtstage mit Grillen und Zelten. Tobias wollte auch mal zum Geburtstag grillen und da organisierte Mama eine Fackelwanderung zum Aussichtsturm auf der Anhöhe unseres Ortes und dort gab es am Stock aufgespießte Würstchen, an der Grillstelle. Ein kleines Abenteuer, dachte ich an diesem Abend und, dass wir eine besondere Mama haben. Sie ist stolz darauf. Heute erzählt sie es noch oft.
Weilers machten solche Stockbrot-Abende mit Marshmellows und mit Gitarre am Lagerfeuer mehrmals im Monat. Also kein richtiges Lagerfeuer, mir fehlt der Begriff, sie saßen eben einfach am Feuer – wahrscheinlich an einer Feuerstelle. Als Kind kam es mir vor, als würden da Indianer sitzen und musizieren, obwohl sie nicht direkt ums Feuer getanzt sind. Die kleinen Kinder vielleicht schon, aber wir waren da dann auch schon nicht mehr auf der Straße, gingen schlafen. Außerhalb des Würstchengrillens kannte ich kein Feuer. Und nach dem Grillen waren meine Eltern auch immer gleich mit aufräumen und so weiter beschäftigt.
Dass Tanja vor Fabian schon einen Mann hatte, fand ich besonders. Sie hatte ganz grüne Augen, einen dunklen Teint und fast schwarze Haare. So stellte ich mir Zigeunerinnen vor. Unglaublich schön. Und Matze, ihr großer Sohn, war es natürlich auch. Er war mein Schwarm, ich habe mich zwar nicht ganz getraut, jemand zu lieben, der vier Jahre älter war, aber ich habe sofort geschwärmt. Mir schien es eine enorme Chance zu sein, schon ein Leben gelebt zu haben, so kam es mir vor, und dann noch einmal ein zweites, in dem Fall mit Fabian und den kleinen Kindern, zu führen. Tanja wirkte weise und ich dachte, ich muss sie gar nicht viel fragen, sie strahlt das wahre Leben einfach aus. Dabei sah ich auch schon bald, dass sie Falten und Sorgen mit sich trug. Sie waren integriert in ihr weiches Lachen.

Hinter ihrem Haus stand so ein alter Hasenstall von der gestorbenen Frau. Weilers fetter Hase darin hieß Lola und ich hatte Angst vor ihr. Weil mir die Nähe zu der Familie so viel bedeutete, habe ich mich bereit erklärt, Lola zu füttern, wenn sie mal weg waren. Meine Befürchtung war, dass Lola meine Panik so spüren könnte, wie das ein Hund tut. Meine Biolehrerin hat mich damit anhaltend beeindruckt: Wenn der Hund deine Panik spürt, wird er erst recht wild und will das Alphatier sein! Das verstärkte mein schon vorhandenes Problem und machte mich noch ängstlicher. Sie hatte Spaß so etwas zu sagen, denn sie belächelte meins und selbst kontrollierte sie sicher ihre Hunde. Mit Lola war es natürlich anders, Hasen sind anders. Ihre eigene Panik war eine Fluchtpanik, eine nach vorne hin, wild an mir vorbei, wenn sie es geschafft hätte, hätte ich also etwas abgekriegt, auch wenn sie nicht angreifen sondern sich nur weit, weit weg bringen wollte. Aber so weit kam es nicht, ich war ziemlich schnell und überlegte mir bei jedem Handgriff genau, wie er ausgeführt werden musste. Lola bekam viele Hasenbabys, sicher um die acht Stück. Die schönsten Momente mit Matze geschahen zu dieser Zeit. Er ließ mich in den Stall und gab mir die Babys in den Schoß, er erklärte mir, wie man sie streicheln muss und führte meine Hand manchmal dabei. Er war ganz versunken ins Streicheln. Ich sah ihm an, dass er noch nicht in der Pubertät war, noch nicht richtig, er war 13 oder 14. Und ich ahnte, dass das ganz schnell passieren würde jetzt und dass er dann nicht mehr mit mir Hasenbabys streicheln würde und mir erklären würde, wie vorsichtig man dabei sein muss. Als er älter wurde, sah er immer besser aus. Aber er hatte mir ohne seine Coolness noch besser gefallen, also ohne Gel, so, wie er vorher war. Vielleicht, weil ich da noch sichtbar war für ihn. Als er dann mit seinen Kumpels Basketball im Hof spielte, kamen regelmäßig Mädchen aus meiner Klasse zu mir. Ich hatte an meinem Zimmer einen Balkon, von da aus konnte man die großen Jungs anschauen. Einerseits war es aufregend, aber ich dachte, dass ich Matze damit Unrecht tue - ihn so vorzuführen und dass er vielleicht irgendwann nicht mehr Lust hätte, Basketball zu spielen, wenn er merkt, dass wir zuschauen. Er hätte mich fragen können, was wir da eigentlich machen oder er hätte auch einfach gar nichts mehr sagen können. Und wahrscheinlich war es auch so, wir haben dann nicht mehr viel miteinander gesprochen. Es hat auch nicht geholfen, dass wir auf verschiedene weiterführende Schule gingen. Ich habe das nicht als Grund eingebracht, als ich mit meinen Eltern darüber entscheiden musste - aber ich war auch deswegen traurig, dass ich nicht für die Realschule empfohlen wurde.

Tanja wusste manchmal, dass ich es zu Hause nicht so gut aushielt. Ich habe sie gefragt, ob sie meine Frisur für die Konfirmation machen will. Sie war nicht zum Gottesdienst und Kaffee eingeladen. Zum Gottesdienst konnten natürlich alle gehen, aber ich habe sie nicht extra eingeladen, weil ich wusste, dass sie nie in die Kirche geht. Der Moment in ihrer Küche, am Morgen der Konfirmation, war für mich so festlich. Ich hatte noch keine Vorstellung, was man sich später als Braut für das Schönmachen am großen Tag wünscht – aber so war es wohl, ziemlich nah dran auf jeden Fall. Sie bürstete mir vorsichtig das Haar und machte mir einen Milchkaffee. Sie wusste, ich darf das jetzt trinken. Mit viel Milch. Und sie fragte mich einfach, was ich schön finde. Dann machte sie das. Ich war gerührt, dass sie die Ruhe dazu aufbrachte und mir nicht irgendwas erzählte oder irgendwas fragte. Sie ließ den Moment für sich sein und machte aus mir ein richtig schönes Mädchen. Ich wollte einen Dutt und drei lange, geflochtene Zöpfe. Das fiel auf, auf dem Gruppenphoto. Aber ich wusste, dass Tanja von meiner Idee überzeugt war und mich mit einem Lächeln nach Hause geschickt hatte. Sie stand noch in der Tür und winkte.

Als Mama mich empfang, mussten wir noch Kerzen auf den Tisch stellen und Kuchen aufschneiden. Ich fragte sie irgendwann, wie sie mich fand. Ja, wenn’s dir gefällt. Sie sah solche Dinge nicht. Aber ich wusste, dass sie es gut fand, anders als die anderen zu sein. Sie war begeistert von den lilanen Lackschuhen, weil sie auch so welche bei irgendeiner Hochzeit einer Tante hatte, keine lilanen, rote, die Geschichte kann ich mir merken, sie ist ihr sehr wichtig. Meine schönen, roten Lackschühchen!


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Kurz nach meiner Konfirmation sind Weilers weggezogen. Fabian hatte eine feste Stelle gefunden. Er ist Gymnasiallehrer. Ich habe mir damals nicht so viele Gedanken gemacht. Ich musste vieles einfach so annehmen, was sich veränderte. Die Umstände waren so wechselhaft. Genau damit musste es auch zu tun haben, weil einfach nichts bleiben konnte. Ich dachte, dass Tobias seinen Kumpel verlieren würde, er hatte sich gut angefreundet mit dem mittleren Sohn der Familie. Sie haben sogar eine Straßenbande gebildet, mit einem anderen Jungen. Ich selbst habe aber nicht den Verlust gefühlt, nicht gleich. Über die Jahre und verschiedenen Nachbarn, die ich dann noch kennenlernte, wurde der Phantomschmerz doch stärker – mir wurde etwas genommen, was mir guttat, was etwas füllte, was zuvor leer war und nun wieder ungefüllt oder unerfüllt blieb. Ich habe als Jugendliche über das Internet noch nach Matze geschaut, wollte wissen, wie er als junger Mann aussieht. Aber eigentlich habe ich Tanja und Fabian viel mehr vermisst.


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Fabian saß oft nachdenklich auf dem Treppenabsatz vor der Haustüre und rauchte. Er war der erste Mann, den ich rauchen sah. Er wirkte auf mich sehr intelligent und melancholisch, in dieser Szene. Wenn ich viel später, mit 16 oder so, wenn ich ihn dann noch als Nachbar gehabt hätte, ich hätte mich so leicht zu ihm setzen können – vielleicht, wenn ich nachts von einem Abend heimgekommen wäre, frustriert oder die ersten Male berauscht. Er war ziemlich streng zu seinen Kindern. Aber er hatte so eine Lebensart, die Ausschweifungen als wesentlich anerkennt, so etwas dachte ich. Ich weiß es nicht ganz sicher, ich konnte ihn da nicht austesten, in solchen Situationen. Es blieb vielleicht mein Wunsch.


Es gibt eine Sache, die noch offen ist zwischen uns. Weilers waren mit am See, als Felix ertrunken ist. Sie waren zu viert, mit den jüngeren Kindern und wir drei Kinder mit Mama. Ich habe eigentlich hauptsächlich mit meinem Tamagotchi gespielt an dem Nachmittag, kein richtiges, ein Dino-Tamagotchi und manchmal war ich mit der Schnorchelbrille tauchen, mit Tobias. Wir haben Geldstücke aus dem Wasser geholt, das war schwer, weil das Wasser im Baggersee trüb ist. Ich glaube, Felix spielte auf der Sandbank mit den Kindern von Weilers und Mama hatte Kaffee für die Frauen. Als ich mit Tobias zurückkam, da wartete er auf uns und sagte, dass Felix verschwunden ist. Tanja sagte, dass sie mit Tobias und ihren Kindern wartet. Tobias war das recht.
Fabian schaute mich an, überlegte und schlug dann vor, wir könnten zusammensuchen. Ich sagte sofort ja, ich habe in seinem Blick gesehen, wie ernst es ihm war. Wo genau Mama war, wusste ich nicht, wahrscheinlich ist sie links um den See herum, weil Fabian meinte, wir gehen rechts lang. Er fragte mich, wo Felix sein könnte und ich sagte nur, vielleicht am Kiosk. Das sagte ich, weil ich eine Antwort brauchte, beim Kiosk konnte man die Eissorten anschauen, Bumbum und EdvonSchleck, eigentlich war ja Felix zu klein, um zum Kiosk zu gehen, er war ja nicht einmal vier. Fabian war einverstanden und wir gingen schnell los. Aber schon im Gehen wollte ich lieber bei den Kindern bleiben, als ich sah, wie die drei spielten. Wir waren nach kurzer Zeit im Kiosk, relativ kurz, weil Fabian bei allen Ansammlungen von Kindern nach Felix schaute und sogar nach ihm fragte. Ich habe hinter die Büsche geschaut, als würde er sich da vor mir verstecken. So oft spielten wir gar nicht verstecken. Es war mir peinlich, dass er die Leute fragt. Ich habe mich geärgert, dass Felix so viel Unruhe verursacht. Mir wurde heiß und eng und ich habe schon gemerkt, dass es mir zu lange dauern würde. Ich wusste nicht, ob mein Tamagotchi Hunger hat. Es lag noch im Picknickkorb von uns. Ich sagte zu Fabian, dass ich aufs Klo muss. Er war hektisch und hatte einen wilden Blick. Er schaute mich an, als wollte er mit mir schimpfen, obwohl er nicht mein Papa ist. Dann mach schnell!. Ich machte eigentlich schon das, was die Erwachsenen sagen, wenn es ernst ist, aber da konnte ich nichts verstehen, nicht verstehen, was passiert. Ich saß in der Toilette und das Häuschen war aus rotem Backstein. So ähnlich sieht es überall an der Nordsee aus, so habe ich das erinnert, an der Nordsee war unser erster Urlaub zu fünft. Das Klo war wie ein kleines Gefängnis, ein kleines Fenster mit so Stangen und das Nötigste, was man braucht, ein Waschbecken, ein Mülleimer. Ich dachte, ich kann mich drin einschließen und bleiben. Ich wollte drinbleiben. Es dauerte lange Minuten und die ersten davon war ich wütend, richtig wütend auf Felix und dass wir suchen müssen. Und ich fühlte mich fremd an, mein Herz wurde enger, das Klohäuschen größer und weiter und trotzdem in mir drin: alles enger und falscher. Und wo ich mich erst geschützt gefühlt habe, war ich dann wie immobilisiert, konnte nicht aufstehen und wollte nur in diesen Tunnel aus enger werden und verlorener im Klo sein verschwinden. Bis Fabian nach mir schrie. Willst du, dass wir deinen Bruder finden? Dann komm jetzt endlich raus!

Als ich rauskam, war ich gleich klar. Ich wusste, dass ich die große Schwester bin, dass wir ihn finden müssen. Ich glaube, ich packte die Hand von Fabian und bin fast vorausgegangen. Zu dem Zeitpunkt riefen meine Eltern schon die Polizei an und dann sind die professionellen Suchkräfte gekommen, der See wurde geräumt. Aber ich bin noch eine ganze Weile weitergegangen mit Fabian. Er war nicht mehr sauer und war nicht mehr hektisch, wir sind in eine stille Übereinkunft gekommen, waren entschieden. Seine Wut über mein Zögern löste sich vielleicht auf. Aber trotzdem ging es mir noch lange nach. Sie haben Felix am nächsten Tag tot geborgen. Fabian hatte uns am Badetag nach Hause gefahren zu meinen Großeltern, die sich gekümmert haben, solange meine Eltern noch am See blieben. Als ich nachts bei Mama im Bett saß und wir Leberwurstbrot aßen, habe ich mich gefragt, wie Fabian das seinen kleinen Kindern erklärt. Ich war ja schon zehn. Ob er ihnen eine tröstliche Geschichte erzählt. Eigentlich dachte ich aber die ganze Zeit an die Zeit auf dem Klo. Schon gleich in dieser Nacht. Aber auch die Jahre später und immer noch denke ich daran. Ich frage mich, wie lange ich dort saß. Ich würde Fabian sagen, dass er Recht hatte, dass ich nicht hätte trödeln dürfen. Ich musste ja nicht einmal wirklich aufs Klo. Ich würde mich beim ihm entschuldigen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (26.06.20)
Nicht schlecht, aber "... ein niedriges Mäuerchen ging die Straße und die über Eck lang und drin war die bunte Runde..." ist völlig unverständlich, fehlen da Kommas? Ich würde zwei Sätze daraus machen.
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