Brauchen wir Kunst?

Tagebuch zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch

von  eiskimo

Exakt diese Frage stellte mir meine Frau, als ich voller Begeisterung das Atelier von Jean-Marc P. verließ. Ich war fest entschlossen, dort,  in diesem umfunktionierten Bauernhof auch etwas zu kaufen. Der junge Franzose, der mit immer neuen pfiffigen Ideen Metall-Schrott ins Leben zurück holt, hatte mich überzeugt. Die Reste einer Vorkriegs-Nähmaschine, kombiniert mit einer ausrangierten Backform, bildeten einen lebensechten Traktor. Der hätte draußen in dem Dorf, wo Jean-Marc sich niedergelassen hat, bei unserem Besuch wirklich vorbei tuckern können. Auch das Easy-Rider-Motorrad im Maßstab 1:1 ging mir nicht aus dem Sinn. Da hatte der Künstler einen alten Pflug mit ein paar Gartengeräten und einem knallroten Bootstank perfekt up gecykelt.
Frank Zappa lehnte am Scheunentor, Spiralfedern aus einer Matratze dienten ihm als Haare und ein etwas dickeres Feder-Element aus einem alten Moped-Sattel formte seinen Schnurrbart. Eine Gasflasche mit Ringelschwänzchen betrachtete ihn ganz treu mit ihren dicken Glubschaugen – zwei Boulekugeln...
Dass wir da wirklich Kunst zu sehen bekommen hatten, da waren wir uns immerhin einig. Handwerkliches Können gepaart mit viel Kreativität und Hintersinn! schwärmte ich.
„Aber wo willst du das hinstellen?“ war die ernüchternde Frage meiner Frau. „Und der gute Jean-Marc wird nicht billig sein...“
Der Künstler selber hatte uns erzählt, dass seine beiden nächsten Ausstellungen wegen Corona abgesagt worden seien. Schwierige Zeiten für die frei schaffenden Artisten.
„Du wirst hier jetzt nicht irgend ein Objekt aus Mitleid kaufen wollen,“  bremste meine Frau weiter.
Ich war verunsichert.
Natürlich brauchte ich nichts aus dem ganzen Arsenal dieser skurrilen Kreationen. Aber was heißt in dem Kontext brauchen? Wie auch immer: Der junge Franzose hatte mich inspiriert. Was er da mit Schneidbrenner und Lötkolben geformt hatte, war voller Erfindungsreichtum. Es überhöhte die verwendeten Alltagsgegenstände, es überhöhte damit auch meinen Alltag. Und damit ließ er mich Neues entdecken, machte er mich reicher.
Warum es ihm also nicht honorieren? Warum ihn nicht bestätigen, und zwar in einer Form, die ihn ermutigt, weiter zu machen? Und warum nicht einfach helfen, seine Existenz zu sichern – wenn er mir doch meine verschönert hat?
Nein, wir haben nichts gekauft. Noch nicht. Wir haben Jean-Marcs Karte. Wir werden ihn uns genauer anschauen auf seiner Internetseite. Und dann werden wir sicher wieder bei ihm vorbei schauen. Schon bald. Ich brauche diese Art Begegnung und diese erfrischende Inspiration. Kurz: Kunst!

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (05.07.20)
Nun ja, hin und wieder muss man dann auch in die Tasche greifen und damit sich selbst und dem Künstler helfen. Greif zu. LG

 eiskimo meinte dazu am 05.07.20:
Mach ich, der eiserne Wille ist schon da. Eiserne Objekte werden folgen!
vG
Eiskimo

 Graeculus (05.07.20)
Kunstwerke sind schon seit den Neandertalern nachgewiesen, und mir fällt wirklich kein Volk ein, das keine Kunst kennt.
Ein Leben ohne Kunst ist bloß ein Überleben. Künstler bereichern das Leben, und natürlich ist es gut, sie dafür zu entlohnen.

Übrigens kenne ich eine Künstlerin, die in ganz ähnlicher Weise aus Schritt u.ä. Kunst herstellt. Vermutlich hat Picasso damit angefangen, als er aus einem Fahrradlenker und einem Fahradsattel einen Stierkopf herstellte.

 eiskimo antwortete darauf am 05.07.20:
"Ein Leben ohne Kunst ist nur ein Überleben..." - das soll Jean-Marc mir in rostige Metall-Lettern schweißen. Besser kann man es nicht ausdrücken.
Danke für diesen Kommentar, der stärkt mich sehr!
Eiskimo

 AchterZwerg (05.07.20)
Recycelte Werke sind mittlerweile in der Bildenden Kunst breit aufgestellt, auch bei Bildhauern und sogar in der Mode.
Das finnichgut!

Das "eingesparte" Geld sollte man durchaus ab und zu bei den zuständigen Künstlern lassen. Und nicht immer auf seine sparsamen Partner hören ...

;-)
der8.

 eiskimo schrieb daraufhin am 05.07.20:
Der Schwiegervater war Museumsdirektor, sein - eher klassisches - Erbe sprengt das Haus. Da jetzt unseren Metall-Recycler einzubauen wird die (klirrende!) Herausforderung sein ... Aber Kunst ist auch Veränderung, denke ich.
LG
Eiskimo

 Regina (05.07.20)
Nach der Maslowschen Bedürfnispyramide ist Kunst Luxus, den man nicht unbedingt braucht. Künstler beobachten und machen bewusst. Wenn mir ein Kunstwerk viel sagt, nehme ich es mit. LG Gina

 eiskimo äußerte darauf am 05.07.20:
Wie haltbar ist so ein Dialog mit dem Kunstobjekt? Ist es nur ein kurzer erhellender Moment und das war´s - oder kann man immer wieder davon zehren? Reicht vielleicht ein Foto, um die "Idee" für sich zu behalten?
Man muss es auch gebührend zur Geltung bringen können...
Alles nicht so einfach
lG
Eiskimo

 Regina ergänzte dazu am 05.07.20:
Ich war in einer Dali-Ausstellung. An seinen Kunstwerken konnte man Wahrnehmung fürs Leben lernen. Zu kaufen gab es da nichts.
Schneewittchen (40)
(05.07.20)
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Stelzie (55)
(06.07.20)
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