Märchenstunde

Dokumentation zum Thema Andere Welten

von  FliegendeWorte

Schon in einem fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer Demenz war sie verstummt. Sie lebte in einem Altenheim, ihr Mann war bereits verstorben.  Ich sprach bei meinen Besuchen natürlich weiterhin mit ihr. Ganz ohne verbale Resonanz, hinterließ mein Reden auch im Gesicht meiner Mutter für mich keinerlei erkennbare Spuren. Doch der Mensch fühlt. Auch wenn die Zeichen dessen, wie unter Tonnen von Lawinenschnee verschüttet zu sein scheinen, und wir sie deshalb nicht mehr deuten können.
So gerne wollte ich sie noch einmal mit meinen Worten erreichen, ihr einen Moment des Geborgenseins in der weiten inneren Fremde verschaffen. Ich entschloss mich ihr Grimms Märchen vorzulesen. - Märchen vorgelesen bekommen, da war ich mir sicher, dass hatte sie früher erlebt und sich dabei wohl gefühlt. So waren fortan meine Besuche gefüllt mit Worten und Melodien voller bunter, innerer Bilder, die hoffentlich auch für meine Mutter im gemeinsamen Raum der Begegnung während unserer Märchenstunde spürbar wurden. Während einer dieser Stunden geschah es dann. Ich las vor, auf dem einen Stuhl in ihrem Zimmer sitzend, sie hörte zu, auf einem anderen Stuhl sitzend. Und während die Töne und Bilder des Märchens dabei durch den Raum zu tanzen schienen, stand sie plötzlich auf, kam zu mir, setzte sich auf meinen Schoß und legte mir locker einen Arm um meine Schulter. Was ich mir erhofft hatte war eingetreten. Ihr emotionales Gedächtnis hatte sich geöffnet und sie erinnerte Geborgenheit, kam dabei selbst in Aktivität um den Rahmen für ihr Erleben für sie entsprechend anzupassen. Als Kind saß sie während des Zuhörens sicher auch eher auf dem Schoß ihrer Eltern.

So saßen wir nun in einer Umkehrung der ursprünglichen Rollen miteinander, beieinander. Meine Mutter auf meinem Schoß.
Doch plötzlich war ich derjenige der überfordert war. Ich bat sie, sich wieder auf ihren Stuhl zu setzen, ich konnte nicht anders.

Jedes Mal wenn ich diese Situation erinnere, wechseln Gefühle von Gänsehautschauern und nassen Augen sich ab, oder sind zu zweit vereint.
Ich war meiner Mutter ein letztes Mal begegnet, und diesmal wie sie selbst so oft, völlig überfordert. Doch wir sind uns begegnet und der  Mensch fühlt, immer.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (09.07.20)
"Wotren"?

 FliegendeWorte meinte dazu am 09.07.20:
Danke für's Fehler finden!

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 23.08.20:
Da sind noch mehr drin, z.B. im schiefen "Ihr emotionales Gedächtnis hatte sich geöffnet und sie erinnerte Geborgenheit, kam dabei selbst in Aktivität um den Rahmen für ihr Erleben für sie entsprechend anzupassen."
Schneewittchen (40)
(09.07.20)
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 FliegendeWorte schrieb daraufhin am 09.07.20:
Hallo Schneewittchen,
danke für deinen persönlichen Kommentar. Schön, dass dich die Worte und ihre Stimmung erreichten.
Liebe Grüße
FliegendeWorte

 LottaManguetti (10.07.20)
Meine Schwester (huch, heute hat sie Geburtstag) beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit mit Demenz.
Aus vielfachen Begegnungen/Untersuchungen/Interviews etc. weiß sie: Das Singen der Lieder, die die Betreffenden in ihrer Jugend begleiteten, kann für Momente ihre Selbstwahrnehmung und Erinnerung öffnen; das Indiehandnehmen ihrer Wangen (wie einst die Mutter das bei ihrem Kind tat) ebenso. Es gibt da schon einige Dinge, mit denen wir (in erster Linie wohl für uns selbst) die Noch-Anwesenheit unserer dementen Familienmitglieder nachweisen können. Ich meine aber auch, dass es ihnen ebenso angenehm ist, wie wir hoffen.

Einen sonnigen Gruß

Lotta

 FliegendeWorte äußerte darauf am 10.07.20:
Hallo Lotta,
vielen Dank für deinen Kommentar. Die Begegnung mit Menschen mit Demenz ist wahrlich eine Gradwanderung. Vor allem, weil wir nicht genau wissen wieviel wir von unseren unterschiedlichen Welten wechselseitig mitbekommen. Forschung auf dem Gebiet ist eine dankbare Aufgabe, finde ich. Wir sollten uns schließlich bewusst machen, dass mit dem immer älter werden auch Demenzerkrankungen stetig zunehmen. Danke für deine Detailinformationen.
Viele Grüße
FliegendeWorte
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