GEFANGENE GEFÜHLE/... aus meinem Buch Betheljugend

Kurzgeschichte zum Thema Erwachsen werden

von  Thomas-Wiefelhaus

Vier weiße Wände.
Vier schmutzigweiße Wände! Wie sollte er es nur ertragen?
Der Junge stand auf und ging im Kreis. Drei Tage ist er nun hier.
Erst drei Tage! – Ob man sich daran gewöhnen kann?
Er blieb am Fenster stehen. Die unteren Scheiben waren, bis über Kopfhöhe, weiß getüncht. Nur die oberen gestatteten den Blick hinaus, genau auf den Wipfel einer Birke.
Er stellte sich auf Zehenspitzen.
Draußen war Frühling, April; laufend änderte sich das Wetter. Es hatte erst geregnet, dann geschneit, und der nasse Schnee blieb an den Ästen kleben. Nun schien die Sonne wieder, sie glitzerte in den weißen Zweigen. Allmählich schmolz der Schnee und es tropfte von den Ästen.
Alles das nahm der Junge mit ungewohnter Intensität wahr. Er empfand eine unsinnige Dankbarkeit für den Baum; der wenigstens meinte es gut mit ihm. Es ist, als ob der Baum seine Not kennt und sich besondere Mühe geben will, ihm Abwechslung zu geben. Mal zeigt er sich mit hellen grünsprießenden Blättern, mal in leuchtendem Weiß.
Wie gerne würde er jetzt auch da draußen sein, durch die Wälder laufen und sehen, wie aus den Knospen Blätter werden. Es ist wohl meistens so, dass man Dinge besonders vermisst, wenn man keine Gelegenheit hat, sie zu bekommen.
Der Junge löste den Blick vom Baum und ging weiter im Kreis umher. Irgendwann wurde die Tür aufgeschlossen. Ein, ihm unbekannter, fülliger Mann stellte sich übermäßig breitbeinig im Türrahmen auf.
„Guten Tag, Herr Graben!“
„Tag.“
„Ich bringe Ihnen gleich ihr Essen. Wenn ich schon mal da bin, lasse ich Sie auf die Toilette; dann können Sie auch gleich Ihren Kübel leeren!“
„Ich?“ fragte der Junge ein wenig verwundert. Bisher hatte er den Kübel nie selber geleert.
„Sie haben ihn doch schließlich auch benutzt, oder nicht? Vielleicht soll ich Ihre Scheiße wegmachen!?“
„Nein!“ sagte der Junge.
„Wissen Sie, wo die Toilette ist?“
„Ja“, sagte der Junge und griff nach dem Kübel.
„Und spülen Sie ihn am Becken aus!“
Der Junge trug den Gummikübel über den Flur zur Toilette. Er schüttete dessen Inhalt ins Klo, spülte den Kübel mehrmals aus und wischte ihn gewissenhaft mit Papier sauber, bis er schwarz glänzte; für ihn war es eine Aufgabe, etwas, dass er nach langer Untätigkeit tun durfte!
Anschließend brachte er den Kübel zurück, und stellte ihn, wie gehabt, in die Ecke. Auf dem Fußboden stand bereits ein Teller Suppe, nun kaum einen Meter vom Kübel entfernt. Der Junge setzte sich auf die Matratze, blickte vom Teller auf den Kübel und vom Kübel auf den Teller, zog den Teller ein Stückchen vom Kübel fort – und begann zu essen.

Später holte der Mann den leeren Teller: „Wieso lauft ihr eigentlich immer im Kreis umher, seid ihr denn alle nervös?“
„Man muss sich bewegen“, sagte der Junge.
„Ihr Nachbar macht das genauso. Ich beobachte euch nämlich, heimlich, durch den Spion; das merkt ihr gar nicht. Ich mache das nicht so, wie die anderen, die lassen ihn einfach wieder zufallen. Ich öffne ihn jedes Mal ganz leise und vorsichtig, und mache ihn genauso leise wieder zu. Ihr läuft herum wie die Tiger im Käfig. Warum setzt ihr euch nicht, versteh’ ich nicht?!“
Der Junge blickte dem Mann ins Gesicht und sagte nichts. Wenn der einen Tag hier drin wäre, dachte er, der würde genauso rennen.
Vor drei Tagen hatte er es ja auch noch unterschätzt, ja auch noch nicht geahnt, wie es ist, hier zu sein, wie es ist, nichts als weiße Wände zu sehen. Hatte sogar zuerst noch ’ne große Klappe gehabt und ein paar Witze gemacht.
Doch schon bald begann die reizarme Umgebung auf ihn zu wirken. Bereits in den ersten Stunden überkam ihn das Gefühl, kleiner und kleiner zu werden. Sehr schnell waren alles Selbstbewusstsein, alle Witzigkeit und die große Klappe verschwunden. Nun verstand der Junge selbst nicht mehr, wieso jemand das nicht verstehen konnte; doch wie sollte er es erklären?
„Am Boden stinkt es ziemlich, ich muss mich jedes Mal erst überwinden, wenn ich mich hinlege.“
„Dass ihr auch immer so jung hier reinkommt! Ihr Nebenmann wird erst siebzehn. Ich glaube, Sie sind aber noch jünger; wie alt sind Sie?“
„Vierzehn“, antwortete der Junge.
„Ich glaube fast, Sie laufen noch mehr als alle anderen hier. Werden Sie überhaupt nicht müde? Sie laufen ja bestimmt 30 Kilometer am Tag. Wozu haben Sie denn ihre Matratze? Setzen Sie sich hin!“
Der Junge antwortete nicht.
„Ich lasse mal die Tür auf; aber nicht hinauslaufen!“
Der Junge war überrascht. Er starrte auf die Tür. Sie blieb tatsächlich offen. Und diese Veränderung des Raumes machte ihn sonderbar unsicher: Verstieß sowas nicht gegen sämtliche Vorschriften? Und was sollte es bewirken? Wollte der ‚Dicke‘ ihm damit helfen? – Aber wie sollte es einem helfen, wenn man ja doch nicht raus durfte?
Bloß Mitleid alleine hilft nicht, dachte der Junge weiter, wer helfen will, muss auch das Richtige tun!
Wenigstens war der ‚Dicke‘ netter als die anderen, und drohte nicht ständig, wie der ‚schwarze Mann‘ mit den langen Koteletten.
Aber halt! Die offene Tür war die Gelegenheit, mehr zu sehen, als immer nur auf weiße Wände.
Er wusste natürlich, was es da draußen zu sehen gab. Aber einen Moment lang versuchte der Junge die Erinnerungen aus dem Kopf zu drängen; er wollte etwas Neues, Überraschendes entdecken können, er wollte das Gefühl bekommen, es zum ersten Mal zu sehen. – Erst dann streckte er zögernd den Kopf aus der Tür und sah sich um.
Zwei Augenblicke später zog er den Kopf wieder zurück.
Er hatte einen Flur gesehen, der düster war, grau, und sehr eintönig, und Türen … die Türen waren alle verschlossen, das wusste er … da war nichts, was ihn ablenken konnte, nichts Schönes, nichts was er sehen wollte …
Sofort suchten seine Augen wieder den Baum; diesen einzigen Flecken Farbe, den es hier gab.
Der Baum und immer wieder der Baum! Wie oft hatte er heute wohl schon hinübergeschaut? Vielleicht hundertmal, vielleicht mehr. Was würde er bloß ohne ihn tun?
Der Junge stellte sich ans Fenster:
Was haben sie sich dabei gedacht, die Scheiben unten weiß anzumalen? Soll niemand hinaus oder niemand hinein sehen können? Wären die Scheiben frei, könnte er den ganzen Garten sehen, die grüne Wiese, vielleicht sogar ein Stück Wald.
Dann fing er an hochzuspringen.
Mehr wollte er sehen, mehr! von seinem Baum: Er braucht dessen Farbe, dessen Grün, will es in sich aufsaugen.
Er springt aus voller Kraft. Versucht bei jedem Sprung, noch ein Stückchen höher zu kommen, und springt, springt, springt.
Nach einer Weile bemerkte er, dass er mehr von dem Baum sehen konnte, wenn er weiter vom Fenster entfernt hochsprang: Ja, fast die Hälfte des Baumes konnte er auf diese Weise sehen.
Doch nun schluckten die schmutzigen Scheiben auch mehr von der grünen Farbe!
Nein, das darf nicht sein! Grün soll er sein, sein Baum. Grün will er ihn sehen, ganz grün, auch wenn ihm dann ein Stück seiner Länge verloren geht, so stellt er sich wieder näher heran, dicht an das Fenster und springt.
Unvermittelt hält er inne. Geht wiederum zur Tür und sieht hinaus. Lauscht einen Moment: Niemand wird ihn sehen.
Auf Zehenspitzen schleicht er über den Flur, um sich blickend und lauschend. Bleibt dann kurz stehen, schaut vorsichtig um die Ecke in einen kurzen Gang. Richtig, da liegen immer noch Hemd und Hose über dem Stuhl, genauso wie er sie vor drei Tagen hinterlassen hat.
Schnell zog er den Gürtel aus seiner Hose und rannte in die Zelle zurück.
(c) Thomas Wiefelhaus


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Um diesen Text herum habe ich quasi mein Buch BETHELJUGEND geschrieben.
Vor allem das erste Kapitel.

Leider zeigt die Text-Statistik beim Verhältnis Kommentare/Aufrufen mir noch immer eine rote Schrift! Schade!

Hoffe aber die Geschichte gefällt? Oder traut sich einfach fast keiner zu Kommentieren?

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (15.07.20)
Herzlich willkommen, Thomas-Wiefelhaus.

Ich freue mich darauf, mehr von Dir lesen zu können.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 03.10.20:
Schade, das ich zu den gefangenen Gefühlen bislang nur einen Kommentar erhalten habe! Würde mich über weitere freuen.
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