Nicht auffallen wollen

Geschichte zum Thema Anpassung

von  tulpenrot

Es ist früher Abend und friedlich nach dem Unwetter, immer noch sommerlich warm, aber hier schon schattig. Ich parke mein Auto vor dem Friedhof. Die Fahrt hierher war ein bisschen abenteuerlich. Ein Unwetter hat mich überrascht. Nun bin ich wohlbehalten an meinem Ziel.

Als ich aussteige, fällt mir auf, dass die Vögel unbeirrt singen. Doch sie werden sich bald zur Ruhe begeben, noch kreisen sie ein wenig über den Blütenbäumen. Das Unwetter von eben hat sie verschont. Wie so vieles andere. Selbst der Müll steht noch ordentlich am Straßenrand.

Aber aus mir hat es auf dem Weg hierher alle Wissbegierde hinausgeschwemmt. Lustlos suche ich mir im Unigebäude einen Sitzplatz am Rande des Hörsaales. Flucht möglich, für alle Fälle. Rauchen verboten, essen auch. Ich trinke einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Es fehlen Körbe zum Ablegen von Taschen oder Jacken. Ich sitze auf einem harten Holzklappstuhl, eingeklemmt vor dem Klapptisch, auf dem mein Schreibblock nur ganz knapp Platz hat. Keine guten Voraussetzungen für eine entspannte Hörsaalzeit.

Der Redner kommt fünf Minuten zu spät. Seine Eitelkeit ist nicht zu übersehen. Sie präsentiert sich in seinem herablassenden Blick, in der Art, wie er seine Augen über die Zuhörer streifen lässt. Nun breitet er seine Gelehrsamkeit aus, schießt Worte in das Mikrophon und übertönt die Gedanken der Zuhörer. Deren Scheitel sind ordentlich und gerade gezogen, die Stirn hinter den Locken angestrengt gekräuselt. Ihre Hände klatschen zum Schluss bereitwillig Beifall. Und sie werden anschließend das Gehörte mit Überzeugung in alle Winde verstreuen.

Manchmal bin ich froh, dass ich etwas schwerhörig bin.
Ich fühle mich unwohl, will eigentlich gar nichts mehr wissen oder nicht so viel, nicht so Detailliertes. Doch wie immer bleibe ich bis zum Schluss, ohne zu flüchten, um der Peinlichkeit zu entgehen, als einzige den Saal zu verlassen, obwohl wohl kaum jemand Notiz von meinem Aufbruch genommen hätte. Es gab eigentlich keinen Grund zu bleiben. Ob es Höflichkeit war? Bequemlichkeit? Was bestimmt mein Verhalten? Hat gar ein im Grunde harmloses Unwetter meine Geradlinigkeit in seinen braunen Wasserfluten ertränkt, die von den Feldern herabstürzten? Eine Banalität mich beeinflusst? Wie viele Befürchtungen sind unterschwellig mit herangeschwommen?

Eigentlich hab ich nicht mehr genügend Lebenszeit, um mit unerfreulichen Kompromissen zu leben. Das betrifft natürlich nicht nur diese eine kleine Episode. Es ist eine grundsätzliche Haltung, die nach sorgfältiger Überlegung und dem Abwägen der vielen Komponenten sicher korrigiert werden sollte.
Gedankenverloren schließe ich mein Auto auf. Es ist dämmrig geworden. Die Vögel schweigen. Nur mein Inneres nicht.


Anmerkung von tulpenrot:

„Vögel singen in einer Welt, die krank, lieblos und ungerecht ist. Vielleicht haben sie Recht.“ (Andrea Schwarz)


Textgrundlage ca. 2016 entstanden

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (16.07.20)
Kompromisse sollte man in unserem Alter anderen überlassen. LG

 tulpenrot meinte dazu am 16.07.20:
Wenn du meinst ...
Ich danke dir
LG Angelika

 Moja (16.07.20)
Gelernt ist eben gelernt, die Anpassung meine ich, vermutlich lebenslang eingeübt, dafür umso besser beschrieben, aber den Humor hast Du nicht eingebüßt, die feine Ironie im 4. Absatz gefällt mir. Jedenfalls habe ich die Geschichte gerne gelesen!

Liebe Grüße,
Moja

 tulpenrot antwortete darauf am 16.07.20:
Ach ja, es ist und bleibt eine Daueraufgabe, aus diesem Knäuel herauszufinden.
Danke für deine Worte und die Empfehlung
Liebe Grüße
Angelika

 Dieter_Rotmund (16.07.20)
wohl behalten -> wohlbehalten

Etwas arg bleierner Erzählstil, oder?

 tulpenrot schrieb daraufhin am 16.07.20:
Keine Ahnung.

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 17.07.20:
Naja, du leierst die Aktionen der Protagonistin einfach so lieblos runter....

 tulpenrot ergänzte dazu am 17.07.20:
genau nach diesem Leierton war mir aufgrund der Umstände zumute
P.S. Hab den Text noch mal gelesen - deine Einschätzung stimmt nicht - da wird überhaupt nix geleiert!
So!

Antwort geändert am 17.07.2020 um 07:54 Uhr

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 17.07.20:
Ich verstehe.
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