Menschen im Café und ich

Tagebuch zum Thema Fremde/ Fremdheit

von  tulpenrot

Mein Kaffee ist leider nur lauwarm. Und statt einem Glas Mineralwasser bekam ich einen halben Liter! Ich beruhige meinen Zorn mit dem Gedanken, dass man ja viel trinken soll, aber zusammen mit der Suppe, die ich bestellt habe, sind es nun sicher 1 Liter Flüssigkeit. Das ist mir eigentlich zu viel.

Es riecht so angenehm nach ofenwarmem Buttergebäck. Oder nach Croissants? Ich bekomme Appetit. Mein Ärger verfliegt.
Ich beobachte sie. Und auch die vielen anderen um mich herum. Sie sieht so schön aus und traurig. Ihre Haare stehen ihr in starken Kräuseln vom Kopf. Sie hat sich ein Buch geholt und liest darin. Ein Kopftuch bedeckt nur wenig ihr Haar, hängt locker über der Schulter.
Bei mir knackt der Nacken.
Die traurige Frau ist sehr schlank. Sie hat das Buch wieder zurückgetragen. Ich gehe nach einer Weile zum Bücherregal, hol es für mich heraus und lese es auch.

„Flieh, Wassilis, flieh“. Die Soldaten schießen sonst auf dich.

Und dort drüben unterhalten sich zwei Frauen sehr lebhaft auf Italienisch – oder ist es Spanisch? Es fällt mir schwer Genaueres zu verstehen und zu unterscheiden. Muss ich das? Eine von den beiden fällt mir besonders auf, sie ist weißhaarig, trägt ein blaugemustertes Oberteil und eine hellblaue Hose. Allein ihr Aussehen  und ihre Haltung am Tisch, ihre Gesten, ihre Ausstrahlung beeindrucken mich. Ich muss sie immer wieder anschauen. An zwei Tischen in meiner Nähe wird Türkisch gesprochen. Die türkischen Mädchen sind dunkel – braun und schwarz – und unterhalten sich verhalten, freundlich. Hübsche lange Haare, große Ohrgehänge, feine dunkle Gesichtszüge, braune Augen. Ob sie sich selber hübsch finden?

„Flieh, Wassilis, flieh“. Du bist zu jung für diese Schönheiten, und du bist Albaner.

Am Nachbartisch wird Schwäbisch gesprochen. Das Schwäbische klingt immer noch ausländisch in meinen Ohren. Selbst nach so vielen Jahren.

Die Tische werden vom Café - Personal immer wieder gewischt, die Kissen aufgeräumt, es ist sauber hier. Schwäbische Gründlichkeit, internationale Gäste. Nur wenige Männer sind unter ihnen. Und wenige wirklich alte Frauen. Letzteres finde ich erstaunlich. Ich bin so gut wie nie in einem Café, der heutige Tag ist eine Ausnahme. Deswegen hänge ich noch an dem früheren klischeehaften Bild von den übermäßigen Sahnetorten, die sich vor dicken alten Frauen auftürmen. Mit ihren unangenehm kläffenden Schoßhündchen. Nein, so ist es nicht mehr. Oder war es nie?

Draußen ist es kühl geworden. Für den, der im Freien sitzen will, gibt es Decken. Mein Mineralwasser ist erfrischend. Ich trinke es langsam und bekomme immer größeren Appetit auf ein Croissant. Ein Eis danach wäre schön. Bei diesem Gedanken zwinkere ich mir selbst zu. Ich glaube, man braucht nicht viel zu essen, es muss nur gut sein.

Ich werde verreisen. Und ich muss mich belohnen dafür, dass ich verreise. Zum Beispiel mit diesem Cafébesuch. Schon im Voraus in diesem Fall. Der für mich ungewöhnliche Aufenthalt hier ist damit gerechtfertigt. Meine Reise wird nämlich anstrengend, muss man wissen. Die Fahrkarte habe ich schon gekauft. Sie war am Schalter nicht teurer als im Internet. Vielleicht verreise ich öfter einmal für ein paar Tage, warum nicht, wenn die Preise so erschwinglich sind? Die gewohnte Umgebung verlassen, den Dunst der eigenen Gemütlichkeit durchbrechen. Von Samstag bis Montag zum Beispiel. Ein Buch für die Reise brauche ich noch. Zur Ablenkung. Damit ich wegtauchen kann, wenn es nötig ist. Und es wird nötig sein, vermute ich. Ich esse jetzt tatsächlich ein Croissant und später ein Eis.

„Flieh, Wassilis, flieh“. Deine Unruhe, deine Fremdheit, dein Suchen nach Wegen aus der Gefahr berühren mich.


Anmerkung von tulpenrot:

Hinweis zu dem zitierten Buch:
An Rutgers van der Loeff-Basenau
Flieh, Wassilis, flieh
Nominiert 1964 für den Jugendbuchpreis
Begründung des Arbeitskreises Jugendliteratur
„Der Vater des etwa 13jährigen Wassilis ist im Freiheitskampf der Griechen gegen die Albaner gefallen. Nach jahrelanger Gefangenschaft kehrt Wassilis mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Albanien zurück. Die Armut des Bergdorfes, in dem sie Unterkunft finden, zwingt ihn, sich in Athen als Schuhputzer zu versuchen. Abenteuer folgt auf Abenteuer. Wassilis flieht aus der Stadt, gerät in eine Schmuggelaffäre und findet endlich - wieder mit seiner Familie vereint - in einem Flüchtlingsdorf eine neue Heimat. - Ein nicht alltägliches Thema, ein spannender Stoff, ein Buch, das eine Vorstellung vom Flüchtlingsschicksal gibt, das überall in der Welt ähnlich ist, mögen auch die politischen Hintergründe und vor allem die Schauplätze sich unterscheiden.“
Originalsprache: Niederländisch

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Empfohlen von:
AvaLiam, Paulila, AchterZwerg, Moja, Aha, eiskimo, AZU20

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Kommentare zu diesem Text

Aha (53)
(16.07.20)
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 tulpenrot meinte dazu am 16.07.20:
... und dein fröhlicher Kommentar samt Empfehlung gefällt mir auch - Danke und viele Grüße
Angelika

 eiskimo (16.07.20)
Bei dem Eis würde ich mit essen. Die Story hatte mich eh gepackt. Man lebt ein bisschen mit Dir zusammen, schön!
lG
Eiskimo

 tulpenrot antwortete darauf am 16.07.20:
Wie freundlich deine Worte und wie schön, wenn jemand von meinem Text gepackt wird. Dann macht das Eisessen doppelt Spaß! Danke dir.
Angelika

 Dieter_Rotmund (17.07.20)
Gefällt auch mir recht gut, wegen der detaillierten Beobachtungen.
Das mit dem Jugendbuch würde ich allerdings weglassen, das wirkt sehr bemüht gekünstelt.

P.S.:
Italienisch -> italienisch

 tulpenrot schrieb daraufhin am 17.07.20:
Wieso soll ausgerechnet Italienisch klein geschrieben werden?
Und welchen Teil "mit dem Jugendbuch" soll ich weglassen? Was ist daran gekünstelt?

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 17.07.20:
Sorry, mein Fehler, "Italienisch" ist korrekt.

Weglassen würde ich die "Flieh"-Einschübe und dann natürlich auch die Anmerkung. Es wirkt halt sehr aufgesetzt und unsicher.
Der Rest kann prima für sich alleine stehen, braucht keine solche morsche Unterstützung!

 tulpenrot ergänzte dazu am 17.07.20:
Also die Anmerkung ist ein Zitat und nicht auf meinem Mist gewachsen. Die Lektüre des Buches und die eingestreuten Hinweise haben eine Bedeutung für den übrigen Text. Ich gebe zu, dass das nicht für jeden Leser ersichtlich ist. Man kann sie natürlich überlesen. Aber weglassen will ich sie nicht.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 17.07.20:
War ja nur ein Vorschlag von mir.
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