MEHRBETT- ODER EINZELZIMMER?/ Erste Schlafsaalgeschichte aus meinem Buch BETHELJUGEND

Kurzgeschichte zum Thema Erwachsen werden

von  Thomas-Wiefelhaus

Sie gelangten durch einen schmalen Gang in einen nahezu quadratischen Saal, in dem, dicht nebeneinander, viele Krankenhausbetten standen. Doch immerhin zeigten nicht alle Betten in ein und dieselbe Richtung! – Man stelle sich nur einmal vor: alle Betten in durchgehend geraden Reihen, immer Bett, Nachttisch, Bett, Nachttisch, Bett, Nachttisch, dicht an dicht: Wie sähe DAS wohl aus? – Aber durch jene unterschiedliche Orientierung in diverse Himmelsrichtungen wurde, wie es eine deutsche Beamtenseele vielleicht ausdrücken würde, die Möglichkeit einer gestrengen Anordnung doch einigermaßen abgemildert …
Im Klartext: So wirkte die Aufstellung der Betten weniger langweilig und streng!
„Sie sind hier jetzt in der Nervenklinik Jericho 8, auf der Station U7 und das ist Ihr Bett!“ sagte Paul Milgram und schlug mit seiner fleischigen, kräftigen Hand auf das Ende eines weißbezogenen Bettes mitten im großen Männerschlafsaal.
Tomas blickte sich um: „Wie viele Betten stehen hier?“
„Ich glaube, es sind sechzehn“, antwortete der Pfleger. „So genau habe ich sie noch nicht gezählt!“
Nachdem Tomas seine Frage gestellt hatte, wirkte der mollige Hüne auf einmal sonderbar verlegen und unsicher – ja, fast tapsig, wie ein großer Bär, der von einem Bein aufs andere tritt. Und Tomas überlegte, ob sich der riesige Kerl denn schäme, die Bettenanzahl nicht völlig sicher zu wissen.
Der Pfleger zählte einfach nach: „… zwölf, dreizehn, vierzehn, … doch, es sind ganz genau sechzehn!“
Tomas hätte am liebsten gesagt: Okay, okay! – Jetzt habe ich ALLES gesehen, es gefällt mir nicht, und ich möchte sofort wieder gehen; aber inzwischen war ihm ja klargeworden, dass er vorhin vor der Eingangstür nur einer Finte aufgesessen war.
„Haben Sie denn kein Einzelzimmer?“ fragte er stattdessen mit einem unüberhörbar schnippischen Unterton. Diese Frage sollte mindestens zur Hälfte ein Scherz sein; denn bei diesem überfließenden Platzangebot war er doch relativ sicher, dass die mögliche Antwort nur „Nein!“ heißen könne. Auf diese Antwort hin könnte er dann gut den Beleidigten spielen und mit streng-gestellter Stimme fragen: „Soo? – Und was für ein Krankenhaus seid Ihr denn hier?!“
„An den Seiten haben wir noch zwei Dreibettzimmer, aber die sind alle belegt …“
„Hier kann ich bestimmt nicht schlafen!“ meinte Tomas nun trotzig.
„Drüben auf der anderen Station gibt es höchstens noch ein Stübchen“, fiel Herrn Milgram ein.
„Ein Stübchen?“ wiederholte Tomas fragend. „Das ist sicher auch belegt?“
„Nein, ich glaube, eins ist noch frei!“
„Ist das auch ein Dreibettzimmer?“
„Nein – ein Einzelzimmer …“
„Sogar ein Einzelzimmer!“ frohlockte Tomas.
Vor seinem – noch recht kindlichen – geistigen Auge stieg soeben ein Bild auf; ein Bild von einem ruhig gelegenen, gemütlichen Zimmerchen, mit einem weiß bezogenen Bett, mit schmucker Tapete und hübschen Vorhängen am Fenster, und – was ihm wohl am allermeisten behagte – vielleicht konnte man sich ja nachts, zu gegebener Zeit, möglichst unauffällig durch dieses Fenster verdrücken!
„Aber das wird Ihnen auch nicht gefallen!“ mutmaßte der Pfleger. „Das ist …“ – Er machte eine kleine Sprechpause – „nicht besonders gut!“ Fast unmerklich schüttelte er den Kopf, verzog leicht den geschlossenen Mund und spitzte dabei die Lippen; etwa so, als erinnere er sich insgeheim an einen ziemlich faulen Apfel.
Tomas ignorierte die leise Warnung auf dem Gesicht des Pflegers. „Warum nicht?!“ rief er aus. „Da möchte ich hin!“
Der Pfleger schloss eine Tür auf. Sie durchquerten einen zweiten Saal, in dem sich bettlägerige Greise befanden, und wechselten dann, nachdem der Pfleger mit dem universellen Tür-‚Drücker‘ weitere Türen auf- und wieder zugeschlossen hatte, in einen Bereich der Dauerpatienten, die hier zum größten Teil seit 20, 30 oder mehr Jahren verwahrt wurden. Auf dieser Station gab es auch einige von Ärzten und Pflegepersonal so genannte – ‚Stübchen‘.
All diese Umstände waren Tomas natürlich unbekannt. –Aber als sie endlich vor einer grünlich gefärbten Stahltür standen, die der Pfleger mit recht lautem Klacken aufschloss, schwante ihm nichts Gutes. Während die Tür sich öffnete, bemerkte Tomas, dass sie mehr als einen Dezimeter dick war! … eine Zelle!
Das Inventar bestand lediglich aus einer Matratze mit dunkelgrauem Kunststoffbezug – sie lag rechts vor der Wand, auf dem Fußboden – und einer henkellosen Nachtschüssel aus schwarzem Gummi.
Kein Bettgestell, keine Bettwäsche und schon gar keine hübschen Gardinen am Fenster! Und über diesem grauweißen, ziemlich laut nach einem baldigen Putzfrauenbesuch schreiendem Ganzen lag ein unangenehmer süßlich-muffiger Geruch.
„Das haben Sie sich sicher ganz anders vorgestellt!“ sagte Paul Milgram, als er das erschrockene Gesicht des Jungen sah. Der Pfleger ging zum Fenster und schlug mit der geballten Faust mehrmals tüchtig auf eine der kleinen Scheiben, die mit stabilen weißgetünchten Stahlschienen gitterartig eingefasst waren.
„Panzerglas! – Vollkommen ausbruchsicher!“ erklärte er und schaute Tomas dabei fest in die Augen. Tomas zog eine Schnute und wendete den Blick ab. Große Scheiße! Woher kannte dieser Kerl nur seine innersten Gedanken …?
„Möchten Sie nicht doch lieber mit mir wieder zurück in den Schlafsaal gehen?“ fragte der Pfleger den Jungen.
Ganz alleine zusammen mit fünfzehn Verrückten, zu denen er ja nicht gehörte, in einem großen Saal? Womöglich waren manche ja auch aggressiv; woher sollte man das wissen? Oder hier, wirklich ganz alleine, weit entfernt von allen anderen Patienten, in dieser unwirtlichen Zelle? Mit der Zeit würde er sich aber bestimmt daran gewöhnen …
„Nein, ich bleibe hier!“ entschied Tomas. Dass er sich hiermit für eine Station der langjährigen Dauerpatienten (mit besonders schweren ‚Fällen‘) entschieden hatte, anstelle jener für die eher mittelfristigen Patienten (die aber auch oft für Jahre blieben), war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.
Der Pfleger Paul Milgram ging aus dem Raum und ließ den Jungen zurück. Er drückte die schwere Stahltür zu, und schloss sie mit lautem Klacken ab.                      (c) Thomas Wiefelhaus


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Nach dieser Geschichte habe ich den Untertitel meines Buches BETHELJUGEND benannt.
Es ehrt mich, dass ich hier nach einem handsignierten Exemplar gefragt wurde. Das ist aber umständehalber zur Zeit nicht möglich. (Lagere keine Bücher zur Hause!)

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (17.07.20)
[All diese Umstände waren Tomas natürlich unbekannt...]

Hallo Thomas,

dieser Satz wirkt wie eine Stolperstelle - und vielleicht hast du das ja mit Absicht so formuliert. Mir gefiele - All diese Umstände waren Tomas natürlich nicht bekannt... - besser.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 18.07.20:
Möglicherweise gibt es regionale Unterschiede beim Gebrauch von unbekannt-nicht bekannt? Letzteres ist wohl umgangssprachlicher. Ich verwende beides.

Ist dir zum Inhalt auch etwas eingefallen?

 EkkehartMittelberg (20.10.20)
Du hast die dedrückende Atmosphäre dieser Anstalt hervorragend eingefangen.
Gruß
Ekki

 Dieter Wal (21.10.20)
Tut mir sehr leid, dass Du diese Erfahrung machten musstest. Ich möchte den ganzen Bericht als Buch lesen.

 Thomas-Wiefelhaus antwortete darauf am 21.10.20:
Danke für die positiven Kommentare und das Leseinteresse!
Bestelldaten zum ganzen Buch Betheljugend auf meiner Autorenseite!

PS.: Für Journalisten (Und sehr aktive Blogger) gibt es die Möglichkeit kostenlose Rezensionsexemplare vom Verlag zu erhalten.

 Dieter Wal schrieb daraufhin am 21.10.20:
Lieber Thomas,

Buch bestellt. Leider bei Amazon. Vielen Dank für die zahlreichen Hinweise. Leider fehlt Zeit für eine Rezension.

Gruß
Dieter

 Thomas-Wiefelhaus äußerte darauf am 21.10.20:
Hallo Dieter!
Ich hoffe, das dir mein Buch gefällt. Eine Rückmeldung wäre nett!

HG
Michael
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