Ein Wunder des Atheismus

Bericht zum Thema Kultur

von  Graeculus

Sowohl die Verteidiger des Polytheismus in der Spätantike (Julian Apostata) als auch die Christen und sogar die Verteidiger religiöser Toleranz vom Renascimento bis zur Aufklärung (Thomas Morus, John Locke) kennen eine Position, die sie auf keinen Fall zu tolerieren bereit sind, die schlimmste von allen: den Atheismus. Verstanden als: es gibt keine Götter, keinen Gott – oder wenn doch, dann kümmern sie sich nicht um uns, haben mit uns nichts zu tun (was man Deismus nennt); und weiterhin gibt es kein Leben nach dem Tod, also keine Belohnung und keine Gerechtigkeit im Jenseits. Da hört buchstäblich alles auf, was man noch hinnehmen kann.

Die üblichen Verdächtigen haben dies im Hinblick auf die Überlieferung ihrer Texte zu spüren bekommen: Von Heraklit, Demokrit und Epikur gibt es nur noch kümmerliche Fragmente, und selbst Julian Apostata äußert seine Freude darüber, daß bereits zu seiner Zeit kaum noch Bücher von ihnen erhalten seien. Den Rest haben die fleißigen Mönche des Mittelalters erledigt bzw. eben nicht erledigt, nicht abgeschrieben.

Die einzige Ausnahme, die erstaunliche, geradezu wunderbare Ausnahme bildet Lukrez (Titus Lucretius Carus), dessen „De rerum natura“ vollständig überliefert ist, obgleich man den Autoren, die sich bis ins 15. und 16. Jahrhundert mit ihm befaßt haben, anmerkt, welche Irritation seine Gedanken bei ihnen ausgelöst haben.

Auf wunderbare Weise ist ein atheistisches Buch aus der Antike auf uns gekommen. Weil es so schön geschrieben ist?

Hier ist ein Auszug zu lesen, das "Vaterunser" des Lukrez an seinen Lehrer Epikur, gesprochen 100 Jahre bevor ein anderer sein berühmtes Gebet an den Vater aller Dinge gerichtet hat:
E tenebris tantis tam claram extollere lumen
qui primus potuisti inlustrans commode vitae,
te sequor, o Graiae gentis decus, inque tuis nunc
ficta pedum pono pressis vestigia signis,
non ita certandi cupidus quam propter amorem
quod te imitari aveo; quid enim contendat hirundo
cycnis, aut quidnam tremulis facere artubus haedi
consimile in cursu possint et fortis equi vis?
tu, pater, es rerum inventor, tu patria nobis
suppeditas praecepta, tuisque ex, inclute, chartis,
floriferis ut apes in saltibus omnia libant.
omnia nos itidem depascimur aurea dicta,
aurea, perpetua semper dignissima vita.
nam simul ac ratio tua coepit vociferari
naturam rerum, divina mente coorta,
diffugiunt animi terrores, moenia mundi
discedunt, totum video per inane geri res.

Der du zuerst aus der Finsternis Nacht so leuchtend die Fackel
Hoch zu erheben vermocht und die Güter des Lebens zu zeigen,
Dir, o Zier des hellenischen Volks, dir folg‘ ich und setze
Fest den Fuß in die Spuren, die du in den Boden gedrückt hast.
Nicht Wetteifer, dir gleich es zu tun, nur glühende Liebe
Drängt mich dir nachzustreben. Wie möchte dem Schwane die Schwalbe
Je sich vergleichen? Wie könnte denn auch mit zitternden Gliedern
Jemals das Böcklein im Lauf mit dem sehnigen Rosse sich messen?
Du, mein Vater, du bist der Entdecker der Wahrheit, du gibst uns
Väterlich Rat. Wie die Bienen auf blumiger Halde den Blüten
Allen Honig entsaugen, so schlürfen auch wir aus den Rollen,
Die du, Gepriesener, schriebst, nun alle die goldenen Worte,
Goldene Worte und wert bis in Ewigkeit weiterzuleben!
Denn sobald dein System, das Erzeugnis göttlichen Geistes,
Über das Wesen der Dinge die laute Verkündigung anhebt,
Scheucht es die Angst von der Seele. Da weichen die Mauern des Weltalls
Und ich erblick‘ im unendlichen Raum das Getriebe der Dinge.
(De rerum natura III 1 ff.)

"Tu, pater, es rerum inventor" - das wäre uns Späteren entgangen, wenn die christlichen Mönche nicht einmal - wer weiß, aufgrund welcher Fügung? - inkonsequent gewesen wären.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (24.07.20)
Das muss ich einige Male lesen, bis ich nachvollziehen kann, dass es atheistisch ist. Meine Faulheit ist froh, das Latein nicht selber übersetzen zu müssen. LG Gina

 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
In dieser Passage bringt Lukrez seine tiefe Verehrung für Epikur zum Ausdruck, der ein Atheist - präziser: ein Deist - war; im übrigen dient das gesamte Werk dem Zweck, die physikalische und ethische Lehre Epikurs in dichterischer Form darzustellen. Das kann man ja nun nicht gut zitieren.
Latein ohne Übersetzung - das funktioniert nicht mehr. In diesem Falle ist es eine Nachdichtung.

 TrekanBelluvitsh (24.07.20)
Früher war Bücher verbrennen - auch im übertragenen Sinne - noch so viel leichter.

 Graeculus antwortete darauf am 24.07.20:
Klar: Es gab weniger davon. Aber der Flaschenhals zwischen Antike und Neuzeit bestand halt eher in der Entscheidung christlicher Mönche: Das schreiben wir nicht ab!
Irgendwie ist der Lukrez da durchgeflutscht.

 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 24.07.20:
Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ein (unbekannter) Fürst gedroht hat, einem Kloster sonst das Land zu konfiszieren..

Aber vielleicht wollte eine kleine Gruppe von Mönchen ihrem Abt auch nur einen Streich spielen...

 Graeculus äußerte darauf am 24.07.20:
Das mit dem Fürsten ist möglich, aber der müßte dann davon gehört haben, daß es dieses Buch gibt. Soll man das einem Fürsten des Mittelalters zutrauen?

Einen Abt hatte auch ich im Sinn, denn ich denke mir, daß ein Mönch nicht monatelang ein bestimmtes Buch abschreiben kann, ohne daß das jemand (sein Abt) merkt. Die werden doch einen Dienstplan gehabt haben, oder? Was macht der Bruder Aloysius eigentlich seit Monaten?

Übrigens gehen alle späteren Ausgaben tatsächlich auf eine einzige mittelalterliche Handschrift zurück. Es war ein Mönch oder ein Abt oder ein Fürst, dem wir das verdanken. Gott möge ihm diese Sünde verzeihen!

 TrekanBelluvitsh ergänzte dazu am 24.07.20:
Hm... vielleicht ist bei den Fürsten des MA das größere Problem, dass die Meisten gar nicht lesen geschweige denn schreiben konnten.

Aber Kirchenmann der "mittleren Ebene" - die höhere Ebne war ja auch mit Fürsten besetzt - ja, dass passt schon. a) ein Gelehrter (und wenn er den Text nur erhalten wollte, damit gute Christenmenschen dagegen argumentieren können, das ist auch möglich, kann aber auch echtes Interesse gewesen sein) und/oder b) das typische Verbotsparadoxon. Der Text ist verboten, also interessiert er erst recht.

Grundsätzlich muss man natürlich sagen, das die Überlieferung von Texten aus früherer Zeit extrem schlecht ist. Wenn es keine "Bestseller" waren. Selbst von vielen in der Zeit hoch gerühmten und beliebten Theaterstücken aus Shakespeares Zeit sind von den Meisten nur die Titel bekannt. Umso mehr ein Glücksfall.

 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
Die meisten Fürsten konnten sicherlich nicht lesen. Das mit dem Verbotsparadox dürfte zutreffen - allerdings hätte man dann auch eine bessere Überlieferung von Heraklit, Demokrit und Epikur erwarten können, oder?

Was die Überlieferung antiker Texte angeht, so sind je nach Schätzung 90 bis 99,9 % verloren, und in vielen Fällen kennen wir auch da lediglich die Titel.
Von denen, die erhalten sind, gibt es jedoch in der Regel mehrere Handschriften. Die waren dann halt so populär, daß jede bessere Klosterbibliothek ein Exemplar haben wollte.

Dennoch meine ich, daß den antiken Atheisten die Überlieferung prinzipiell nicht günstig gesinnt war. Wenn der "Heilige" Aristoteles mal Demokrit zitiert hat, ja, dann haben wir auf diese Weise ein Zitat von Demokrit erhalten. Aber diesen Materialisten um seiner selbst willen zu erhalten, daran dachten die Mönche nicht.

Wenn man sich die Lukrez-Diskussion in der Renaissance anschaut, dann dreht sie sich meist um seine sprachliche Meisterschaft - abseits der inhaltlichen Aussagen. Das meinte ich mit meiner Vermutung, daß die Schönheit seiner Verse ihn gerettet hat.

 Terminator (24.07.20)
An dieser Stelle bitte ich dich um Entschuldigung für den Ausdruck "Zaungast der Philosophie" (nicht per PN, weil auch der Ausdruck in einem öffentlichen Kommentarstrang fiel). Es war mein Zorn gegen eine Kritik, die die Unterstellung der Unredlichkeit enthielt. Obgleich ich die Unterstellung selbst kategorisch zurückweise, steht es mir nicht zu, ein disqualifizierendes Pauschalurteil über die Person auszusprechen.

 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
Ist o.k.
Meine eigene Einschätzung darüber, was ich in der Philosophie kann und was nicht, hängt ohnehin nicht (mehr) vom Urteil anderer über mich ab.
Wenn ich sage, daß eine bestimmte Argumentation unredlich ist, soll das auch kein Gesamturteil über eine Person ausdrücken. Ich erinnere mich, das gesagt zu haben, weiß jedoch nicht mehr, worum es damals ging.

 DanceWith1Life (24.07.20)
Nicht mal was ich glaube und was ich denke sind sich eins, Geburt und Tod durfte ich aus nächster Nähe betrachten, das dazwischen, foppt mich jeden Tag.

 Dieter Wal (24.07.20)
Ich sollte mir zweisprachig De rerum natura zulegen. Vielen Dank! Welche Ausgabe empfiehlst Du?

Kommentar geändert am 24.07.2020 um 20:42 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
Erstmal zwei Gegenfragen:
1. Möchtest Du eine Übersetzung in Hexametern wie das Original, oder akkzeptierst Du Prosa?
2. Bist Du Mitglied der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG)?
Danach kann ich besser antworten.

 Graeculus meinte dazu am 24.07.20:
Die Fragen sind relevant, weil die Prosaübersetzung, die ich im Sinn habe, den Vorzug hat, zusätzlich einen Kommentarband zu haben. Und weil sie bei der WBG erschienen ist.

 Dieter Wal meinte dazu am 25.07.20:
Zu 1. Eine hexametrische Nachdichtung ist nett für den Nachdichter, wenn sie annähernd kongenial ist, jedoch bei nahezu sämtlichen Nachdichtungen alles andere als flüssig lesbar und auch in den geglückteren Beispielen Lichtjahre vom Urtext entfernt. Bitte Prosaübersetzung.

Zu 2. Leider nicht.

 Graeculus meinte dazu am 25.07.20:
Deine Antworten sind eindeutig, die finanziellen Folgen erheblich.

Lukrez: Über die Natur der Dinge / De rerum natura. Lat.-dt. übersetzt und herausgegeben von Klaus Binder. 2 Bde. Darmstadt 2016

Der zweite Band ist der Kommentarband.

Ich meine mich zu erinnern, daß mich das Werk als WBG-Mitglied 100 Euro gekostet hat; für Nichtmitglieder kommt es dann noch teurer.

Du kannst natürlich mal bei booklooker nachschauen, ob es das antiquarisch und damit billiger gibt.

 Dieter Wal meinte dazu am 25.07.20:
Danke!

Was bedeutet folgender Hinweis: " 2 Bde (nur geschl. beziehb.)"

https://www.wbg-wissenverbindet.de/10734/ueber-die-natur-der-dinge/de-rerum-natura?number=1017610

Kommen ein oder zwei 'Bände für ca. 50€

Antwort geändert am 25.07.2020 um 13:42 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 25.07.20:
40 Euro:

https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Lukrez+%C3%9Cber-die-Natur-der-Dinge-De-rerum-natura/id/A02qx7Tf01ZZl

 Dieter Wal meinte dazu am 25.07.20:
Danke!

Was bedeutet folgender Hinweis: " 2 Bde (nur geschl. beziehb.)"?

https://www.wbg-wissenverbindet.de/10734/ueber-die-natur-der-dinge/de-rerum-natura?number=1017610

Kommen ein oder zwei 'Bände für ca. 50€

 Graeculus meinte dazu am 25.07.20:
Die beiden Bände sind nur geschlossen beziehbar (käuflich), also nicht bloß der Textband.
Der Preis von 50 Euro bezieht sich auf beide Bände insgesamt.

Mein Hinweis auf 100 Euro war mißverständlich: er betraf nicht die hier angebotene Leinen-, sondern die Lederausgabe. Das habe ich nicht mehr bedacht.

 Dieter Wal meinte dazu am 30.07.20:
De rerum natura erhalten. Un-glaub-lich schön! Danke!!

 Graeculus meinte dazu am 30.07.20:
Gern geschehen! Bücher: immer wieder.

 Dieter Wal meinte dazu am 01.08.20:
Bisher kannte ich von Lukrez gerade dem Namen nach von jenem Gedicht, das stilistisch mich nicht wenig an Goethe erinnert, doch ihn in keiner Hinsicht imitiert, sondern privaten Charakters mit eigener emotionaler Färbung und Duktus ist:

Einladung zu einer Schweizerreise
An Nathanael Schlichtegroll
(August von Platen)
(Karl August Georg Maximilian Graf von Platen-Hallermünde)

Lang schon auf die Folter spannten
Dich die alten Folianten,
Laß nun diese magre Kost!
Greift man nicht, des Wechsels pflegend,
Den Lukrez beiseite legend,
Gerne nach dem Ariost?
O so fliege, flüchte schnelle,
Weich aus deiner dumpfen Zelle
Hin wo Luft und Duft dich weckt!
Laß uns mit erfrischtem Mute
Wandlen, Freund, vom Muschelhute
Unsre Schläfe leicht bedeckt.

Willst du durch der Freiheit Eden,
Wo die Berge zeugend reden,
Nicht ein froher Pilger gehn?
Dort, wo keine Dränger hausen,
Wo die Ströme freier brausen,
Wo die Lüfte reiner wehn.

Ein Interpret Platens meinte, er hätte ein bedeutender Gelehrter werden können. Es hat den Anschein, dass Platens Lateinkenntnisse gut genug waren, um Lukrez im Original genießen zu können.

Klaus Binders Übersetzung ermöglicht dies deutlich mehreren Menschen, Lukrez für sich zu entdecken. Mich erinnert das Buch zunächst entfernt an Hesiods Theogonie und Werke und Tage. Zwar beschreibt Hesiod ernst gemeint seine Dichterweihe, Lukrez ist von solchen Wahrnehmungen denkbar weit entfernt, doch strukturell und formal verbindet zunächst die Werke beider Autoren viel. Da ist zunächst die poetische Form und die streng gegliederte strukturelle Vorgehensweise. Der Naturphilosoph Lukrez scheint in seiner Zeit eine wesentlich größere thematische Spannbreite als Hesiod zu haben, was sich erklärt, berücksichtigt man, dass Hesiod tatsächlich als Ackerbauer und Viehhalter lebte. Hesiod dürfte mit vielen verschiedenen Menschen aus diverser Herkunft und religiöser Färbung über Griechische Götter gesprochen und wahrscheinlich auch, soweit vorhanden, darüber gelesen haben. Da mutmaßlich wenig Schriftliches bisher darüber systematisch zusammengefasst wurde, begann er mit seinem systematischen Langgedicht. Lukrez erinnert mich in seinem Denken auch an einen frühen Leonardo da Vinci, dessen Logik wie ein Nussknacker zielgrichtet Unsinn zerlegte. Die Schönheiten Hesiods sind völlig anderer Natur. Beide schimmern einzigartig.

Antwort geändert am 01.08.2020 um 09:18 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 03.08.20:
Die Parallele zu Hesiod ist mir neu, leuchtet mir jedoch ein.

Darf ich Dich weiterhin auf den spätantiken Dichter Palladas aufmerksam machen?
Der ersten Information mag der Wikipedia-Artikel dienen. Seine Gedichte sind in der Anthologia Graeca (Anthologia Palatina) erhalten.

 EkkehartMittelberg (24.07.20)
Urlaub, Graeculus. Demnächst wieder mit Kommentar.

 Graeculus meinte dazu am 25.07.20:
Danke. Ich wünsche Dir bzw. Euch eine gute Zeit im Urlaub.

 Bergmann (27.07.20)
Eine sehr schön verfasste Erinnerung an Lukrez und Epikur.
Ich habe von Lukrez nie etwas gelesen. Sein weltliches 'Vaterunser' gefällt mir - leider ist es keine Parodie oder Ironisierung. Noch freier wäre Lukrez gewesen, wenn er seinen Lehrer nicht 'angebetet' hätte. Er wollte wohl nicht allein sein, und die Mönche, die ihn abschrieben, vielleicht auch nicht.

Kommentar geändert am 27.07.2020 um 22:18 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 28.07.20:
Zwischen Epikur und Lukrez besteht eindeutig ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, d.h. Lukrez ist philosophisch nicht über seinen Lehrer hinausgekommen. Die Originalität besteht in der dichterischen Form.
Diese enge Bindung an den Meister kann man vor allem bei den Epikureern feststellen. "Wer Epikur nicht gesehen hat", so schrieb einer von ihnen, "hat die Sonne nicht gesehen."
Welche Eigenschaft Epikurs (sein Charisma?) das bewirkt hat, ist Sache der Spekulation.
In manchen Hinsichten erscheint mir Epikur perfekt und zeitlos, z.B.: "Der Tod geht uns nichts an. Entweder ist er da, dann sind wir nicht da, oder wir sind da, dann ist er nicht da."

 Bergmann meinte dazu am 28.07.20:
In der Tat, der Satz über den Tod ist einleuchtend und consolatio philosophiae - wären da nicht Leid und Sterben. Denn so gesehen ist der Tod immer da, auch wenn er (noch) nicht eintritt. - Im Moment beschäftige ich mich allerdings mit der Realität bzw. mit den Fiktionen (Markus Gabriels neuestes Buch, Suhrkamp).

 HerzDenker meinte dazu am 20.09.21:
Mal in die Runde hineingefragt: Ist jemand, der an eine "große, schöpferische Ur-Intelligenz "glaubt, denn als Atheist zu bezeichnen? Er glaubt doch an eine höhere Ordnung, ein höheres Prinzip. Dann hat ein Verstoß des Menschen dagegen natürlich auch negative Folgen, es wird aber nicht etwas infantil als "Strafe Gottes" gesehen, da es diesen "Herrn" ja nicht gäbe. - Wer an einen materialistisch gedeuteten Kosmos glaubt, wer Zufällen ohne Weiteres einen zentralen Platz einräumt, der muss doch völlig anders eingeschätzt werden als ein Lukrez?!

 Graeculus meinte dazu am 20.09.21:
Eine höhere Ordnung, ein höheres Prinzip (worin auch immer sie bestehen mögen) sind noch kein personale Instanz, ausgestattet mit Willen und Intelligenz und um uns bekümmert (= Gott).
Das Tao des sog. Taoismus ist ein Beispiel dafür: eine höhere Gesetzmäßigkeit, der zu folgen in unserem Interesse liegt, aber nicht in dem des Tao.

Geht Lukrez irgendwo von einer solchen personalen Instanz aus, die sich um uns kümmert?

 HerzDenker meinte dazu am 20.09.21:
Nein, das eben nicht. Aber er geht doch in eine goetheanisch-pantheistische Richtung. "Transzendenzoffen" wird das auch allgemeiner genannt.

 Graeculus meinte dazu am 20.09.21:
Wir reden immer noch von dem antiken Autor Lukrez, ja?
Den Begriff Pantheismus gibt es (erst) seit dem frühen 18. Jhdt.
Eine Art Pantheismus avant la lettre existiert bei den Eleaten; aber dem hängt Lukrez nicht an. Und dann kennt die Antike bei Platon einen Panpsychismus, und auch den kann man Lukrez nicht zuordnen.
Den Deismus der Epikureer habe ich im errsten Abschnitt meines Textes erwähnt. Götter, die sich nicht um uns kümmern? Für mich ist das zumindest ein Atheismus der Praxis. Und Religion war in der Antike primär eine Sache des Rituals, der tätigen Verehrung der Götter.

 HerzDenker meinte dazu am 20.09.21:
Aber die Art, wie heute Spiritualität als ritualfreie Haltung meist verstanden wird, kann doch in ihm einen heimlichen Vorläufer gehabt haben?

 Graeculus meinte dazu am 20.09.21:
Ich sehe nur keinen Anhaltspunkt für eine religiöse Spiritualität bei Lukrez. Das Quasi-Gebet für Epikur verstehe ich als schwärmerische Begeisterung für einen Lehrer. Aus irgendwelchen Gründe hat Epikur das bei vielen seiner Schüler ausgelöst: "Wer Epikur nicht gesehen hat, hat die Sonne nicht gesehen."
Sollen wir annehmen, daß auch Atheisten ein Bedürfnis nach Verehrung haben? Das ist möglich.

 HerzDenker meinte dazu am 21.09.21:
Verehrung, ja, vermutlich. Ich denke, dass ein Song wie "What a wonderful world" etwas von dem zeigt, was ich bei Epikur vermuten darf: Verehrung für das Leben, Dankbarkeit für das SEIN ! Wenn ich an einem Sommernachmittag am Waldrand sitze und neben mir landet eine Biene auf einer schönfarbigen Blüte...dann freue ich mich nicht nur einfach so, dann habe ich eine Art Hochachtung vor der wunderbar ineinander verflochtenen Natur und ihrer Ordnung. Goethe muss sinngemäß mal gesagt haben: "Biene und Blüte- sie müssen füreinander geschaffen sein."

 Graeculus meinte dazu am 21.09.21:
Dieses bewundernde Staunen findet sich bei Lukrez. Wie da sich alles zusammenfügt in der Natur, das war ja vor Darwin völlig unerklärlich, sofern man auf die Annahme eines Schöpfergottes verzichtete.

Antwort geändert am 21.09.2021 um 12:42 Uhr

 HerzDenker meinte dazu am 21.09.21:
Moment, die Evolution ist unabdingbar für die Vorstellung einer wunderbar sinnvollen Ordnung? Für mich ist die Idee, dass eine große, schöpferische Ur-Intelligenz hinter allem steht, womöglich unerschaffen und in aller Zukunft da, eine voll ausreichende Erläuterung. Dass Entwicklung in ihr eingebaut ist, ist eben ein Teil dieser Idee.

 Graeculus meinte dazu am 21.09.21:
Nein, das ist für mich keine Erklärung, sondern die Verlagerung eines Rätsels auf eine höhere Ebene. Was für eine "schöpferische Ur-Intelligenz"? Wie hat dieser Geist aus dem Nichts Materie erzeugt? Was hat er sich bei der Einrichtung der Dunklen Energie gedacht? usw.
Abgesehen davon gibt es auch dafür bei Lukrez keinen Anhaltspunkt. Es ist einfach spekulativ.

Es gibt einen scherzhaften 'Gottesbeweis': Es muß einen Gott geben. Wer sonst hätte dafür gesorgt, daß die Katzen die Löcher im Fell genau an den Stellen haben, an denen die Augen sind?

Diese Art von Harmonie, die sich im an die Umgebung angepaßten Körperbau und in ganzen ökologischen Systemen ausdrückt, kann die Evolutionslehre erklären, so daß man dafür keine theologischen Annahmen mehr benötigt.

 HerzDenker meinte dazu am 21.09.21:
Gottesbeweise sind seit 150 Jahren nicht mehr üblich, weil man allgemein gemerkt hat, dass sowohl die JA-These als auch deren Negierung vom Wesen der Sache her nicht logisch begründbar ist wie eine Matheformel.. Es geht also nur um "Indizien", die die Pro- und Contra-Fraktion sammelt. Ich finde, die lassen sich am besten am Leben selbst prüfen: Wer gegen die genannten Prinzipien verstößt, wird dies "bezahlen" müssen, sei es durch Erkrankungen, Einschränkungen der Freiheit oder der Lebensqualität. So sehen Leute wie ich das.

 Graeculus meinte dazu am 21.09.21:
Auch dem muß ich, ich bedaure, widersprechen. Von den klassischen Gottesbeweisen sind der kosmologische und der teleologische obsolet (letzterer durch den Darwinismus erledigt). Den ontologischen aber hat im 20. Jhdt. Kurt Gödel mathematisiert und für korrekt befunden - freilich für den im ontologischen Argument formulierten Gottesbegriff, der nicht dem Gott Abrahams und Isaaks entspricht.
Und das sind nur die Gottesbeweise.

Die Gegenseite hat im Rahmen der Sprachanalytischen Philosophie nachgerüstet (Rudolf Carnap etwa) und gezeigt, daß Aussagen über Gott weder wahr noch falsch, sondern sinnlos sind, d.h. den Kriterien für sinnvolles (definiertes, überprüfbares) Sprechen nicht genügen.
Selbstverständlich ist dies nur eine These; Weiteres kannst bei Carnap ("Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache") nachlesen.

Das alles betrifft, wie gesagt, nur Gott; daß wir für den Verstoß gegen bestimmte Lebensregeln (wie sie z.B. der Taoismus oder der Buddhismus beschrieben) bezahlen müssen, steht auf einem anderen Blatt. Interessanterweise gelten beide als "atheistische Religionen".
Lukrez hat vergleichbare Regeln von Epikur bezogen. Epikur erscheint mir überhaupt wie eine Art europäischer Buddha.
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