Neulich auf der Lesebühne

Kurzgeschichte zum Thema Kultur

von  Buchstabenkrieger

Jan verbeugt sich, verlässt unter Applaus die Bühne. Ein gelungener Auftritt, denke ich. Der Text – einfach klasse. Und wie gut er vorträgt. Da kann ich mir eine Scheibe von abschneiden. Und die Performance davor: Hotte, der Mann an der Gitarre – Poet, Songwriter und Sänger. Niederrheinischer Platt. Wie gewohnt in seinem Element, spritzig, witzig, doppeldeutig. Oder Henning, am Klavier, mit seiner klaren Stimme. Intelligente, gesungene Lyrik. Da ein Elfchen, dort ein Haiku, abschließend ein Sonett. Alles prima, im Gegensatz zu meinen Texten weichgespültes Tralala-Wir-haben-uns-alle-lieb. Aber passend zum Thema.

Claudia steht von ihrem Platz auf und geht ans Mikrofon. „Vielen Dank, Jan. Und nun eine kleine Programmänderung. Cordula ist leider erkrankt, aber dafür haben wir Ersatz. Ich bitte Magda Lennen auf die Bühne!“ Sie deutet auf die zweite Reihe und geht wieder hinunter.
Eine ältere Dame tritt zögerlich nach vorne, geht die zwei Stufen hoch, hält dabei zitternd ihr Manuskript in den Händen. Ich erkenne, dass sie es handschriftlich erstellt hat.
„Guten Abend. Ich … bin kurzfristig dazugekommen. Ich hatte im Extraspiegel reingeschaut, weil ich gucken wollte, was ich Silvester machen kann, und dann fiel mir der Artikel über die Friedensnacht ins Auge. Das habe ich dann genau gelesen und weil da jeder mitmachen kann, hab ich mich angemeldet.“
Ich wechsle einen kurzen Blick mit Henning, der neben mir sitzt. Er scheint ebenso wie ich gespannt und überrascht zu sein.
„Ich habe einen Text über Tiere dabei“, fährt Magda fort. „Gedanken, die ich mir zu Tieren gemacht habe, heißt mein Text.“
Sie kommt zum Rand der Bühne, läßt ihren Blick über die Anwesenden schweifen. „Wir sind ja hier in einer kleinen Runde und ich hätte gerne, dass mir jeder kurz seine Gedanken zum Thema Tiere sagt.“ Sie schaut auf Claudia. „Möchten Sie anfangen?“
„Tiere haben ein Recht darauf, glücklich zu sein“, sagt Claudia.
„Ich mag Tiere, ich habe eine Katze“, sagt Jan.
Hans meint: „Ich mag auch Tiere, habe selber einen Papagei. Einen echten. Es kann immer nur einen von uns in Urlaub gehen. Meine Frau oder ich.“
„Ich dachte, er oder Sie“, ruft Hotte dazwischen.
Allgemeines Gelächter. Ich sehe, dass Magda nervös die Finger gegeneinanderreibt.
Zwei, drei andere Leute im Publikum sprechen über ihre Haustiere, dann äußert sich Hotte wieder, diesmal mit ernstem Unterton. „Ich hab schon als Kind keinen Zirkus gemocht, die Tiere im Zirkus. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
Zustimmendes Gemurmel.
Henning ist es, der den Faden aufnimmt. „Zirkustiere find ich auch schlimm. Wir haben keine Haustiere, bewusst nicht. Ich möchte nicht Herr über ein Tier sein.“
Da mir diese Aussage gefällt und mir nichts anderes eingefallen wäre, sage ich: „Tiere im Zirkus mag ich auch nicht, wie Hotte. Und ebenso wie Henning möchte ich auch kein Herr über Tiere sein.“ Magda nickt.
„Wir sollten aber nicht nur über Haustiere sprechen, sondern auch über Nutztiere“, sage ich weiter. Magda schaut auf. „Und über Fleisch, über unser Essen“, ergänze ich.
Für einen Moment herrscht Ruhe. „Ja …“, sagt Magda schließlich.
Drei Plätze weiter ruft eine Frau: „Ich habe auch eine Katze!“
Jan erhebt sich, dreht sich zur Frau und zeigt das Victoryzeichen.
Magda umfasst das Mikrofon, wiederholt stichwortartig die Aussagen. Ihre Stimme wird immer leiser, sie spricht immer langsamer, bis Claudia dazwischenruft: „Und wie geht jetzt Ihr Text?“
„Ja, mein Text.“ Magda liest vom Blatt ab. „Meine Gedanken, die ich mir zu Tieren gemacht habe. Doppelpunkt.“
Hotte dreht sich zu mir um, lächelt. Ich verdrehe die Augen.
„Kälber werden schon nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt. Ferkel von ihren Müttern.“ Sie überfliegt das Blatt. „Lämmer von den Müttern … Nein.“ Sie schaut nach vorne. „Ich glaube, die nicht. Das waren nur Beispiele, es gibt bestimmt noch mehr.“
Magdas Augenlid zuckt. „Tiere werden zum Schlachthof …“ Sie macht eine Pause, Tränen laufen ihr über die Wange. „Dort werden sie geschlachtet.“ Es folgen einige unverständliche, stockende, unter Tränen vorgelesene Sätze. Immer wieder verliert sie sich in den Zeilen, kann wohl ihre eigene Handschrift nicht lesen, wendet das Blatt hin und her.
Endlich ist sie fertig, bedankt sich, tritt von der Bühne und kehrt zurück in die Stuhlreihe.
Verhaltener Applaus.
Und jetzt bin ich mit meinen Kriegstexten dran. Oder besser: Anti-Kriegstexte.
Menschen hungern, Menschen fliehen, Menschen sterben. Kinder verlieren ihre Eltern und Eltern ihre Kinder. In unserer Autorengruppe kamen die Texte gut an.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (25.07.20)
Die Gutmenschenhölle. Exzellent beschrieben.

 DanceWith1Life meinte dazu am 25.07.20:
Bis jetzt hielt ich das für Kritik, aber es ist etwas anderes. Sehr interessant.

 Buchstabenkrieger antwortete darauf am 27.07.20:
Danke fürs Lesen und Kommentieren, Dieter

Und natürlich auch für das Lob und die Empfehlung.

„Gutmenschenhölle“ finde ich klasse. Passt haargenau.
Ich überlege schon, dies als Titel zu nehmen, wenn du nichts dagegen hättest

LG, Buchstabenkrieger

 Buchstabenkrieger schrieb daraufhin am 27.07.20:
DanceWith1Life,

Danke auch dir für deine Zeit und den Kommentar.

Ja, etwas anderes. Aber was deiner Meinung genau?
Würde mich interessieren.

Danke und
LG, Buchstabenkrieger
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