Café au lait

Erzählung zum Thema Reisen

von  Moja

Eine dichte Wolkendecke zieht am Nachmittag über den leuchtend blauen Himmel, schirmt die Glut der Sonne ab, das gleißend grelle Licht verschwindet. Staubschwaden ziehen durch die Allee. Helens Augen brennen. Es ist drückend heiß und schwül zugleich. Der feine Staub dringt in jede Pore, reibt und klebt auf der schweißnassen Haut. 

Langsam schlendern Helen und ihr Mann Boubacar den Prachtboulevard entlang, der direkt zur Medina führt. Durstig geworden suchen sie nach einem Straßencafé. Ihre Zungen kleben am Gaumen. Aus dunklen Hauseingängen bewegen sich Schatten auf sie zu, leise Zurufe, stechende Blicke. „Haschisch, Marihuana, Gras, was wollt ihr?“, zischeln die Stimmen. Fordernd streckt sich ihnen eine dunkle Hand aus einem weiten, lose hängenden Ärmel entgegen, die ein kleines Päckchen umklammert. „Rauchen ist gut!“, raunt ihnen eine andere tiefe Stimme fast unhörbar und melodiös zu. Unbewegt stehen die Männer, verschmelzen beinahe mit ihrem Hintergrund, etwas Lauerndes vibriert in jedem Hauseingang. Schlanke Finger bewegen sich grazil in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Helen schaut wie hypnotisiert in ihre Richtung. Eine leichte Benommenheit breitet sich über sie. Durst, Hitze und die drückende Atmosphäre lähmen sie.

Schweigend flüchten sie in ein Café am Rande der Medina. Schmale Tische, bunte Wachstuchdecken, klebrige Abdrücke von Teegläsern, sie sind die einzigen Gäste. Ausdruckslos stellt der Wirt eine silberne Kanne vor ihnen ab, es duftet nach Pfefferminze. Er zieht sich hinter die Kasse zurück. Angewidert betrachtet Boubacar die klebrigen Teegläser mit den frischen Minzblättern und sieht vorwurfsvoll zu ihr auf. Helen trinkt gierig von dem heißen Tee. Sie fühlt ein Stechen im Mund, so ausgedörrt ist sie. Der Wirt stellt einen silbernen Teller mit gesalzenen Mandeln und kleinen in Goldpapier verpackten Bonbons auf den Tisch. Auf einem blauen Keramikteller serviert er verschiedene Kekse, Mürbeteig mit Marmeladenfüllung, Sesam in Honig. Helen kostet alles durcheinander. Der Geschmack ist eine Entdeckung, salzig, süß und zugleich scharf, stellt sie verblüfft fest.

Ihr Mann sitzt mit dem Rücken zum Eingang, sein Blick schweift durch den staubigen Raum über die fleckigen Postkarten an den Wänden. Hinter einer Glasvitrine stecken auf grauen Samtpolstern kleine Metallabzeichen und Münzen aus aller Welt. Ein staubiges Sammelsurium hat hier zusammengefunden. Im Halbdunkel des Raumes erscheint Helen der blendend helle Türausschnitt wie der Ausgang aus einer Höhle. Zögernd nippt Boubacar am Tee, versucht das Glas dabei kaum zu berühren. Die Süße und Schärfe des Tees erfrischen sie beide wohltuend.

Boubacar lehnt sich zurück, die Augenlider halb geschlossen wie morgens beim Frühstück im Hotel. Wie ein Fremder kommt er ihr vor, so selbstverloren in diesem ihm fremden Land. Helen fühlt sich verlassen wie zu der Zeit als sie ein kleines Mädchen war, plötzlich allein vor einer Bäckerei stand und sich fürchtete. Nur er konnte auf diese Weise einfach vor ihren Augen verschwinden und sie allein zurücklassen.

Sie konzentriert sich auf die Szenerie draußen. Männer nähern sich dem Eingang, blicken ihr unverschämt in die Augen, drehen unverhohlen ihre Köpfe, bis sie aus ihrem Blickbereich verschwindet. In ihren Armen beginnt es zu kribbeln. Sie versucht es auszuhalten, wendet das Gesicht zur Seite, ärgert sich über ihre Hilflosigkeit, zwingt sich empört den Blicken standzuhalten. Wut steigt in ihr auf, gibt ihr Kraft. Sie fühlt eine ungeahnte Verachtung in sich wachsen. Gegenüber in einem Straßencafé schlürfen alte Männer ihren Pfefferminztee. In allen Cafés hat sie nur Männer wahrgenommen, bis auf wenige Touristinnen sicherlich.

Kleine Jungen eilen mit Baguette-Broten unter dem Arm nach Hause. Eine Frau in einem roten Gewand fegt ihr Haus. Helen schaut einer alten Frau nach, die weiß verschleiert einen Zipfel des Umschlagtuches zwischen die schmalen Lippen presst, die Augen niedergeschlagen, vorübergeht. Gruppen lärmender Touristen mit wabbligen Bäuchen unter farblosen T-Shirts, würdelosen kurzen Hosen, albernen Hüten, Bauchtaschen und umgehängten Kameras, schlendern vorbei. Händler stürzen hinter ihren Ständen hervor, stecken schnell einen von ihnen eine Flöte oder ein Stoffkamel in die Hände. „Geschenk“, rufen sie eindringlich, verneigen sich und nennen einen Preis. Andere halten die Touristen am Arm fest und bedrängen sie mit Ledertaschen, die sie ihnen an den Körper drücken oder halten ihnen geöffnete Parfümflaschen unter die Nase. Dabei gestikulieren sie wild mit den Armen und reden in Bruchstücken verschiedener Sprachen lautstark auf sie ein.

Aus der ruhigen Distanz, in der sie sitzt, verfolgt sie das Spiel, das sich hemmungslos vor ihr entfaltet. Die Händler sind aufdringlich und unverschämt zugleich, sie dulden die fremden Menschen in ihrer Stadt. Skrupellos tauschen sie für schmutziges Geld ihre gegenseitige Verachtung aus. Jeder bekommt, was er gibt, kommt ihr in den Sinn, während ihr Mann dem Wirt ein paar Dinar in die Hand drückt. Als sie aus dem Café treten, versperrt ihnen ein Händler den Weg. Er mustert ihren Mann abschätzig, dann sieht er sie lange an. Seine Augen huschen flink hin und her, verraten seine Gedanken aber nicht. „Heute machen wir Karneval“, sagt er herausfordernd, ein verächtlicher Zug umspielt seinen Mund. Sie ist sich nicht sicher, ob er ihnen gilt oder der Maskerade des Marktes.

Sie verlassen die Medina und den Souk, und weichen in die engen Gassen zur Seite aus. Ihr Mann blickt stur geradeaus aus, seine Gesichtsmuskeln sind angespannt, sie kennt diesen Ausdruck seit Tagen an ihm. Eine stille Wut zerrt an ihm, er setzt die Kopfhörer seines Walkmans auf und klinkt sich einfach aus. Erstaunt über sich selbst, denkt sie mit einem leichten Anflug von Zufriedenheit: So fühlte ich mich manchmal in deinem Land.

Jemand beobachtet sie von hinten, sie spürt es deutlich wie einen heißen Fleck auf ihrem Rücken und dreht sich gespannt um. Der Händler steht noch am gleichen Platz, jetzt dicht mit zwei anderen Männern zusammengedrängt. Abrupt unterbrechen sie ihr erregtes Gestikulieren und starren sie schamlos an. Eine Mischung aus Verachtung, unverhohlener Neugier, Begehren trifft sie. Sie wendet sich ab, fühlt das Kleben der Blicke wie Schmutz auf ihrem Kleid.

Je tiefer sie in die engen Gassen vordringen, desto kleiner und staubiger werden die Geschäfte, bis sie überhaupt nicht mehr erkennen können, was diese Geschäfte anbieten, wozu sie eigentlich dienen. Ihr ist zumute, als ob sich unbekannte Räume eines größeren Lebens vor ihr öffnen, zu denen sie bisher keinen Zugang hatte. Hier gibt es keine arroganten Touristen mehr, für die Schmierenkomödien aufgeführt werden. Unvorstellbarer Plunder lagert hinter staubblinden Scheiben auf und übereinander, eine Dürftigkeit, die auch von einer Armut ohne Würde kündet, breitet sich vor ihnen aus. Es gibt weder Kunden noch Verkäufer. Staubfahnen ziehen vor ihnen her.

Die weißgetünchten Häuser stehen so eng beisammen, dass die Straße dazwischen wie ein Korridor durch zwei Räume führt. Fröhliches Stimmengewirr dringt aus den Häusern. Fetzen arabischer Musik hängen in der Luft. Helen nimmt schwere süßliche Gerüche wahr, nach überreifem Obst, Essensdünste, Jasmin, arabisches Öl, Pfefferminz, der scharfe bittere Geruch roter Erde zieht sie magisch an. Sie atmet tief ein und fühlt sich sonderbar erregt. Eine unbekannte Lust steigt in ihr auf, sich tagelang durch die Gassen treiben zu lassen. Ein Staunen wie in einem Rausch erfasst sie, das sich in einen heftigen Schmerz verwandelt, der dem Begehren gleicht. Sie spürt Geheimnisse, in denen sie sich verlieren möchte.

Wie ein Zauber wirkt die Fremde auf sie, befreit sie von ihren Erinnerungen, sie vergisst sich selbst darüber. Die Fremde wird zum Ziel, in der sie sich neu erfindet. Sie brennt innerlich, während sie an den alten Männern, die vor den Haustüren miteinander plaudern, vorübergehen. Sie erkennt nicht, so sehr hat sie sich in ihren Träumen und Sehnsüchten verfangen, die Blicke der Alten, die sie und ihren Mann für Exoten halten. Boubacar trägt ein schönes schwarzes, afrikanisches Hemd bedruckt mit einem Goldmuster, das weit über seine langen Hosen fällt und seine dunkle Haut zum Leuchten bringt. Sie zieht eine lange Strähne ihres blonden Haares, die der Wind verweht hat, von seinen Rastalocken. Belustigt rufen die Männer ihnen hinterher: „Café au lait!“


Anmerkung von Moja:

02.08.2020 (Überarbeitung)

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Kommentare zu diesem Text


 AvaLiam (02.08.20)
Da habe ich mich beim Lesen doch gleich in den Straßen von Kelibia gefunden.
Man bestellt heutzutage im Übrigen immer "to go" aus Gründen der Hygiene. :D

Mir gefällt dieses Detailgetreue, das mich mitnimmt, vor Ort, ins Café, mir die Stadt zeigt, die Menschen; die Mentalität näher bringt, ohne zu beschönigen und doch ohne endgültige Ablehnung.
Eine völlig andere Welt - die gerade für Frauen - sehr herausfordernd sein kann. Und er, in dessen Land sie einst die Fremde war, vermag nicht, sie zu schützen, zu stärken.

Die "Fremde" bricht mit dem durchaus angebrachten Gefühl von Unbehagen und lässt sich auf die Magie von 1001 Nacht ein.
Lernt sich selbst neu kennen.

Ich mag die Szene - den Erzählstil - und den Blick in die Ferne sowieso.

I like it.
LG - Ava

 Moja meinte dazu am 03.08.20:
Bedanke mich herzlich für so viel Lob, liebe Ava!

Gestern war wohl der richtige Tag, um die Erzählung, an der ich schon länger arbeite - immer wieder kürze, streiche, dem Geschriebenen nachlausche, ob es nicht doch kitschig daherkommt - fertigzustellen, bei Milchkaffee und bitterer Schokolade.

Also: Freude für die Augen - wie die Tunesier sagen.

Grüße Dich,
Moja

 Regina (02.08.20)
Zwischen Abscheu und Traum im Orient. Sehr realistisch beschrieben. LG Gina

 Moja antwortete darauf am 03.08.20:
Ja, genau, Gina, zwischen Anziehung und Abstoßung getrieben von Illusionen spielt sich die Szenerie ab.

Danke Dir und grüße zurück,
Moja
Sätzer (77)
(02.08.20)
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 Moja schrieb daraufhin am 03.08.20:
Wenn die Geschichte bei Dir an eigene Erinnerungen rührt, hat sie schon was gebracht, Sätzer, danke und lieben Gruß, Moja
Al-Badri_Sigrun (61)
(02.08.20)
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Sätzer (77) äußerte darauf am 02.08.20:
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 Moja ergänzte dazu am 03.08.20:
Herzlichen Dank für Dein Einlassen auf meine Geschichte, liebe Sigrun, und Deinen ausführlichen Kommentar.

Besonders wichtig war mir, die verschiedenen Perspektiven herauszuarbeiten, ich zweifelte lange daran, ob es mir gelingen würde und überarbeitete den Text immer wieder. Auch befürchtete ich in eine kitschige Fassung abzurutschen.
Nun ist er wohl fertig und ich bin ermutigt, auch an meine anderen Erzählungen Hand anzulegen. Schauen wir mal...

Lieben Gruß,
Moja

 AchterZwerg (02.08.20)
Ich kenne eigentlich nur Bobby Car, aber einen guten Fußballspieler lasse ich mir schon auch gefallen. Besonders, wenn der für die Eintracht spielt!

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Ansonsten erinnert mich die Story stark an Tanger, eine Stadt, die ich sehr mag und früher oft besucht habe. Meist allein.

Irgendwie eine schmutzige Perle. Aber eine, die kleine fliegende Fische beherbergt und deren leicht fauliger Duft unnachahmlich ist.

Und ich erinnere mich gut an die Eigenarten der Männer, die ihre Frauen an den Mauern herumschleichen lassen, einer Europäerin aber durchaus mit Respekt zu begegnen wissen. Andererseits habe jene eine eigene Kultur, die sich vorwiegend auf den Dächern Bahn bricht.

Und dann die "Wertigkeit" heller Haut - nicht anders als bei uns ...

Gleichwohl nostalgische Grüße
der8.

 Moja meinte dazu am 03.08.20:
Von Bobby Car und Fußball habe ich keinen blassen Schimmer, macht nichts, lieber 8., aber mit den Dächern von Tanger schlägst Du bei mir eine nostalgische Seite an - Paul Bowles, die hypnotisierenden Gnaoua-Klänge, Farbrausch & Düfte - na, lassen wir das.

Dieses ungleiche Paar auf der Reise in ein fremdes Land - was ist exotisch, aus welcher Perspektive gesehen, Vorurteile en masse gespiegelt, keiner fühlt sich wohl in seiner Haut; eine Europäerin in einem arabischen Land würde Respekt erfahren, wäre da nicht der schwarzafrikanische Ehemann - nicht anders als bei uns, ich stimme Dir zu.

Unprätentiöse Grüße vom Berliner Meer,
- endlich angekommen -

Moja

 EkkehartMittelberg (02.08.20)
hallo Moja, ich kenne sehr viele orientalische Städte aus unterschiedlichen Ländern und finde, du hast das Typische des Ambiente und der Menschen getroffen. Freilich muss man einräumen, dass sich mit zunehmender touristischer Erfahrung auf beiden Seiten die Unterschiede verringern. Aber die Grundsubstanz des Exotischen wird immer erhalten bleiben.
Liebe Grüße
Ekki

 Moja meinte dazu am 03.08.20:
Vielen Dank, lieber Ekki,
dass Du Dich auf diese Reise eingelassen hast.
Das Andere, das Fremde verlockt oft auf ambivalente Weise.

Liebe Grüße,
Mjao
Fisch (55)
(02.08.20)
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 Moja meinte dazu am 03.08.20:
Stell den Eimer mit den preiselnden Beeren einfach auf den Balkon, Fisch, ich setz dann schon mal Kaffeewasser auf....
Das Wichtigste wäre geklärt - Kitsch oder nicht.
Deine kostbare Zeit ist mir heilig.

Abaraka für den fetten Lorbeer!
Moja
Stelzie (55)
(03.08.20)
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 Moja meinte dazu am 03.08.20:
Schön, dass Du mitgekommen bist, liebe Stelzie,
danke und lieben Gruß,
Moja

 franky (03.08.20)
Hi liebe Moja,
Möchte mich Kerstins Kommentar anschließen. Bin gerne mit dir durch die schmalen Gassen gezogen und habe all die Eindrücke im Geiste miterlebt.

Liebe Grüße

Von Franky

 Moja meinte dazu am 03.08.20:
Das freut mich natürlich ganz besonders, lieber Franky, ich habe auch extra alle Doppelstriche entfernt - barrierefrei sozusagen.

Lieben Dank und Gruß,
Moja

 harzgebirgler (19.04.21)
...doch den teint von mischlingskindern
wird das überhaupt nicht mindern.

lg
harzgebirgler

 Moja meinte dazu am 20.04.21:
Dein Wort in Gottes Gehör!
Danke Dir, grüße zurück,
Moja
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