Nur relative Wahrheiten taugen

Anekdote zum Thema Helden

von  eiskimo

Im Dorf Bonnard hat man begriffen, dass man den Touristen etwas bieten muss, sollen diese denn  in größerer Zahl auftauchen und auch einmal länger bleiben.
Bürgermeister Chabert  hatte in seiner ersten Amtszeit, gegen den zähen Widerstand der Konservativen, den Zwei-Sterne-Campingplatz und die Boules-Bahn anlegen lassen, bevor er jetzt als weitere Öffnung des Dorfes die systenmatische Markierung der Wander- und Mountainbike-Wege propagierte. Immerhin 48 Kilometer unterschiedlichster Parcours, von flachen dorfnahen Teilstücken bis hin zu anspruchsvollen Segmenten mit reichlich Höhenmetern.
Paradestück im neuen Wege-Programm: Der Gipfel von Les Places, gelb-rot trassiert, mit dem schönen Aussichtspunkt „L´Orme de Chailly“, zu deutsch: Die Ulme von Chailly. Ein ideales Wanderziel, denn von diesem – im wahrsten Sinne – Höhepunkt aus ist der in vielen Wanderführern  beschriebene Pilgerweg Vézelay-Cluny erreicht – die halbe Welt läge damit Bonnard buchstäblich zu Füßen.....
...wenn nicht,ja, wenn nicht die Ulme von Chailly gar keine Ulme wäre, sondern in Wahrheit eine Linde ist!
Seit Generationen steht dieser mächtige Baum da oben am Kreuzungspunkt früher einmal wichtiger Verbindungswege. Denn da war die Straße nach Creux noch nicht gebaut, und auch Le Mont war nur zu Fuß erreichbar gewesen, durch den Wald, an der „Ulme“ von Chailly vorbei. Generationen von Bauern, Schulkindern, Jägern oder Pilzesammlern wussten natürlich – und sahen es, wenn sie daran vorbei mussten! - diese Ulme war keine Ulme, es war und  ist eine Linde.
Und alle diese Passanten, die dort an der falschen Ulme die Aussicht genossen, rasteten, spielten oder einfach nur vorbei wanderten, die nahmen diese Fehlbezeichnung hin, akzeptierten diese als gegeben, hatten sich auch daran gewöhnt, denn sie wussten ja auch um die wahre Natur des Baumes. Jedenfalls hatte sich deswegen nie einer verlaufen, hatte es nie fatale Verwechslungen mit tragischem Ausgang gegeben, und schon gar nicht war einer zum Bürgermeister gegangen, um den Irrtum endlich aktenkundig zu machen, nicht zu Jean-Claude Chabert und schon gar nicht zu einem seiner Vorgänger.
Jetzt aber, mit der für alle Welt dokumentierten Ausschilderung und den in Tausender-Auflage vervielfältigtem Wanderführer von Bonnard, stellte sich in aller Dringlichkeit und Schärfe die Frage ….der Wahrheit!
Durfte man sehenden Auges einfach diese Unkorrektheit übernehmen und damit gewissenlos verewigen? Schlimmer noch: Durfte man mit dieser historischen Schuld  einfach Gelder der Europäischen Union zur Förderung des Tourismus in strukturschwachen Regionen in Anspruch nehmen – also das Vertrauen von 26 Partnerländern skrupellos missbrauchen?
Jean-Claude Chabert wusste: Mit dem Ansturm der Touristen wäre das Generationen alte Stillhalte-Abkommen um die falsche Ulme nicht länger zu bewahren. Die im modernen Trekking bewanderten Pilger und  mit GPS-Sendern ausgerüsteten Outdoor-Spezialisten würden den Schwindel von Bonnard gnadenlos entlarven; deutsche Oberstudienräte mit Rotstift-Mentalität  kämen aus dem Kopfschütteln gar nicht heraus, es ginge durch die Medien, ein Shitstorm sondergleichen würde sich über sein Dorf ergießen. Und er, der diesen kartographischen Frevel zugelassen hatte, Jean-Claude Chabert, er stände schutzlos am Pranger.
Nein, so weit sollte es nicht kommen. Jean-Claude hatte nächtelang nachgedacht. Allein. Denn was er tun musste, um aus diesem Dilemma heraus zu kommen, konnte er nur allein tun. Diskret.
Und so ging er eines nachts hoch zu Les Places. Der Mond schien helle. Nein, er hatte keinen Strick bei. Nein, wegen eines lexikalischen Fehlers muss man sich nicht theatralisch aufhängen. Schon gar nicht an einer falschen Ulme.
Nein.  Er hatte einen dicken Filzstift mit, einen echten Permantschreiber. Und mit dem malte er im fahlen Mondlicht vier kleine Striche. Anführungszeichen unten und Anführungszeichen oben. Und zwar links und rechts des Wortes „Ulme“.
So macht man aus einer falschen Wahrheit eine relative Unwahrheit. Oder umgekehrt. Und  Jean-Claude Chabert waltet weiter seines Amtes. Relativ entspannt.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (24.08.20)
hallo Eiskimo, du hättestdie anregende Anekdote auch unter "Abaurdes" veröffentlichen können.
LG
Ekki

 eiskimo meinte dazu am 24.08.20:
Boinjour, Ekki!
Ja, das hat auch viel Absurdes. Anführungsstriche helfen doch immer wieder. Humor auch...
lG
Eiskimo

 ViktorVanHynthersin (24.08.20)
Auf der Homepage des Forstbotanischen Gartens und Pflanzengeographisches Arboretum der Universität Göttingen steht u.a.: "In Südfrankreich nimmt die Ulme die Stellung unserer Linde ein, sie gelten [sic!] als “Baum der Gerechtigkeit“. Unter ihrem Schatten wurde Recht gesprochen und Gottes Wort verkündet." So gesehen, sind die Anführungsstriche mehr als gerechtfertigt.
Herzlichst
Viktor

 eiskimo antwortete darauf am 25.08.20:
Hey, das ist ja mal eine Info! Damit relativiert sich meine Geschichte ja noch einmal! Danke"
Eiskimo
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