Weiterfahren

Erzählung

von  minze

Wenn wir mit dem Auto fahren, merke ich, dass er zu müde ist. Papa fährt schon lange und es ist spät. Er nickt kurz ein. Mir ist schlecht. Sein Mundgeruch verbreitet sich ungeniert im Auto. Mein stilles Herzklopfen teilt sich nicht mit, auch wenn ich glaube, mein Leben zu riskieren, ich sag nichts. Ich will ihn nicht in Frage stellen, ich lass es laufen. Es ist gefährlich, wie das eine Mal, als er aus der Garage fuhr und ich noch dastand, eine Tasche zu mir nahm. Ich musste damals aufschreien und er hob die Schultern, in seinem Gesicht las ich, dass es doch keine Absicht sei – ich glaube ihm. Danach war ich beschämter über mein Schreien, als über seine Unaufmerksamkeit. Was hätte ich anderes tun können? Ich vermisse ihn schon lange, schon alle vielen Kinderjahre, dass sich das Vermissen kaum aufholen lässt. Auch wenn wir langsam neue Kontakte haben, jetzt, ich rühre an ihm. Er merkt es manchmal, er schaut mich manchmal an. Es fehlt ihm die Präsenz, eine Aufmerksamkeit im Jetzt. Ich erinnere ihn daran, wenn ich dabei bin. Ich spreche deutlich, warnend oder lege die Hand auf seine Schulter. Ich möchte seine wirren Ausflüchte einfangen können, ich will aus dem Summen etwas klären, dass es klingt, in einem Wort. Wenn er redet und keinen Satz zu Ende führt, mache ich es für ihn. Ich bringe es zu einem sicheren Ende hin. Das sind die Momente, in denen er mich ganz klar ansieht und sich bedankt. Ich nenne die Überbegriffe von neuen Themen, die er anfängt, ohne vorzuwarnen, ohne die vorherigen Dinge beschlossen zu haben. Aber manchmal bin ich zu müde. Oder auch nicht da, dann habe ich die Befürchtung, dass in den meisten Momenten seines Alltags, an dem ich nicht teilhabe, viele Menschen verunglücken oder verunglücken können, oder weniger schlimm, er in Missgeschicken verschluckt wird. In der akuten Situation, jetzt, setze ich die Statistik unserer Ausflüge und Urlaube gegen alles: wir haben es bisher immer überlebt, auch, wenn Mama nie fährt. Dieses neue Mal wird es auch gut gehen. Ich denke, er will diese eine Sache gut machen, gut erfüllen. Es ist seine Pflicht und er kommt damit klar, weil keiner redet und alle ihn machen lassen. Es ist zu viel, sag es . Er hat früh am Morgen, nach dem Zeitungslesen, das Frühstück gemacht, war arbeiten, eine halbe Stunde länger, hat alleine das Auto beladen. Keine Zeit zu duschen und zum Zähne putzen. Es stinkt und er würde nicht nein sagen. Ich sah ihn gähnen beim Abendessen. Da dachte ich, dass wir verrückt sind, das alles so mitzuspielen, dieses Risiko einzugehen, nur weil es die Regel sein soll in unserer Familie. Es ist einfacher, als irgendetwas umzustellen, was eine fremde Dynamik auslöst. Ich warte darauf, dass ich im richtigen Moment auf ein Nebenleben umsteige und zurückspulen kann, meine inneren Systeme langsam reinigen und querverlegen kann oder irgend so. Sobald ich diese Autofahrten überstanden habe. Papa putzt seine Zähne nicht besser, nicht, solange der Zahnarzt nicht zu sehr schimpft. Oder aber seine Zähne haben schon so ein Innenleben. Ich bekomme zu wenig Luft, so wenig sagt er. Ich will mit ihm sprechen. Langsam lerne ich etwas über Politik, wir haben in der Schule jetzt Gemeinschaftskunde. Das macht ihm Spaß. Ich werde Zeitung lesen. Wir werden diskutieren. Ich sage ihm, er müsse die Kindersicherung herausnehmen, ich will das Fenster aufreißen, sofort. Er reagiert nicht. Ich überlege, ob er träumt, ob ich ihn antippe oder ihm den Moment lasse.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

PowR.TocH. (58)
(14.09.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 minze meinte dazu am 14.09.20:
Freu mich sehr sehr über dein Feedback. danke dir.

 drmdswrt (23.09.20)
Eine intensive Momentaufnahme. Das zieht tief in die Situation, und ich habe mich, da ich immer extrem schnell durch Texte fliege, stark ein- und ausbremsen lassen, weil dieser Text das mit dem Leser macht. Und das war gut so.

 minze antwortete darauf am 23.09.20:
Hey, danke für dein spezifisches Feedback zur ähm nennen wir es Dramaturgie und zur inneren Gestaltung dieser Szene. Irgendwie war ich mir während des Schreibens unsicher,ob es banal sein könnte und danach fand ich auch, dass Einiges drin ist. Und deine Rückmeldung hierzu ermutigt! LG
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram