Nostoc

Geschichte zum Thema Natur

von  Jedermann

Wir schlagen das letzte Lager auf. Die bodenkundliche Exkursion durch den europäischen Teil Russlands endet hier. Mehr als 2000 km trennen uns vom ersten Exkursionspunkt. Nach den mehrwöchigen Fahrten durch die russische Weite werden wir uns nun die typischen Böden der Trockensteppe anschauen.
Wir sind mit einem Bus unterwegs. Der hat bereits eine Million Kilometer hinter sich. Die Fahrer verweisen darauf voller Stolz, schließlich: es ist ein Mercedes, der in Israel ausrangiert wurde und nun hier eingesetzt ohne Zwischenfälle fährt; abgesehen vom gelegentlichen Festfahren. Unser Verpflegungsbus, ein kleiner Bus aus russischer Produktion, scheint ebenso unverwüstlich und kann unter Ersatzteilgewinnung an nahezu jedem Schrottplatz repariert werden. Bei so einer Gelegenheit unterstütze ich den Fahrer. Ich erkläre, dass ich früher mal Schlosser gelernt habe. Das ich handwerklich nicht begabt bin, erwähne ich natürlich nicht. An der Gangschaltung ist eine Gelenkstange gebrochen und Unterlegscheiben sind verbogen. Wir finden den Schrottplatz im Dorf, durchwühlen die Metallansammlungen und werden fündig. Da der Fahrer tatsächlich etwas von Reparatur versteht, bin ich mit meiner Assistenz eigentlich überflüssig, aber er freut sich riesig über meine Hilfe. Das erfahre ich dann ganz besonders am abendlichen Lagerfeuer. Wir stoßen an und als er angetrunken ist, umarmt er mich; die drei Wochen zuvor haben wir kein Wort gewechselt, und jetzt ich bin sein хороший друг , товарищ. Ja, das ist die russische Seele. Sie offenbart sich bei Wodka in der unendlich weiten Steppe. Wir befinden uns nördlich von Wolgograd.
Stell dich auf einen Eimer oder auf irgend etwas anderes und schaue in die Runde! Endlose, schwermütig flache Wermutsteppe, egal in welche Richtung du blickst. Da kann man ja nur schwermütig sein.
Am späten Abend hört man knattern. Schwere Motorräder nähern sich unserem Lager. Junge Russen aus dem nächsten Dorf fahren die Maschinen. Einige der Maschinen besitzen Beiwagen, sind Oldtimer aus dem II. Weltkrieg. Die jungen Russen zeigen was sie draufhaben und fahren waghalsig, zeigen ihre Kunststücke. Zum Kontakt und Austausch kommt es jedoch nicht. Sie halten Abstand und verschwinden dann wieder so schnell wie sie gekommen sind.
Am nächsten Tag geht es los, wir graben unsere Profile, und beschreiben die Böden nach systematischen Merkmalen. Das Wermutkraut duftet. Da kommt T. mit einer Frage zu unserem Exkursionsleiter. Er fragt ihn, warum so viele kleine schwarze Stückchen, Plättchen zwischen den Wermutpflanzen liegen! „Brennt es denn hier öfter?“ J. lächelt, er freut sich offensichtlich über die Frage. „Hat denn jemand einen Schluck Wasser übrig?“, fragt er in die Runde. Eine angefangene Wasserflasche wird gereicht und J. gießt ein wenig über ein dunkles Plättchen im Schraubverschluss der Wasserflasche. „Wir schauen uns das Plättchen in 15 Minuten an und dann erkläre ich euch das Experiment“, sagt er.
Er ruft uns zusammen und zeigt das Ergebnis der Wasserbenetzung. Im Schraubverschluss befindet sich nicht mehr das dunkle unscheinbare Plättchen. Darin liegt ein grüner gallertartiger aufgequollener Körper. Wir haben soeben mit Nostoc, einer Gattung der Cyanobakterien Bekanntschaft geschlossen. Nostoc-Kolonien können über die gesamte Oberfläche Wasser oder Wasserdampf aufnehmen. Sie können Niederschläge, Tau und Nebel schnell nutzen, sie haben aber keine Möglichkeit, das aufgenommene Wasser später gegenüber der nicht voll wasserdampfgesättigten Luft auch festzuhalten. Sie sind reine Quellkörper, deren Dasein zwischen Perioden aktiven Lebens im durchfeuchteten Zustand und Perioden latenten Lebens im Zustand der Austrocknung in völliger Abhängigkeit von den jeweiligen Umweltbedingungen schwankt.
Die Nostoc gehören also zu einem ganz besonderen Reich, sind weder Pflanze noch Tier; zum Reich der Bakterien. Bakterien sind überall, nur sind sie nicht so groß, als dass man sie mit bloßen Auge wahrnehmen könnte. Bakterien sind Einzeller, die auf und unter der Erde, auf und in Organismen und auch in Gesteinen leben. Bewusst wahr nehmen wir die Bakterien eigentlich nur, wenn wir krank werden oder Zahnschmerzen haben. Die Wahrnehmung beruht aber eigentlich ausschließlich auf der Tatsache, dass wir gelernt haben, dass zu viele Bakterien bestimmter Stämme nicht gut für unseren Körper sind. Dabei trägt jeder Mensch zwei Kilogramm gute Bakterien durch sein Leben.
Wie verhält es sich mit der Unsterblichkeit? Wir hoch komplexen Zellhaufen altern, verschrumpeln bis zur Unansehnlichkeit und haben so viele Schmerzen, dass wir – meistens – nicht traurig sind, dass das Leben endet. Von uns bleibt etwas auf der Welt durch unsere Kinder – meistens. Das Bakterium teilt sich einfach und ist somit potenziell unsterblich – meistens – wenn es nicht zerdrückt oder gefressen wird oder einen anderen Tod stirbt.
Natürlich habe ich in der Trockensteppe gleich mal zwei Probensäckchen mit diesen kleinen dunklen unansehnlichen Plättchen gefüllt. Ein Jahr war vergangen, da hatte ich die erste Gelegenheit, die Fähigkeit von Nostoc vorzuführen. Es funktionierte hervorragend, etwas Wasser und Sonne und die Zellfäden wurden aktiv. Die anderen Stücke verblieben im Plastiksack für weitere fünfzehn Jahre, dann erinnerte ich mich wieder an die These der potenziellen Unsterblichkeit der Bakterien und wollte jetzt auch wissen: wie verhält es sich mit der Wiederauferstehung? Packt mich in die Plastiktüte und ich habe mein Potenzial zur Wiederbelebung nach einer Minute verspielt! Im heißen Frühsommer 2018 bei knalliger Sonne und knochentrockener Luft startete ich die Reaktivierung meiner Nostoc-Proben. So ein Plättchen benötigte gerade mal 30 Sekunden, schon war der angebotene Wassertropfen gleicher Größe aufgenommen. Nach ca. fünf Minuten hatte es seine größte Ausdehnung erreicht und der Gallert-Haufen färbte sich grün und blieb viele Stunden stabil bis die Austrocknung begann und das Gekröse immer kleiner, unansehnlicher und am Ende, nach der Trocknung unter intensiver Sonneneinstrahlung wieder ein dunkles Plättchen wurde.
In einer Publikation las ich, dass ein Sammlungsexemplar, welches bereits mehr als hundert Jahre im Schubkasten lag, zum Leben erweckt werden konnte. Schade das mir nicht die Zeit bleibt, dieses mit meinen gesammelten Exemplaren zu überprüfen. Aber meine Kindeskindeskinder könnten sich der Sache annehmen, schließlich könnten solche Organismen auch zum Terraforming eingesetzt werden. Oder gibt es dann bessere, technische Hilfsmittel um die Sauerstoffproduktion z. B. auf dem Mars anzugehen?


Anmerkung von Jedermann:

Die Wiederbelebung habe ich in einem Video dokumentiert:
 Reanimation of Nostoc sp.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (12.10.20)
Ich finde den Einstieg recht sperrig und wenig einladend, dann liest es sich aber geschmeidig.

 Jedermann meinte dazu am 13.10.20:
Danke für die Empfehlung!
Wieviel vom Anfang wirkt auf dich sperrig? Betrifft das den ersten oder auch den zweiten Absatz?

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 14.10.20:
Nun ja, die ersten fünf Sätze sind ziemlich redundant, das würde ich auf zwei Sätze eindampfen, knackiger machen. Sachen wie "schwermütig" solltest Du nicht vorgekaut ausgegeben, das muss der Leser selbst erkennen können.

 Jedermann schrieb daraufhin am 14.10.20:
Gut, schaue ich mir dahingehend an
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