Ein Diebstahl, der mich besonders schmerzte

Anekdote zum Thema Verlust

von  EkkehartMittelberg

Ich vermute, dass Sie alle schon einmal in ihrem Leben bestohlen wurden. Vielleicht sogar mehrere Male wie ich.
Ich lockte Diebe an, weil ich leichtsinnig war, und habe das schnell vergessen, weil die Verluste meine Existenz nicht gefährdeten. Aber dann beschloss ich doch, mich zu ändern und vorsichtiger zu sein. Das war vor einer Reise nach Lissabon, einer wundervoll poetischen Stadt, aber bekannt auch für überdurchschnittlich viele Diebstähle.
Ich kam mit meinem Kegelclub um Mitternacht in Lissabon an und hatte viel Bargeld im Portemonnaie. Das wollte ich sogleich bis auf einen kleinen Betrag in den Safe meines Hotelzimmers geben. Aber just in dem Moment kam ein Anruf aus der Rezeption: Ich solle mich beeilen, man habe noch Abendessen für uns vorgehalten. „Okay“, dachte ich, „morgen früh ist auch noch Zeit, das Geld sicher wegzuschließen.“
Am anderen Morgen wollte ich gerade meinen löblichen Vorsatz ausführen, doch wiederum meldete sich die Rezeption: “Rapido, alle sitzen schon im Bus für die Stadtrundfahrt, nur Sie fehlen noch.“ Ich steckte also nolens volens die Geldbörse in meine Gesäßtasche, weil ich meinen Brustbeutel daheim vergessen hatte.
Nach der Stadtrundfahrt wollten wir auf eigene Faust mit der Stop and Go-Bahn Lissabon weiter erkunden und ich saß auf einer Bank, um auf diese zu warten. Dabei bemerkte ich, dass ich von einer ungewöhnlich attraktiven Frau beobachtet wurde, die mir auch durch die Härte ihrer Gesichtszüge auffiel. Unnwillkürlich griff ich auf meine Gesäßtasche und vergewisserte mich, dass das Geld noch da war. Dann reihte ich mich in eine lange Warteschlange ein, da die Ankunft der Bahn bevorstand. Ich gewahrte noch, dass die Schöne mit dem harten Blick sich hinter mir einreihte, verlor sie dann aber aus den Augen, weil meine Kegelbrüder mich ablenkten.
Sie hatten meine Aufmerksamkeit nur für kurze Zeit abgezogen und ich befand mich in der Bahn, wo ich schnell wieder nach meinem Geldbeutel tastete. Doch es war schon zu spät. Ob nun die Grazie mit dem stahlharten Blick, die verschwunden war,  tatsächlich die Diebin war, spielte jetzt keine Rolle mehr. In dem Portemonnaie befand sich auch mein Ausweis, den ich mit dem Geld verloren hatte. Wie gut, dass ich mich in Gesellschaft meiner Kegelbrüder befand, die mir aushalfen, bevor ich mir neues Geld und einen Ersatzausweis besorgte.
Am Nachmittag des selben Tages bummelten wir durch eine belebte Geschäftstraße der potugiesischen Hauptstadt. Da kam mir eine bitterlich weinende Frau entgegen, der das Gleiche passiert war wie mir, mit dem Unterschied jedoch, dass sie Alleinreisende war und sich die Reise vom Munde abgespart hatte, wie sie erzählte. Wir konnten ihr über die ersten Schwierigkeiten hinweghelfen.                                                                                                           
Bei der portugisischen Polizei erfuhr ich, dass mir ein Brustbeutel wahrscheinlich auch nichts genutzt hätte, da die Diebe äußerst geschickt seien, dessen Schnur mit einer Rasierklinge zu durchtrennen. In den ersten Stunden war ich über den Verlust von Geld und Ausweis vor allem deshalb sehr betroffen, weil ich zum ersten Mal besonders vorsichtig sein wollte und durch die beschriebenen Umstände daran gehindert wurde. Doch angesichts des noch größeren Unglücks der untröstlichen Alleinreisenden verschmerzte ich meinen bedeutenden materiellen Verlust und war bald wieder in der Lage, die Schönheiten Lissabons zu genießen.

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Kommentare zu diesem Text

INS (55)
(24.10.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.20:
Merci, Ins, wenn ich nicht den stahlharten Blick der Frau bemerkt hätte, wäre ich nicht misstrauisch geworden und hätte den Verlust erst viel später registriert. Wer immer der Dieb war, er muss Feeenhände gehabt haben, denn ich war ja gewarnt.
LG
Ekki

 Moja (24.10.20)
Glück im Unglück widerfuhr Dir, lieber Ekki, zum Glück warst Du nicht allein, bekamst gleich Hilfe. Ein unachtsamer Moment - Verführung pur - schon war es geschehen. Den Verlust hast Du in eine Geschichte umgewandelt, sozusagen vorab "bezahlt", was mir ein Schmunzeln entlockt - und mich daran erinnert, wie ich in Lagos überfallen wurde, aber das ist eine andere Geschichte.

Liebe Grüße,
Moja

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.10.20:
Grazie, Moja, wir haben uns so sehr an Diebstähle gewöhnt, dass wir die Reaktion auf Vorsichtsmaßnahmen reduzieren. Es ist nur noch wenig von hilflosen Opfern die Rede, wie zum Beispiel von dieser verzweifelten alleinstehenden Frau. Du hast recht. Mein Verlust war im Vergleich dazu gering, da ich sofort Hilfe erfuhr.
Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (24.10.20)
gelegenheit macht diebe allerorten
und selten schliessen sich gefängnispforten
mal hinter solchen listigen konsorten.

lg
henning

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.10.20:
Merci, Henning, mir scheint, die öffentliche Meinung ist sich darin einig, dass die Strafverfolgung von Diebstählen (auch wegen überfüllter Gefängnisse) zu liberal ist. Gleichwohl ist mit einer Änderung nicht zu rechnen.
LG
Ekki

 AZU20 (24.10.20)
Geld und Ausweis zu bewahren habe ich auch in Lissabon meiner Frau überlassen- wie immer. Und das ist und war gut so. LG

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.10.20:
Merci, Armin. Du tust gut daran. Mir fehlte mein Schutzengel in Lissabon.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (24.10.20)
Ein wenig Selbstbetrug steckt da ja schon dahinter. Aber das ist gleich, wenn es funktioniert und du so mit dem Verlust besser umgehen konntest.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 24.10.20:
Danke, Trekan. Ja, manchmal ist ein wenig Selbstbetrug hilfreich.

 Jorge (24.10.20)
Ich glaube, jeder/jede kann eine Strophe dieses Liedes singen.
Keiner sollte glauben: So etwas passiert mir nicht!

LG
Jorge

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.20:
Das stimmt, Jorge. Jeder kann bestohlen werden. Freilich hat die Victimologie (Erfoschung von Opferverhalten) festgestellt, dass potentielle Opfer Diebe zum Beispiel dadurch anlocken, dass sie sich ängstlich auf ihre Gesäßtasche greifen.
LG
Ekki

 Graeculus (24.10.20)
Eindringlich geschildert. Nichtmal ein Brustbeutel hätte geholfen? Der muß dann aber doch von der Brust weggezogen werden ...
Die müssen viel Übung haben, diese Taschendiebe. Eine eigene Kunst.

Auch vor Italien sind wir gewarnt worden. Aber die einzigen, die gestohlen haben, waren unsere Schüler: die Türschilder im Hotel.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.20:
Merci, Graeculus. die Kunst der Taschendiebe wird sehr detailliert beschrieben bei Charles Dickens: "Oliver Twist", auch sehr lesenwert als Schilderung der englischen Klassengesellschaft.

 TassoTuwas (25.10.20)
Hallo Ekki,
man weiß ja, Taschendiebstahl gibt es überall, wo viele Menschen sind, also was soll die Aufregung.
Wenn man aber selbst der Bestohlene ist, hinterlässt das schon eine große Bestürzung und die Frage, wo habe ich nicht aufgepasst, bin ich so leicht auszutricksen?
Einen Trost gibt es, Taschendieb ist kein Beruf mit Zukunft, wo doch das Bargeld abgeschafft werden soll.
Herzliche Grüße
TT

Kommentar geändert am 25.10.2020 um 00:04 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.10.20:
Vielen Dank, mein Freund, mit diesem tröstlichen Hinweis habe ich nicht gerechnet.
Herzliche Grüße
Ekki
Agnete (66)
(25.10.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.10.20:
Merci für deinen empathischen Kommentar, Monika. Wie schade, dass du mich in der Warteschlange nicht beschützen konntest.
LG
Ekki

 Didi.Costaire (25.10.20)
Tja Ekki, so etwas möchte man nicht erleben und es kann doch jedem passieren.
Schade übrigens, dass du so spät davon schreibst. Ich hätte der Polizei ansonsten   ein Phantombild zur Verfügung stellen können.

Liebe Grüße,
Dirk

Kommentar geändert am 25.10.2020 um 16:24 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.10.20:
Spassibo, Dirk, das Phantombild trifft die Schöne genau, Ihr Medusenblick hätte die Polizei erstarren lassen. :)
Liebe Grüße
Ekki
Al-Badri_Sigrun (61)
(30.10.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.10.20:
Merci, liebe Sigi, du beschreibst die Gefühle nach dem Diebstahl zutreffend. Ja, ich war wütend, mehr noch auf mich selbst als auf die Täterin. Aber die Wut wich, als ich diese arme, unglückliche Frau traf, der es noch viel schlechter ging als mir.
LiebeGrüße
Ekki

 Mondscheinsonate (19.11.20)
Ich habe deine Geschichten so gern, die leben.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.20:
Grazie, das freut mich sehr.
LG
Ekki
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