Spengelhof on my Mind. Peter Freys Geschichte von der Sonnenfinsternis.

Kommentar zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Willibald

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30. Juni 1954: Sonnenfinsternis. Peter Frey.

Ohr und Wange

Samstag, 14.11., 2020, morgendliche Zeitungslektüre. Der Blick gleitet in den Münchner Teil der Süddeutschen Zeitung. "Dunkle Sonne"  ist der Titel eines  langen Berichtes von Bernd Kastner. Es geht darin um  den Spengelhof, ein Münchner Kinderheim, ein Waisenhaus der evangelischen Kirche in Freimann, in den Fünfzigerjahren: „Spatzengruppe“, „Hauseltern", Erzieherinnen („Tanten"),  die Sonnenfinsternis vom 30. Juni 1954. Ein kleiner Junge. In der SZ (mit geändertem Namen): Peter Frey, heute ein Mann in den Siebzigern.
Ein Bericht über den aktuellen  Umgang der evangelischen Kirche mit einem Opfer der Kinderheimerziehung in den 50er Jahren. Dunkle Sonne.SZ.

Seltsam, die anskizzierte  Kindheits-Geschichte da (sie wird von Bernd Kastner in Auszügen zitiert), die kenne ich doch? Als Gesamttext. In Internet war sie für begrenzte Zeit  zu lesen. „Peter Frey“  hantierte mit feiner Feder, ich habe mir viele seiner erzählenden Texte auf die Festplatte gezogen. Spitz, sehr spitz seine Feder in Kommentaren und Kommentaren zu Kommentaren. Er hatte diese Geschichte unter dem Titel „Die Sonnenfinsternis“ in verschiedenen Literaturforen eingestellt (nicht in kV). Dann wurde sie – Querelen unterschiedlichster Art  – zurückgezogen, der Autor „verbannt“. Die Geschichte ist wieder da. 1954, 30. Juni, eine Sonnenfinsternis ist angesagt. Der siebenjährige kleine Junge, Wäschenummer 53, Mitglied der „Spatzengruppe“ im Waisenhaus Spengelhof, wartet  begeistert auf das Schauspiel, aber  nein.

Wie hatte ich mich auf diese Sonnenfinsternis gefreut und wie enttäuscht war ich, als wir erfuhren, dass die „Spatzengruppe“ nach dem Essen nicht nur wie gewohnt ins Bett müsste, sondern dass, schlimmer noch, Tante Erie die Aufsicht habe.

Obwohl ich noch so jung war, hatte ich schon gelernt, dass es keinen Sinn machte, sich laut gegen Unvermeidliches aufzulehnen oder leise für sich selbst mit dem Schicksal zu hadern. Ich hatte mich noch nicht aufgegeben, sondern erkannte, bei aller Dunkelheit des Tunnels, in den man mich immer wieder steckte, das winzige Licht am Ende. Es waren keine konkreten Vorstellungen, die ich mir dabei machte, sondern nur die Zuversicht, dass die dunklen Momente etwas Vorübergehendes seien und es nur darauf ankäme, das Ende der jeweiligen Durststrecke zu erreichen.

So würde es auch an diesem letzten Juninachmittag sein. Ich würde mich im Bett einigeln und auf meinen Körper achten – statt zu denken oder gar zu trauern, würde ich meine Atemzüge und meine Herzschläge zählen und versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren, würde erstarren und zu etwas werden wie der kleine, steinerne Elefant draußen in der Grünanalage der Anstalt, der auf seinem Rücken einen Blumenkübel voller Geranien schleppte und ein immer gleiches Gesicht schnitt, sommers wie winters.

Dass Tante Erie vor meinem Bett Halt gemacht hatte, hörte ich nicht – ich witterte es. Es war der Geruch ihrer gestärkten, weißen Schürze, der ihrer Haut und ihres Atems, der nach etwas roch wie aufgeweichtem Brot. Ich versuchte, gleichmäßig weiter zu atmen, nicht zu zittern und die Augen nicht zuzupressen, obwohl ich Angst vor dem Schlag hatte, der wohl unweigerlich auf mich niedersausen würde.

Der traf mich dann so unglücklich auf das linke Ohr, dass mir das Trommelfell platzte. Dass es entzwei gegangen sein musste, kam mir erst nach Jahren, als ich mich an den lang anhaltenden, stechenden Schmerz zurückerinnerte und daran, wie es in meinem Ohr danach immer wieder warm geworden war, wenn ich die Nase zuhielt und Luft in die Gehörgänge drückte. Ich sagte es aber niemandem, weil ich Angst hatte, geschimpft zu werden und noch mehr Schläge zu bekommen.

Nach ein paar Wochen war der Riss wieder zugeheilt. Aber die Sonne, die mir danach schien, war nicht mehr die gleiche wie zuvor. Sie trug einen Schleier, auch wenn sie ganz hoch stand und die Luft klar war. Sie blieb trüb, und ich wusste lange nicht, ob es an der Sonne läge oder an mir selbst. Erst später wurde mir bewusst, dass ich diese partielle Sonnenfinsternis in meinem Inneren trug und immer dabei haben würde.


Eine Heimgeschichte, offensichtlich autobiografisch getönt, mit fixierbaren Orts- und Zeitangaben, in der Ich-Form geschrieben, faktual, nicht fiktional. Als Anhang der Geschichte ein  Appell an den evangelischen Landesbischof Bedford-Strohm, eine versöhnliche Geste zuzulassen/zu initiieren:

Während ich dies schrieb, malte ich mir aus, was Bedford-Strohm wohl antworten oder wie er sich wohl verhalten könnte, um nicht in einen Konflikt zu geraten, sondern tatsächlich beiderseits inneren Frieden zu schaffen. Es schien mir, als ob es dafür nur einer Handbewegung und ein paar einfacher Worte bedürfte. Ich stellte mir vor, der Bischof würde mir sacht über die linke Wange streichen und fragen „Was könnte ich tun, damit Sie uns zu vergeben bereit sind?“

Und ich würde antworten: „Es genügte, dass Sie mich so berührten und auch all den anderen Opfern ebendiese Frage stellten. Das wäre schon alles, denn es geht nicht um Rache oder Genugtuung, sondern um Versöhnung. Dazu braucht‘s oft nur ein Wort und einen liebenswerten Handschlag.“
„Und das wäre wirklich alles?“, würde Bedford-Strohm fragen.
„Fast“, hörte ich mich sagen. „Wie wär’s denn, wenn Sie diesen Text, so oder ein wenig anders, jedenfalls aber anonym, in einer der nächsten Ausgaben Ihres ‚Evangelischen Magazins‘ brächten?“


Energie und Poesie

Selten, sehr selten, dass sich in solchen Lebensgeschichten Energie und Resilienz behaupten können. Die Geschichte trägt den Leser in das Bewusstsein des siebenjährigen Kindes und des erwachsenen Erzählers. Erlebte Rede – man behandle die germanistischen Aspekte im Folgenden  mit Nachsicht – handwerklich sauber gebaute erlebte Rede ohne Künstelei:

So würde es auch an diesem letzten Juninachmittag sein. Ich würde mich im Bett einigeln und auf meinen Körper achten – statt zu denken oder gar zu trauern, würde ich meine Atemzüge und meine Herzschläge zählen und versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren, würde erstarren und zu etwas werden wie der kleine, steinerne Elefant draußen in der Grünanalage der Anstalt, der auf seinem Rücken einen Blumenkübel voller Geranien schleppte und ein immer gleiches Gesicht schnitt, sommers wie winters.

Im Konjunktiv „würde“ kündigt sich versteckt ein Irrealis an, die Planung versagt. Geschlossene Augen, die Nase meldet die Nähe von Tante Erie, der Schlag auf das linke Ohr. Das Standbild des stoischen Elefanten verblasst, die „punktuelle Sonnenfinsternis“ im Inneren wird ein ständiger Begleiter. Festgeschrieben?

Texte wie „Die Sonnenfinsternis“ lassen sich als „literarische Reportage“ verstehen, als „Wirklichkeitserzählung“, als „new journalism“. Faktizität ist gesetzt, aber nicht der trockene Bericht.  Vielmehr die Erlebniswelt eines erzählenden  Ichs. Sie  öffnet sich für Empathie,  sie vermittelt das Sehen von Fremdem mit eigenen Augen  Emotionale Einfühlung in ein Ich wird oft als Kitsch oder als fruchtlose Sentimentalität apostrophiert: „Glotzt nicht so romantisch“, hat  Bert Brecht gesagt.

Vorsicht ist bei solchen Verdammungsurteilen geboten. Die  Formulierung „partielle Sonnenfinsternis in meinem Inneren“ ist keine kurzfristig wirksame  Lesepassage, sie bleibt haften, auch weil sie im Titel  angekündigt war und den Titel neu auflädt.  Und auch der Elefant  als Erinnerungsbild und Verhaltensmodell  (1) ist nicht absolut disqualifiziert, von der bösen Geschichte disqualifiziert. Erstarrung und Totstellreflex sind nicht ausschließlich im Elefantenbild angesagt. Dem Elefanten spricht man ein ungeheures Gedächtnis zu,  er ist in der Gruppe kooperativ, er kann wütend verteidigen, er kann trauern. Die Geschichte vom Spengelhof ist aufgezeichnet, sie überdauert den Augenblick, sie nistet sich im Gedächtnis des Lesers ein, sie aktiviert die Disposition des Menschen zu Sensibilität und Mitleid, sie lässt uns partizipieren, fühlen und  verstehen.  Der „Blumenkübel voller Geranien“ mag  ein abgestandenes Bild für die florale Poesie sein, und Brecht würde wohl angewidert die Stirn runzeln, aber  Peter Freys Geschichte vom Spengelhof und der Sonnenfinsternis ist Poesie im besten Sinne des Wortes. Sie kann  den Stoff geben, der die Horde dazu befähigt, Gesellschaft zu werden.
Spengelhof on my mind.

(1) Wer mag, kann ein bisschen googeln, neuere Ansätze zur literarischen Sprache:  concept, frame, script, Spiegelneuronen.



 Spengelhof

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (17.11.20)
imit -> mit

 Willibald meinte dazu am 17.11.20:
Jou, gratias.
ww

Antwort geändert am 17.11.2020 um 12:20 Uhr
Nimmer (45)
(17.11.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Willibald antwortete darauf am 18.11.20:
Mit herzlichem Dank an nimmer, franky und achter für die Empfehlungen.


 Quoth (21.11.20)
Lieber Willibald, mir fiel sofort der Streit um das berühmte Foto Robert Capas ein (fallender Soldat im span. Bürgerkrieg). Die Poesie des Todes wird den Verdacht nicht los, inszeniert zu sein. Die Poesie des Schmerzes im Text von Frey ist fraglos vorhanden - aber ist nicht alle Poesie immer auch ein bisschen fiktiv?
Fühlte mich in den Anfang der wunderbaren Serie "The Queen's Gambit" versetzt - die ist eindeutig fiktiv - und sagt dennoch in ihrer ersten Folge unendlich viel über den evangelischen Umgang mit Waisenkindern aus.
Danke für Deine Empfehlung. Würde mich freuen, wenn Du mir per Kommentar verrietest, was Dir an dem Text gefiel! Gruß Quoth

 Willibald schrieb daraufhin am 22.11.20:
Lieber Quoth,

ich weiß nicht, ob "alle Poesie ein bisschen fiktiv" ist. Mir scheint die Grundbedeutung von "fiktiv" doch zu sein, dass zentrale Elemente eines Textes nicht in der Wahrnehmungswelt gelagert sind.

Nun ist es nach heutigem Verständnis durchaus evident, dass Sagen, Märchen und ähnliches nicht als faktual verstanden werden. Anders ist es bei "realistischen", "nicht phantastischen" Erzählungen. Hier kann je nachdem, ob etwa ein Untertitelsignal wie "Roman" gesetzt wird oder nicht, der Leser im Unklaren bleiben, ob es sich um eine "Wirklichkeitserzählung" handelt oder nicht. Allerdings dürfte in Narrativen, in denen der Erzähler unmittelbaren Einblick in Fremdpsychisches hat, schnell klar sein, dass dieses Erkenntnisvermögen nur in einem fiktiven Raum möglich ist.

Dort allerdings, wo das menschliche Erkenntnisvermögen auf die eigene Innenwelt und auf die unmittelbar zugängliche Außenwelt bezogen ist, lässt sich eben ohne explizite Hinweise etwa auf der Ebene von Genettes "Paratexten" die Dominanz des Faktualen oder des Fiktionalen nur schwer unterscheiden, weil nicht erkennen. Das hängt auch damit zusammen, dass Narrative eben gerne Erlebniswelten präsentieren und dabei auf poetische Mittel wie Metaphern, Abweichung von der Alltagssprache, Sprache der Erlebnisperspektive mit reichen Denotationen, Konnotationen, Bilder und ähnliches zurückgreifen. Man denke etwa an die klassischen Reportagen
von Kisch.

Das heißt aber nicht, dass wir Prototypen des Faktualen und des Fiktionalen vernachlässigen können. Und natürlich findet sich ein breites Spektrum in der Genrewelt. - und zweifellos sind Mischformen spannend und intressant:
Handkes "Wunschloses Unglück", Capotes "In cold Blood", Knausgarth "Autofiktion"....

Bei Peter Freys Text spricht sehr viel für einen faktualen Text jenseits von Robert Capas Bild. Die Zeit- und Ortsangaben sind verifizierbar, der Text wurde an den evangelischen Landesbischof gesandt mit dem Ersuchen um eine Geste der "Genugtuung" und der Bitte um den (narzissmusminimierten, anonymen) Abdruck in der evanglischen Zeitschrift "Chrismon". Offensichtlich wollte man aber dort nur "eigene Texte von Redakteuren" bringen, so der Bericht der SZ. Etwas absonderlich ist diese Begründung, weil in der Zeitschrift Chrismon durchaus "fremde Federn" ihre Rolle spielen dürfen.

Ziemlich verkopft, aber doch am Platze ist eine Analyse dieser Frey.Passage:

Während ich dies schrieb, malte ich mir aus, was Bedford-Strohm wohl antworten oder wie er sich wohl verhalten könnte, um nicht in einen Konflikt zu geraten, sondern tatsächlich beiderseits inneren Frieden zu schaffen. Es schien mir, als ob es dafür nur einer Handbewegung und ein paar einfacher Worte bedürfte. Ich stellte mir vor, der Bischof würde mir sacht über die linke Wange streichen und fragen „Was könnte ich tun, damit Sie uns zu vergeben bereit sind?“

Und ich würde antworten: „Es genügte, dass Sie mich so berührten und auch all den anderen Opfern ebendiese Frage stellten. Das wäre schon alles, denn es geht nicht um Rache oder Genugtuung, sondern um Versöhnung. Dazu braucht‘s oft nur ein Wort und einen liebenswerten Handschlag.“
„Und das wäre wirklich alles?“, würde Bedford-Strohm fragen.
„Fast“, hörte ich mich sagen. „Wie wär’s denn, wenn Sie diesen Text, so oder ein wenig anders, jedenfalls aber anonym, in einer der nächsten Ausgaben Ihres ‚Evangelischen Magazins‘ brächten?


Hier wird eine vorgestellte Situation geschildert, ein Wunsch des Erzähler-Autors. Bei Und ich würde antworten: „Es genügte, dass Sie mich so berührten und auch all den anderen Opfern ebendiese Frage stellten. sind die Konjunktive noch gut erkennbar, auch wenn sie einem Indikativ Präteritum formal nahestehen. Allerdings ist bei [ i]„Fast“, hörte ich mich sagen. „Wie wär’s denn, wenn Sie diesen Text, so oder ein wenig anders, jedenfalls aber anonym, in einer der nächsten Ausgaben Ihres ‚Evangelischen Magazins‘ brächten?[/i] das "hörte ich mich sagen" bereits aus der Imagination in eine Wunscherfüllung gerückt, ansatzweise. Ein bisschen. Fiktive und faktuale Narrative aktivieren wohl in einem besonderen Maße die humanoide Disposition, sich in fremdes Bewusstsein zu verorten, so beim Leser. Empathie, Mitfreude, Mitleid, Mitfühlen, Mitverstehen. Und der Autor gewinnt sehr wahrscheinlich Freude und Glück, im Bewusstsein solche Mentalen Prozesse mit zu initiieren, wenn er Erlebniswlten zeichnet oder eine Parabel paradoxer Art baut, wie sie die Spalierobstmauer ist. Der Gott, der die Spiegelneuronen entwickelt hat, setzte für die Aktivierung einen Glücksbonus aus. Was meinst Du?

Walter Tevis hat vor langer Zeit schon die Romanvorlage zu realistischen Film-Narrativen geliefert: "Haie der Großstadt", "Die Farbe des Geldes", jetzt also das das "Damengambit". Hier ist das "Wunderkind" nach dem Freitod der Mutter im Keller des "Waisenhauses" mit dem Hausmeister konfrontiert und lernt beim Zusehen die Schachregeln und kann seine mürrische Abweisung mit brillanter Intelligenz mildern. Wahrscheinlicher wird dieses Scriptkonzept dadurch, dass man kurz ein Mathematikbuch des Vaters sieht und so auf ihre Begabung schließen kann. Der fade, pietistische Unterricht wirkt realistisch, die eher gewaltfreie Erziehung auch.



Beste Grüße
ww

Antwort geändert am 23.11.2020 um 09:53 Uhr

 Quoth äußerte darauf am 23.11.20:
Vielen Dank für Deine ausführliche Entgegnung, Willibald. Es gibt von Peter Härtling eine Betrachtung über das Foto von Capa (in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen) - noch bevor der Verdacht aufkam, es könne inszeniert sein.
Wenn ich ein Gedicht mit oder ohne Reime über einen beliebigen tatsächlichen Vorgang schreibe, füge ich ihm via Form, Reim, Rhythmus, Zäsuren etwas hinzu und "verfälsche" ihn. Das meine ich mit Fiktion! Gruß Quoth

 Willibald ergänzte dazu am 23.11.20:
Dann heisst dein rhetorischer Frage-Satz also soviel wie " Ist nicht alle Poesie ein bisschen fiktiv (im Sinne von: poetisch-rhetorische und/oder poetisch-lyrischen Spezialitäten als Zusatz, welche die Normalsprache zwar auch aufweisen kann, aber in gewiss anderer Frequenz und Dignität)?" Und Gedichte fallen unter den Fiktionsbegriff?
Beste Grüße
ww
p.s.
In klassischen juristischen Texten findet sich wie Du weisst auch der Fiktionsbegriff.....Aber genug der Rabulisterei.

Genuin or staged? So die Frage bei Capas Foto. Diese Art der Frage steht dem Fiktionsbegrff im Sinne der literarischen "Erfindung" nahe.

The superb chess of Grandmasters Robert Fischer, Boris Spassky and Anatoly Karpov has been a source of delight to players like myself for years. Since The Queen’s Gambit is a work of fiction, however, it seemed prudent to omit them from the cast of characters, if only to prevent contradiction of the record. (Vorwort Walter Tevis)

Antwort geändert am 24.11.2020 um 13:52 Uhr

 Quoth meinte dazu am 25.11.20:
Mir fällt dazu noch ein, gelesen zu haben, dass Schiller dem Charakter Wallensteins in seiner Geschichte des 30jährigen Krieges nicht so nahe gekommen sei wie in seinem Drama in Blankversen. Wenn das stimmt, können Inszenierung und Poesie also das Tatsächliche nicht nur verfälschen, sondern auch ergründen und treffender machen. Daher wohl Goethes Titel für seine Lebenserinnerungen "Dichtung und Wahrheit".

 Willibald meinte dazu am 10.12.20:
Zweifellos kann Fiktion sich der Wahrheit von Wallenstein und anderer historischer Figuren in einem besonderen Maße nähern. Aber bleiben wir noch einmal etwas genauer bei dem "Standardbegriff" von "Fiktion", auch wenn das hoffentlich nicht rechthaberisch wirkt:

Gibt es also überhaupt eine Möglichkeit, anhand textinterner Belege zu erkennen, ob ein Text Fiktion oder Sachbuch ist? Der Philosoph John R. Searle stellte mit Nachdruck fest, dass es keine gibt: "[t]here is no textual property, syntactic or semantic, that will identify a text as a work of fiction".

Searles Bemerkung ist häufig zustimmend zitiert worden, aber Dorrit Cohn hat eine wichtige Ausnahme identifiziert, die in der Freiheit der Fiktion von der Referenzfunktion wurzelt:

Wo sich dieser interne Beweis der Fiktionalität zeigt? Bei den Vorrichtungen zur Übermittlung unausgesprochener Gedanken und Gefühle, die dem Verfasser der Fiktion zur Verfügung stehen, dem Historiker aber streng genommen nicht zur Verfügung stehen.

Da die Erzählerfigur von Fiktion ein fiktionales Mittel ist, das nicht durch das Geschehen in der realen Welt eingeschränkt ist, kann sie alles wissen, was ihr Schöpfer ihr mitteilen möchte, und sie kann, wenn ihr Schöpfer es wünscht, genau sagen, was eine Figur denkt. Aber der Erzähler einer Geschichte ist, wie Cohn betont, kein Gerät, das vom Autor bedient wird, sondern tatsächlich der Autor, der auf der Titelseite als solcher identifiziert wird. Wenn er sich die Dinge nicht ausdenkt, kann ein Historiker nicht auf die gleiche Weise wie ein Erzähler in der Fiktion über das Innenleben seiner "Untertanen" berichten oder aufzeichnen.

Aber die Bitterkeit machte ihn plötzlich krank, und es war, als ob er in der Wahrheit, in der Grausamkeit seines Bildes, auf schreckliche Weise sah, was bestimmt und getan worden war. Er sah den Dschungel seines Lebens und sah die lauernde Bestie; dann, während er blickte, nahm er sie wahr, wie durch ein Rühren der Luft, wie durch einen gewaltigen und schrecklichen Aufstieg für den Sprung, der ihn beruhigen sollte. Seine Augen verdunkelten sich - es war nahe; und in seiner Halluzination drehte er sich instinktiv um, um dem auszuweichen, und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf das Grab.

Nun, in Henry James' Novelle "Das Tier im Dschungel" würden alle möglichen Alarmglocken läuten, wenn man sie in einem Text findet, der behauptet, Geschichte und nonfiction zu sein.
Es gibt viele solcher Passagen indirekten Denkens (Gedankenbericht), sowie Passagen freien indirekten Denkens und innerer Monologe in Romanen und Kurzgeschichten, die man mit wenigen Ausnahmen nicht in faktualen Geschichten und Biographien findet. Cohn hat also Recht in ihrer Auseinandersetzung mit Searle, zumindest was bestimmte Mittel im Diskurs der Fiktion betrifft. Solche Passagen sind Zeichen innerhalb des Textes, dass wir Fiktion lesen.

Hätte Searle jedoch nur ein Wort geändert und geschrieben: "Es gibt keine textliche Eigenschaft, syntaktisch oder semantisch, die einen Text als Sachbuch und nonfiction identifiziert", hätte er Recht gehabt. Auch Metaphern oder Elemente des "hohen Stils" ändern daran wenig.

Was nicht auf Fiktion hinweist, kann ohne weiteres Element von Sachbüchern sein. Das liegt daran, dass die Fiktion mit ihrer Freiheit jedes einzelne Mittel, das man im Sachbuch finden kann, imitieren und dennoch Fiktion bleiben kann.



Antwort geändert am 10.12.2020 um 12:00 Uhr

 LottaManguetti (25.11.20)
Die Sonnenfinsternis als reales Erlebnis und zugleich als Metapher. Und ich mag im selben Atemzug nicht einmal sagen, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Hier schreibt es eine eindringliche Geschichte, die einerseits persönliche Erinnerungen konnotiert, andererseits eine Diskussion darüber entstehen lässt, ob die nicht von der Hand zu weisende und gleichzeitige Poesie berechtigt sein darf.
Ich glaube, das ist genau die Absicht solcher Texte. Deshalb gestatte ich mir persönlich diese Empfindungen, vergesse aber nicht die geschilderte Realität. Zudem betrachte ich als "Selberschreibende" den Umgang mit Wörtern und Sätzen, mit Semantik, Untertönen, Zwischengedanken ... in obigem Text: beider Autoren. "Des einen Verdruss scheint des anderen Genuss" trifft dies allerdings nicht in der Form, dass ich von allen richtig verstanden werde. Deshalb lasse ichs bei Gesagtem und merke an: Text und Kommentare haben mich sehr gefesselt.

:-)

Mit Gruß
Lotta

 Willibald meinte dazu am 25.11.20:
Grüße Dich, Lotta!

Die Faszination für das Erzählen, sei es fiktiv oder faktual, hat wohl damit zu tun, dass die Evolution einen Bonus aussetzt für Empathie und das Lesen von "mind". Damit lässt sich Intrige aber auch kooperatives Handeln gut voranbringen.

Danke für Kommentar und Empfehlung dieses Fadens.
greetse
ww



Antwort geändert am 25.11.2020 um 16:07 Uhr

 Thomas-Wiefelhaus (07.12.20)
Das zwanghafte sich Einigeln kenne ich gut aus dem Schlafsaal in dem ich mit 14 Jahren war. Mich erschreckt, wenn 7-jährige Kinder diese Technik anwenden, die ich eher älteren zuordne.

Die Gefühle eines starken furchtlosen Elefanten, in dieser Situation kann ich mir eher schlecht vorstellen: Ich bin jedenfalls ein ängstlicher Igel geblieben!

Das Kind mit den Augen eines Erwachsenen betrachtet, birgt die Gefahr der Entfernung, des nachträglichen Aufsetzens von Bildern, Gedanken und Interpretationen.
Eine Verfremdung des realen Erlebens.

Ich bin neugierig auf die weitere Geschichte von Peter Frey (eine Namensgebung, die sicher häufig vorkommt?) geworden. Ein ganzes Buch in diesem Stil könnte ich mir aber nicht vorstellen.

Hätte auch gerne mehr zu den "Querelen unterschiedlichster Art" erfahren.

Kommentar geändert am 07.12.2020 um 13:28 Uhr

Kommentar geändert am 07.12.2020 um 13:32 Uhr

 Willibald meinte dazu am 07.12.20:
Grüsse Dich, Thomas

der kleine, steinerne Elefant in Peters Geschichte scheint mir eher für stoische Ertragen zu stehen und Ausklammern von Emotionen bis hin zum Gesichtsausdruck, weniger für Störke und ähnliche Attribute.

Der Peter Frey, der in Literaturforen wie Leselupe, Gedichte und Geschichten agierte, konnte sehr wütend und scharf werden. Sowohl gegenüber Kommentaren und ihren Schreibern, als auch gegenüber der Forenleitung.

greetse
ww

Antwort geändert am 07.12.2020 um 15:11 Uhr

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 07.12.20:
Richtig, der Elefant ist eine Bild für den Versuch des Ertragens. Man versucht Emotionen auszublenden, es gelingt nicht. (Ich selber habe geschrieben: legte eine starren Panzer um die Seele.)
Er steht für: sich nicht unterkriegen lassen!
Und er steht für den späteren Umgang mit dem Erlebten.

Hätte mir noch ein Bild gewünscht, dass den tatsächlichen augenblicklichen Zustand beschreibt, nicht den Versuch oder Wunsch ein Elefant zu sein.

Werde wohl mal auf die Suche nach Peter Frey gehen ...

Antwort geändert am 07.12.2020 um 15:24 Uhr

 Willibald meinte dazu am 07.12.20:
Er agierte in Foren als aligaga, salvelina, anjou....

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 07.12.20:
Danke für den Tipp!
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