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Gttata 

Tqata

Episches Theaterstück zum Thema Welten

von  Terminator

1. Novaja Tkejta


- Ich habe von einem Lied geträumt.
- Erinnerst du dich an den Text?
- Verstehst du Russisch?
- Ja.
- Das Lied ging so:
А там и такие есть
а там и такие о нет
а там и не такие есть
а там и не такие понюхать.
- Und wie heißt das Lied?
- Tkejta.
- Wovon handelt es?
- Von den Spezialagenten Pikass und Kreuzdame, die Opa beim Kartenspielen am Schummeln hindern wollten.
- Wann hast du es geträumt?
- Am 10.11.2015. War da Vollmond, oder warum fragst du?
- Bitte? Man hört hier wieder so schlecht, und die Musik ist scheiße.
- Gehen wir woanders hin. Oder nach Hause?
- Ja, ich bin schon müde.
- Dann sehen wir uns Ende Januar wieder.

Es gibt keine UFOs. So weiß kann kein Mädchen sein. Ich ist ein guter Namensersatz, wenn der Name nicht genannt werden will. Nehmen wir an, es war ich, der im Winter 1993/94 irgendetwas gesehen hat, und sich gewünscht, es möge den kleinen Jungen auf einen anderen Planeten entführen, aber da war gar nichts. Im Sommer 2005 sah ich ein Mädchen, aber ein UFO kam wieder nicht. Für den Philosophen ist der kategorische Imperativ selbstevident, und Gott unbeweisbar, für den Fanatiker existiert sein Gott, und die Moral ist willkürlich. Ich bin kein gläubiger Mensch, also halte ich mich an empirische Tatsachen. Eine empirische Tatsache ist klein und zierlich, zart und zerbrechlich, der Arm wird zur Schulter nicht dicker, der Arsch ist dezent. Kann so etwas von der Transzendenz verlassen sein? Ich hatte nicht genug getrunken, um diese Erscheinung halluziniert zu haben, aber zu viel, um so aufmerksam sein zu können, wie die Situation es erforderte. Ihr Haar, ich werde verrückt.

Als Außenseiter hatte es Carl, ja, mit C, nicht leicht in der Schule. Dann kamen diese Evangelikalen, und wollten ihn in ihren Gebetskreis aufnehmen. Ich hörte, wie die Oberglucke des Gebetskreises, eine großzügig gebaute junge Frau aus der 10. Klasse, zu Carl sagte: „Hier sind alle gleich, hier musst du dich nicht schämen, weil du anders bist“. So ging es weiter in mehreren Paraphrasen, ich hörte zufällig mit, und übergab mich fast. Warum bedeutet anders automatisch schlechter? - ging mir damals durch den Kopf. Carl war Außenseiter, ich war Alien. Aber UFOs gibt es nicht. Glaubst du an Gott? Dann hör zu: es gibt keinen Gott. So fühlt es sich für mich an, dass es keine UFOs gibt. Als Anmaßung, wenn ich meine, die Negation bestreiten zu können, und trostlos, wenn ich diesen Gedanken zulasse. Carl begann, mächtig Sport zu treiben, verwandelte sich in einen prächtig aussehenden Hengst, und fand alsbald seine Stute. Auch ein schönes Mädchen interessierte sich für Carl, aber er ignorierte sie. Ich wollte sie nicht trösten, als ich mit ihr sprach, aber die Güte kam dann doch durch, und ich hörte den lieblichen Tränen zu:

- Bin ich vielleicht nicht groß genug?
- Muss denn ein schönes Mädchen groß sein?
- Carls Freundin ist groß, sie ist so athletisch, sie hat einen coolen Arsch, sie hat große Brüste; sie ist so schön gebräunt, und ich bin klein und blass und habe keine Titten.
- Kleine, nicht keine.
- Was hast du gesagt? Weine nicht, Kleine? Du bist gemein. Die Natur ist gemein. Warum beschenkt sie diese Schlampe so üppig, und lässt mich eine graue Maus sein?
- Findest du sie wirklich schön?
- Du nicht? Bist du etwa schwul? Kein Wunder bei dir, ich habe dich noch nie mit einem Mädchen gesehen. Warum kann ich nicht so aussehen wie sie? Egal, dafür ist sie langweilig im Bett.
- Woher willst du das wissen?
- Ach, es stimmt einfach. Aber du hast sowieso eh keine Ahnung.

Im schöneren Körper wohnte kein schönerer Geist, sie waren alle gleich, unabhängig vom Körperbau. Auch wir Jungen waren alle gleich, bis auf einen, der Amok lief, aber leider nicht an meiner Schule. Er hatte zwar dieselben Wertvorstellungen wie ich, aber er zweifelte nicht, er war sich völlig sicher. Als der erste Zweifel sein geistiges Kartenhaus zusammenbrechen ließ, tötete er drei Lehrer, fünf Jungen und zwei Mädchen, und danach sich selbst. Er war in ein Mädchen verknallt, eines wie diese graue Maus, die mir vorgejammert hatte, eine Stute sei schöner als eine Elfe. Heute sind beide so schön unglücklich, haben je zwei Männer finanziell ruiniert, und wollen schwanger werden. Zum Glück funktioniert es nicht, eine komplizierte gynäkologische Angelegenheit, aber vom zu geringen Belang, so dass wir nun zu Carl übergehen. Aber: schön für die nicht geborenen Kinder.

- Carl?
- Lange nicht gesehen... äh... egal, mir fällt dein Name jetzt nicht ein. Egal, kannst du mir 20 Euro leihen?
- Seit wann lebst du denn auf der Straße?
- Lange Geschichte. Egal. Schön, dass du auch in Berlin bist. Was machst du denn so? Egal. Komm, gib mir nen Zehner, Mann, ich muss dringen was rauchen.
- Erinnerst du dich an die Nacht vom 10 auf den 11. November?
- Wieso? Was ist passiert? Wurde wer erschossen? Egal, man sieht sich. ...was summst du da für eine Melodie? Das kenne ich irgendwoher... warte... Tkejta? Ja, genau!
- Du kennst es? Ich habe das Lied bisher nur in einem Traum gehört.
- Egal. Der Chirurg singt es immer. Dem schulde ich noch einen Hunderter für den Stoff. Egal, komm, gib mir etwas Kohle. Danke, Mann.

So ging ich von Penner zu Penner und fragte, ob jemand den Chirurgen kannte. Zwei kannten ihn, einen grimmigen Mann mit auffällig unauffälligem Gesicht, meine Körpergröße, also einen Kopf kleiner als Carl, er strahlt angeblich eine bedrohliche Ruhe und Güte aus. Er verkauft synthetische Drogen, das ist nicht interessant. Er entführt Leute und kastriert sie, das ist interessant. Woher kennt er dieses Lied?



2. Dorcor


Ich stehe nun seit Stunden am Bahnsteig und warte auf jemanden, der jemanden kennt. Die Lage spitzt sich zu, weil meine Füße kalt werden, und mir langweilig wird. Es kommt mir albern vor, ich gehe. Doch dann halten mich zwei Typen auf, und rufen: „Vollmond!? Vollmond!?“ und schlagen auf mich ein. Ich wehre mich nach Kräften, doch sie sind mit Stöcken bestückt, gewinnen, und nehmen mich als Medaille. Ich wache in einem dunklen Raum auf, und glaube, zu träumen. Ich versuche, aufzuwachen, und denke, dass ich fest schlafe, und mich nicht bewegen kann; ich versuche, vom Bett zu fallen. Doch ich bin gar nicht im Bett, ich bin in diesem Raum, der nun mit mir aufwacht, und so hell wird, dass ich nichts sehe. Ich höre, wie jemand Tkejta singt, werde mich meiner Fesseln bewusst, und der Tatsache, dass der Chirurg vor mir steht.

- Woher wusstest du, dass Vollmond ist?
- Vollmond? Vollmond!?
- Du wusstest, dass Vollmond ist.
- Ich weiß nicht. Ist heute überhaupt Vollmond?
- Verarsch mich nicht. Du kennst den Text von Tkejta. Du wusstest vom Vollmond.
- Ja, den Text kenne ich... ich habe davon geträumt.
- Verarsch mich nicht. Woher wusstest du, dass Vollmond ist?
- Vollmond ist am 24. Heute ist der 16. Es ist nicht Vollmond.
- Verarsch mich nicht. Woher kennst du den Text von Tkejta?
- Aus einem Traum. Ich habe am 10. November von diesem Lied geträumt. Beim Aufwachen habe ich laut gelacht, nein, ich habe im Traum so laut gelacht, dass ich aufgewacht bin.
- Man träumt nur von Dingen, die man schon kennt. Woher kennst du den Text von Tkejta?
- Ich weiß es nicht. Ich habe es nie bewusst wahrgenommen, falls es das Lied wirklich gibt.
- Das Lied gibt es nicht. Woher kennst du ein Lied, das es nicht gibt? Verarsch mich nicht.
- Nur aus dem Traum. Es ist wahr.
- Wahr? Du bist eine Kakerlake, das ist wahr. Wie wagst du es, dieses Wort zu benutzen, du sexgeiler Hund? Du bist widerlichster Abschaum, der ausgerottet gehört, in allen Welten, nicht nur in dieser. Du bist ein Tier, nichts weiter. Ich werde dich kastrieren, und vielleicht schneide ich dir noch was ab, wenn du nicht kooperierst. Wieviele seid ihr?
- Wer? Ich bin allein.
- Verarsch mich nicht. Wieviele seid ihr?
- Wer denn? Es gibt nur mich.
- Verarsch mich nicht. Du kennst den Text von Tkejta. Du wusstest vom Vollmond. Wieviele seid ihr? Bringt ihn zu den anderen Missgeburten, aber fesselt ihn wieder. Diese Insekten haben versucht, ein Mädchen zu vergewaltigen, aber er weiß, was er nicht wissen sollte... nicht wissen kann. Er könnte einer der gefährlicheren Sorte sein, einer, der im Treppenhaus wohnt. Er könnte verschwinden, wenn er nicht beobachtet wird, sich in die Zwischenwelt teleportieren. Behaltet ihn immer im Auge.

Ich sitze im Dreck neben fünf Vergewaltigern, und werde fragend angesehen: sie sind nicht gefesselt, ich schon. Sie haben einen Wachmann für fünf, auf mich schauen zwei Wachmänner, und haben Angst vor mir. Da kommt der Chirurg wieder und teilt mit, dass der heutige Fang eliminiert wird. Es wird ehrlich gewürfelt, der mit der niedrigsten Zahl ist als erster dran und hat eine halbe Stunde, um sich zu besinnen. Doch er will lieber quatschen.

- Du, wie heißt du?
- Junge, bete besser, oder was weiß ich. In 29 Minuten bist du tot.
- Wer bist du?
- Das frage ich mich gerade auch.
- Was bedeutet Vollmond? In eurer Geheimspreche, meine ich. Ihr kennt euch doch, du und der Doktor...
- Vielleicht aus einem anderen Leben.
- Es gibt kein anderes Leben, Mann. Ich hatte nie Sex, und ich bin fast 40.
- Interessant.
- Nein, nicht interessant. Ich habe mir geschworen, das schönste Mädchen der Welt zu ficken, und dann können sie mich gern einbuchten. Aber die da, die sind nicht die Polizei. Wer sind sie, verdammt!? Wenn du etwas weißt, sag es, die werden mich killen, Mann!
- Ja, es sieht so aus, als werden sie dir gleich die Kehle durchschneiden.
- Du hast nicht mitgewürfelt! Dich werden sie nicht umbringen!
- Nein, sie werden mich wohl direkt in die Hölle schicken.

Die Wachmänner nicken, und ich beginne zu verstehen, für wen sie mich halten. In zehn Minuten wird der Mann getötet, er heult. Ich habe kein Mitleid, aber fasele aus Pflichtgefühl über rechtsstaatliche Prinzipien. Ein Wachmann erwidert, dass die Erde nur ein Staubkorn im Weltall ist, in einem von vielen Weltällen. Der andere Wachmann will mich als Lexikon benutzen, und flüstert mir die Frage zu, ob Berlin auf der Achse liegt. Ich weiß nicht, welche Achse er meint. Als er sagt, dass Dorcor auf derselben Achse liegt, wird mir klar, dass ich im Winter vor 22 Jahren ein UFO gesehen habe. Das Messer streichelt elegant die Kehle, das Blut beginnt zu spritzen, die Würfel fallen erneut. Der Nächste versucht, zu beten. Stattdessen fängt er an zu weinen, und hört nicht auf, bis der Tod ihn von seiner Erbärmlichkeit erlöst.



3. Xhigget


Ich übernachtete im Blut der Getöteten. Nun bin ich wach, und mich trifft ein harter Wasserstrahl. Der Raum und ich werden geputzt, dann spaziere ich auf Anweisung nackt in einen Operationssaal. Der Chirurg erklärt, dass er mich skalpieren wird, und in meinem Hirn herumwühlen, während ich träume. Ich werde an Geräte angeschlossen und bekomme Schlafmittel verabreicht. Wie die elektrische Knochensäge eingeschaltet wird, bekomme ich noch mit.

Opa versteckt die Karten wieder. Er gewinnt, aber beim neuen Spiel fehlt eine Karte. Sie muss unter den Tisch gefallen sein. Da, jetzt fällt sie – aus dem Ärmel – wirklich unter den Tisch. Kaum vernehme ich seine Lache - кукурузный смех - , schon bin ich in der Schule, und zwar in Westeuropa, nicht in Westsibirien. Ich sitze im Klassenraum und betrachte mit wohlwollender Verachtung den fachlich inkompetenten und charakterlich subalternen Englischlehrer, dann stehe ich auf einmal auf, und gehe in den lichter Flur hinaus. Sie sitzt da, hat langes dunkelblondes Haar, ist klein und zierlich. Ich verstecke meine Blicke nicht, und sie weiß bereits, dass ich in sie verknallt bin. Ich betrachte sie mit reservierter Bewunderung, nehme ihre Hand, und führe sie zum Fenster. Gleich werden Atombomben explodieren, sage ich. Wir betrachten die Plize und sind glücklich. Unsere Körper verdampfen, unsere Gefühle nehmen wir mit. Das schöne Mädchen wacht nun in einem Bett neben mir auf, wir schliefen anscheinend miteinander, aber nicht aufeinander. Sie sagt, dass die Reise lang ist, und dass mir die Kraft besser einteilen soll. Es wird schwarz und kalt, ich fühle mich gehäutet, fühle scharfe Stiche, es bleibt kalt, wird hell, und es erklingt Musik, die an Bach erinnert. Was tun sie da bloß mit meinem Hirn?

Der Chirurg schmunzelt und sagt: noch nicht dem Ekel aussetzen. Er will ein Spiel spielen. Ein wohliges Gefühl, eine angenehme gesteigerte sexuelle Erregbarkeit, die Sinne sind durstig und scharf. Ich bin in einem großen Zimmer mit vielen Kissen, zwei schammerscharfe Lesben von unglaublicher Schönheit und Jugend sitzen in der anderen Ecke und blicken verspielt zu mir. Ich habe eine stahlharte Latte, doch die Freude ist größer, die Freude an der Schönheit lässt mich vom Bauch abwärts taub werden, ich bin ganz Auge, es ist Andacht, Verehrung, und als die Gier hochkommt, habe ich mir die Mädchen schon weggedacht. Der Chirurg sieht meine abgetrennte Schädeldecke an, und will sie wieder auf meinem Kopf anbringen. Seine Männer raten ihm davon ab, es fällt das Wort vom edlen Schurken. Er schickt mich also doch nach Xhigget.

Ich kann mich nicht in meine Traumwelt zurückziehen, komme aber auch nicht in der wirklichen voran. Ich bin verzweifelt und zornig, voller Fragen an das Leben, die nur der Tod beantworten kann. Xhigget fühlt sich zunächst genauso an, wie Berlin Anfang 2016, doch die Stadt hat tausendmal soviele Einwohner, und noch mehr Insekten. Es ist warm und schleimig, alle Menschen sind unglaublich dick und grenzüberschreitend fröhlich. Es gibt genau eine Wohnung in Xhigget, in der die Temperatur unter 30 Grad fallen kann. Da wohnt der Hauptwächter der Stadt, er hat eine Frau ohne auffällige Missgestaltungen, er ist nur moderat dick, er muss keine Insekten essen. Ich soll mich in der verschimmelten Bibliothek um einen Job als Lektor bewerben. Die Scheiße fängt schon an, als ich keine Kugelschreiber in die Hand nehmen kann, weil ich mich ekele. Das Blatt, auf dem ich unterschreiben muss, ist mit hässlichen Tittenkarikaturen bekritzelt. Ein Priester predigt draußen, dass der Selbstmord die größte Sünde sei, ich finde ein Messer, und schlitze mir vor seinen Augen die Kehle auf. Es riecht nach Asche. Den Teufel haben sie aber nicht gut hingekriegt, ich muss lachen. Es erklingt das Wort Hungergeist im Operationssaal, und ich wache in meiner Wohnung in Berlin auf. Noch gestern habe ich mit einem Freund über die buddhistische Vorstellung von Hungergeistern gesprochen, heute hatte ich diesen ungewöhnlich langen Traum, und bin erschöpft, obwohl ich noch so viele Banalitäten des Alltags zu erledigen habe.

Wo sind meine Schlüssel? Ich bin vergesslich, verpeilt, aber ich war es nie. Zwar hatte ich, besonders im Winter 1998/99 das Gefühl, nicht voll da zu sein, aber ich war nie so unkonzentriert. Vielleicht ist es der Stress. Ich habe zwei Termine, der Bus ist voll, und ich kann mich nicht erinnern, wo meine Schlüssel sind. Neben mir rügt ein Mann einen anderen für die Verwendung des Ausdrucks „schöne Frau“, weil er für beiläufige Zuhörer diskriminierend ist. Einen Sitz weiter führen zwei Frauen ein lautes Gespräch:

- Hässliche Frauen haben manchmal so schöne Kinder!
- Ja, es ist lustig. Neulich habe ich eine so richtig fette Kuh gesehen...
- Eine Elefantenkuh. Hihi.
- Hihi, und ihre Tochter war bildhübsch.
- Irgendwie finde ich das gerecht.
- Ja, im Leben gleicht sich alles irgendwie aus.
- Ähm... nicht dass der Bus noch entgleist. Meiner Kollegin ist das gestern passiert.
- Eine Freundin von mir wurde mal vom Bus überfahren!
- Ach, wie schrecklich! Wie geht es übrigens Tim? Hat er einen Job gefunden?
- Ja, als Busfahrer.
- Ach, wie schön.

Im Wartezimmer ist es zum Glück leise. Jeder, der wartet, ist allein gekommen. Hier wird nicht geflirtet, hier regnet es verschämte Blicke. Es ist das Jobcenter. Ich versuche zu lesen, fühle mich aber ohne äußeren Grund belästigt. Ich brauche für einige Monate Ruhe, will mich nicht nur ein bisschen zurückziehen, sondern eremitisch, autistisch. Dieses Töhuwaböhülein ist mir zu viel, es fehlt an Struktur und Geist. Carl kommt ins Wartezimmer, welch zufällige Begegnung. Er grüßt nicht, vielleicht erkennt er mich nicht. Meine Nummer wird angezeigt, ich stehe auf. Was ist mit den Schlüsseln? Habe ich vergessen, dass ich vergessen habe, dass ich sie vergessen habe?



4. Synthétique


- Sie haben Fragen?
- Ja, habe ich. Wo kann ich arbeiten, ohne Leute sehen zu müssen? Ich habe einen sehr guten Abschluss, kann auch quer einsteigen, egal wo. Hauptsache keine Leute sehen.
- Würden Sie im Lager arbeiten?
- Wie bitte? Lager... ja. Warum nicht. Aber nur wenn ich sofort anfangen kann, um gleich Geld zu verdienen. Dann kann ich ach nebenbei die Dok...
- Ich habe verstanden, Sie wollen nicht arbeiten. Sie wollen nur rumsitzen, Kaffee trinken, und Geld vom Staat kassieren... haha, ein Scherz! Ich meinte mich selbst, nicht Sie. Sehen Sie, wenn es keine Arbeitslosen mehr gibt, werde ich entlassen. Aber Sie sind sich auch mit einem Uni-Abschluss nicht zu schade, eine ehrliche körperliche Arbeit zu machen. Das finde ich gut. Wollen Sie im Lager arbeiten?
- Ja, gern.
- Sind sie Jude?
- Was? Sie scherzen, nun ja, seltsam.
- Nein. Das war kein Scherz. Wenn Sie Jude sind, dann gehören Sie wohl eher zu den Kunden des fraglichen Unternehmens, als zu den Mitarbeitern.
- Wo ist die versteckte Kamera?
- Führt ihn ab. Heil Trachtenegger!
- Heil Trachtenegger!

KZ Berlin-Lichtenberg. Die Nazis haben den Krieg gewonnen. Ein Kretin namens Trachtenegger ist seit 2013 Reichskanzler. Träume ich, bin ich im Wartezimmer eingenickt?

- Mann, du bist dran, deine Nummer wurde gezogen!
- Sind die Nazis weg? Ich habe so einen Müll geträumt.
- Steh auf, du Hund! Du findest wohl alles lustig. Na gut, kein Arbeitslager, doch Vernichtungslager. Noch heute kommst du ins Grimm-Zentrum...
- In die Uni-Bibliothek?
- Du bist wohl ein Komiker. Fritz, verpass ihm eine Kugel!

Die Kugel trifft das Hirn nicht voll. Ich liege auf einem Nazi-Tisch und werde aufgeschnitten. Einen Organspendeausweis habe ich wirklich, und muss wieder schmunzeln. Ich werde skalpiert und an Geräte angeschlossen. Es wird schwarz, dann hell, dann komisch, und nun bin ich wirklich wach. Der Chirurg erklärt seinen Männern, dass mein Gehirn zu schwer beschädigt ist, und berät sich mit einem geisterhaften Wesen, ob er mich nun zu Ende töten soll, oder in ein Krankenhaus bringen lassen, wo ich als Vegetarierfraß weiterlebe. Sie haben zu viel Angst vor meinem Tod, vor dem, was ich wieder sein werde, wenn sie mich aus meinem leiblichen Gefängnis befreien, und entscheiden sich für die Gemüse-Option. Was steht nun bevor? Das Ich wird zu einem Bündel von Empfindungen, alles wird relativ, Wahrheit wird es nicht mehr geben, - diesen Zustand kannte ich bisher als moderne Philosophie, von jetzt an auch als Hirnschaden.

Ich schlafwache, habe keine Träume, der Schlaf ist nie tief, ich bin ständig müde, kann mich nicht bewegen, habe unwillkürliche Zuckungen. Jetzt endlich kann ich meinen rechten Arm bewegen. Auf dem Tisch vor meinem Krankenhausbett liegt eine Schere, die muss ich erreichen. Geschafft. Und jetzt ein Stich in den Hals. Und noch einer. Cool, ich sterbe.

Scheiße, ich lebe. Es war ein Traum, ich kann mich immer noch nicht bewegen. Eine verfahrene Situation. Zwei Frauen besuchen mich seit Anfang März: die eine sieht aus wie Stephanie Corneliussen, die andere wie Alicia Vikander. Sie beobachten mich, sie sprechen darüber, dass ich auf dem Weg der Heilung bin, und ja, ich bin jeden Tag klarer, kann sogar wieder sprechen, bin jetzt eine sprechende Gurke. Ich singe das Lied, wenn keiner im Zimmer ist, aber bleibe stumm, wenn einer mit mir reden will. Ich muss an einem geheimen Ort sein, denn es kamen nie Familie oder Freunde mich besuchen. Das macht mir keine Sorgen, aber ich sorge mich um meine Erinnerungen. Ich bin mir nicht mehr sicher, wann was geschah, und dabei hatte ich immer ein gutes Gedächtnis. Nun bringt mich die Erste zum Lachen, erzählt mir etwas albernes. Sie ist zum ersten Mal allein mit mir, ich nenne sie für mich Chlor, sie hat sich bisher nicht mit ihrem Namen vorgestellt. Ich frage, welcher Tag heute ist. Es ist der 9. März. Ich habe heute ein Bewerbungsgespräch, scherze ich.Wieso, fragt sie, du hast doch schon einen Job? Welchen Job, seit wann, frage ich. Seit letzten Herbst bist du Junior-Professor an der FU, sagt sie. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern; wenn ich jedoch versuche, mich an den letzten Herbst zu erinnern, kann ich mich an überhaupt nichts erinnern.

- Wechselt ihr euch von heute an ab?
- Nein, aber ich wollte auch mal mit dir allein sein.
- Wie heißt du?
- Fluor.
- Was... tatsächlich?
- Wieso?
- Weil das der Name ist, den ich mir für dich vorläufig ausgedacht habe.
- Ich soll dich von deiner Freundin grüßen.
- Von welcher denn? Ich habe viele.
- Ja, hihi, du hattest viele.
- Ach, so eine Freundin meinst du. Ich hatte überhaupt keine, nie.
- Dein Gedächtnis, ich weiß. Du hattest einen Hirnschaden, aber bald wirst du wieder gesund. Ein Mädchen ist hier, will mit dir reden.
- Wer ist sie?
- Ich kenne sie nicht. Soll ich sie reinlassen?
- Warum nicht.

Wer ist sie? Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Woher kenne ich sie? Herbst 1999, sagt sie, wir hatten uns damals heftig ineinander verliebt. Ich war in der 10. Klasse, sie in der 7. Wir versteckten uns in den Nächten in Kaufhäusern und Bibliotheken, aber auch mehrmals in der Schule. Wir saßen in den Nächten zusammen und ich musste ihr immer schrecklichere Gruselgeschichten erzählen, damit sie sich fürchtete, damit ich sie beschützte. Ihre Hand war aus meiner nicht wegzudenken, wie konnte ich sie vergessen? Manchmal spazierten wir an felsigen Küsten Englands, manchmal tarnten wir unsere Ausflüge als Klassenfahrten, waren zusammen in Wien, Paris und St. Petersburg. Wir hielten geheim, dass wir nie miteinander Sex hatten. Da die Leute davon ausgingen, war ich bei anderen Mädchen sehr beliebt. Schließlich verknallte ich mich in eine andere, und sie sich in ein anderes Mädchen. Ich wechselte die Schule, um die Gefühle nicht zu vermischen, aber wir blieben gute Freunde, und sind es heute noch. Das, sagt sie, ist unsere Geschichte.

- Fluor?
- Ja.
- Was macht sie jetzt? Ich habe sie gar nicht gefragt, was sie nach der Schule gemacht hat.
- Frag sie doch selbst beim nächsten Mal... Warum dachtest du, dass ich es weiß?
- Komische Frage. Ich habe nur gefragt.
- Träumst du gerade oder bist du wach?
- Ich bin wach.
- Wie ist dein Name?
- Der, der im Ausweis auf dem Tisch steht. Wirke ich verwirrt?
- Nein, du wirkst klar. Aber du musst jetzt schlafen.
- Warte... Wenn ich sie wäre, würde jetzt wahrscheinlich bleiben. Nach unserer Geschite, meine ich. Wenn wir so gute Freunde sind.
- Sie kommt bestimmt wieder mit einem Übernachtungsbesuch, wo sie nun weiß, in welchem Krankenhaus du bist.
- Fuck...
- Ja?
- Meine Hände sind taub, ich kann nichts fühlen. Ich will wieder mit ihr händechenhalten, wie früher. Aber wenn sie mich berührt, spüre ich nichts.
- Schlaf erstmal, du bist auf dem Weg der Besserung.

Gut geschlafen, schön geträumt. O Wunder, meine Hände sind nicht mehr taub. Ich kann sie fühlen, aber leider nicht bewegen. Wann kann ich mich endlich bewegen!? Da kommt Chlor.

- Ein herzlicher Gruß von deinen Studenten! Sie hoffen, dass du bald wieder über Weininger liest.
- Ich kann mich leider nicht an meine Vorlesungen erinnern. Was habe ich denn da gemacht?
- Du hast eine Vorlesungsreihe zu Leben und Werk von Weininger angefangen. Nächstes Jahr ist sein 50. Todesjahr, das war der Anlass.
- 1967 gestorben... kann nicht sein...
- Du hast Gedächtnislücken, das ist normal. Deine Arbeit läuft dir nicht weg, ruh dich erstmal aus. Da ist deine Schulfreundin wieder, die gestern hier war.

Wie schnell wachsen menschliche Krallen bzw. mädchliche Krällchen? Gestern waren ihre noch nicht so lang. Jetzt nimmt sie meine Hand und lächelt. Sie ist drei oder vier Jahre jünger als ich, müsste Ende 20 sein. Sie fühlt sich jünger an, fast wie damals. Auch ihre Nase hat sich ein wenig verändert, sie ist jetzt kindlicher. Oder bilde ich mir das nur ein? Sie spricht über den Unfall, den ich hatte, bei dem ich fast meinen Kopf verlor. Meine Schädeldecke wurde durchbrochen, das Gehirn beschädigt. Ich stieß als Radfahrer mit einem Motorradfahrer zusammen, wurde durch die Luft geschleudert, bin gegen eine Hauswand geprallt. Bevor ich an ihre süßen Zähnchen dachte, und daran, wie sie zärtlich in meinen Arm beißen, konnte ich nur meine Hände spüren, jetzt habe ich auch Gefühl in den Unterarmen. Es muss wohl daran liegen, dass der Gedanke eben doch nicht zuerst war, ja, es ist dieser Libet-Scheiß, natürlich. Zuerst empfindet der Körper, dann rationalisiert das Hirn, oder stellt sich einfach etwas vor. Ich habe meine Unterarme wieder gespürt, und musste sofort an ihre Zähnchen denken, daran, wie sie mich früher spielerisch gebissen hatte. Das macht sie jetzt wieder. Kann sie Gedanken lesen? Nein, ich habe nur die ganze Zeit auf ihren Mund geguckt und sie daran erinnert.



5. Mystique


Radfahren will ich wieder. Es ist schon April, ich habe mir gerade das Championsleagueviertelfinale angesehen und denke über die Fussballeuropameisterschaft nach. Werde ich sie mit meinen Freunden sehen können, zumindest im Rollstuhl? Wenn ich wieder gehen kann, werde ich das Grab meines Großvaters besuchen; ich werde ihm keine Blumen bringen, sondern Spielkarten. Pikass und Kreuzdame lasse ich weg.

Ich kann sogar meinen verdammten Schwanz wieder Fühlen, aber keinen Körperteil bewegen. Chlor sieht heute besonders verführerisch aus. Sie will mich ficken. Ich versuche, das Thema zu umgehen, doch sie sammelt schon seit Wochen beiläufig Begehrungsmaterial aus meinen Phantasien. Sie könnte mich natürlich auch vergewaltigen, mein Schwanz wäre auf ihrer Seite. Aber sie will, dass ich es will. Weibliche Eitelkeit, oder steckt mehr dahinter? Natürlich: Güte. Ich bin vollkommen wehrlos. An ihrer Stelle würde ich es auch nicht tun. Ich bin das Gegenteil eines Vergewaltigers; ich könnte unter Umständen morden, vergewaltigen nie.

- Fluor, ich habe Chlor seit drei Tagen nicht gesehen. Ist sie sauer auf mich?
- Sie hat Urlaub.
- Ich weiß nicht, warum ich alles auf mich beziehe. Wahrscheinlich aufgrund meiner Lage.
- Liegst du nicht bequem?
- Ich meinte meine Situation.
- Hast du Schmerzen?
- Nein, ich fühle mich sogar sehr wohl. Aber darum geht es nicht. Ich will mich bewegen können.
- Noch zwei Wochen, dann ist es vielleicht so weit.

Zwei Wochen, noch zwei Wochen, abermals zwei Wochen. Willkürliche Fingerzuckungen sind möglich, aber ich kann weiterhin nicht mal meinen Arm heben. Das schlägt auf die Stimmung, ich fühle mich hingehalten. Lügen sie? Werde ich nie wieder gehen? Ich habe mir paranoiderweise etwas überlegt, und werde es gleich testen.

- Chlor, du hast dich lange nicht blicken lassen. Liegt es an mir?
- Du hast meine Gefühle verletzt. Noch nie hat mir ein Mann Sex verweigert.
- Das heißt, du hattest schon Sex?
- Ääh nein, aber immer bei der kleinsten Anspielung standen die Hengste schon bereit.
- Dann bist du also Jungfrau?
- So wie du.
- Ich habe dich von Anfang an begehrt. Aber kann mich nicht mal bewegen, ich schäme mich vor dir, so hilflos zu sein. Ich kann nicht, solange ich...
- Ich weiß. Aber du willst mich?
- Ich verzehre mich nach dir.
- Dann kannst du es gut verbergen.
- In diesem Elend brauche ich gar nichts zu verbergen, diese Hilflosigkeit macht alle Freude zunichte. Ich wünschte, ich könnte zumindest meine Arme und meinen Kopf bewegen, um dich zu halten, zu berühren, zu küssen...

Es geht atemberaubend schnell voran. Noch Ende Mai konnte meine Arme heben, und nun, am ersten Spieltag der EM, kann ich mich sogar selbstständig setzen. Chlor will ohne Condom ficken, und das Schicksal entscheiden lassen, ob sie schwanger wird. Morgen werden wir es tun, glaubt sie. Sie wird sehen.

- Lass uns heiraten, noch heute!
- Chlor, nein. Ich habe dich angelogen. Ich will nichts von dir.
- Du Arschloch! Du widerlicher Sexist!
- Sexist? Weil ich keinen Sex will? Oder weil ich herausgefunden habe, welche Versprechen mich schneller gesund machen? Was läuft hier für ein Spiel?
- Du bist paranoid. Du bist wahnsinnig! Du bist ein Loser. Schlappschwanz! Ich hatte nur Mitleid mit dir, wollte dich aufbauen. Es hat geholfen, oder etwa nicht!? Du bist so undankbar, so selbstsüchtig!
- Lutsch meinen Schwanz.

Sie macht tatsächlich Anstalten, dies zu tun. Ich halte sie davon ab, ich kann meine Arme ja wieder bewegen. Ich sage ihr, dass ich nicht auf sie die ganze Zeit scharf war, sondern auf Flour.

- Flour, wird Chlor dabei sein, wenn wir es tun?
- Ja, sie will unbedingt zusehen.
- Dumm nur, dass wir es nicht tun werden.
- Was spielst du für ein Spielchen mit uns?
- Was spielt ihr für ein Spielchen mit mir? Warum wollen Frauen wie ihr mit einem Mann wie mir ficken? Ich bin ein autistischer uncharmanter Grießgram, ihr seid mindestens Models.
- Was redest du denn? Du hattest schon so viele Frauen, und dass du keine von ihnen gefickt hast, macht dich nur sympathisch. Du bist kein Mann, der rumvögelt. Du bist ein Romantiker, der Liebe schenkt, und mit 33 eine Familie gründet. Zufällig bist du jetzt 33...
- Man kann mit 33 auch den Tod heiraten.
- Wenn man der Sohn Gottes ist, kann man alles heiraten.
- Ich bin vielleicht ein Alien.
- Quatsch. Du wirst deine Töchter später genauso lieben, wie du Mädchen geliebt hast. Die Unschuld und Reinheit, sie werden dich weiterhin begleiten, selbst deine Frau, die nur mit dir, und nur um Kinder zu zeugen, schläft, wird nicht unrein. Du bist ein guter Mensch, ein starker rechtschaffener Mann.
- Wärest du gern meine Frau?
- Zu gern. Aber Chlor liebt dich auch. Du musst dich zwischen zwei Frauen entscheiden.
- Warum muss ich? Und warum zwischen zwei? Scheiß drauf, ich sags wie es ist: ich stehe auf Mädchen. Keine Kinder, aber eben Mädchen. So alt wie nötig, so jung wie möglich. Ich will, dass sie an mir lecken und lutschen, am besten drei oder vier zugleich. Ich will den Rausch der Sinne, die totale Auflösung, ich will quälen, enjungfern, besudeln, essen! Herzen zerreißen, Schmerzen genießen, ach!

Nach diesem Monolog kann ich nun meine Beine spüren. Den Rollstuhl werde ich wohl gar nicht brauchen, stattdessen Sportschuhe. Ich bin seit 1998 Holland-Fan, und die Oranje gewinnt angeblich nach der WM 1998, EM 2000, EM 2004, EM 2008 und WM 2012 nun auch die EM 2016. Chlor fragt, ob ich mich an den Tod meines Großvaters erinnern kann, und überrascht mich damit, dass er noch lebt. Außerdem habe ich eine adlige Großtante, die mir ein beträchtlichtes Vermögen und ein Schloss in den Alpen vererben will. Dort kann ich meine BDSM-Folterhölle errichten, toll. Fluor und Chlor wollen mich beide heiraten, haben nichts gegen Polygamie. Ich kann wieder gehen, die Mädchen sind schon entführt und in der Schweiz, 10 Stück fürs Erste. Ein Sadist und Lüstling, dem alles nach Wunsch und Willen geht, das wird mein Leben sein. Denken die.

- Wo sind die Mädchen? Ich will ihre Leichen sehen, wenn du sie getötet hast.
- Setz dich, Chlor. Ich habe sie freigelassen. Die Wachen habe ich erschossen. Fluor ertrinkt gerade im Pool. Nur wir beide sind im Schloss. Ich habe eine Knarre, die auf dich gerichtet ist. Was wirst du tun?
- Ich werde wiederkommen! Ich werde unvorstellbare Grausamkeiten tun, und es wird deine Schuld sein!
- Wenn ich dich töte, kommst du nicht so einfach wieder. Ich habe eine gute theologische Intuition.
- Meine Leute werden sich rächen! Sie werden die unschuldigsten, schönsten, zartesten Mädchen vergewaltigen, sie werden...
- Du hyperventilierst.
- Wir werden dich kriegen und in ein Endlos-Koma versetzen, in ein ewiges Xhigget, nein, noch schlimmer, du wirst dich ekeln, unendlich tief ekeln, und am Ende mit dem Ekelhaften verschmelzen, deine Seele wird sich Stück füt Stück im Hässlichsten, was es geben kann, auflösen.
- Das wäre mein Schicksal, wenn ich euch gefolgt wäre.
- Was wirst du tun, nachdem du mich tötest?
- Ich werde mich erinnern, wie mein Leben wirklich war.
- Leiden, nur noch mehr leiden. Du tust mir leid.

Der Schuss löst sich. Sie ist tot, ich verlasse das Schloss.



6. Nirwana


- Carl, was läuft?
- Bist wieder da? Wo warst du, im Urlaub? Egal, ich scherze nur. Du hast ja gar keine Arbeit.
- Und was ist mit dir?
- Es ist Sommer, warm auf der Straße. Egal, ich brauch wieder Kohle, Mann.
- Zufällig habe ich die.
- Hast du im Lotto gewonnen?
- Sozusagen.
- Dann hilf doch deinem alten Kumpel.
- Ich will dich vorher was fragen.
- Was?
- Erinnerst du dich an die Schulzeit?
- Ob ich mich an die Schulzeit erinnere? Klar erinnere ich mich an meine Schulzeit!
- Ob du dich an meine Schulzeit erinnerst.
- Was? Wieso? Egal. Was willst du denn hören?
- Wie ich so war. Kurz und knackig, ohne Hehlworte. Lass dich von der Aussicht auf Kohle nicht beeinflussen, ich finde es eh früher oder später raus, und die Ehrlichen werde ich belohnen.
- Naja, egal. Naja... du warst halt krasser Außenseiter, noch mehr als ich ne Zeit lang, naja, eigentlich warst du wie ein Alien.
- Hatte ich eine Freundin?
- Haha! Du – im Ernst? Dich hat keine mal angesehen, du hast für die gar nicht existiert.

Die Erinnerung kommt zurück. An die Schulzeit, an die Jugend, an die prophetischen Worte aus Goethes Faust: „Und Fluch vor allen der Geduld!“ Gestohlene Kohle wirkt Wunder, jeder will sich mit mir treffen, wann und wo ich es sage, und ich kann das eitle Reden über mich selbst aus fremdem Munde hören. Es fügt sich alles zusammen: ein unglücklicher, leidender, einsamer, aber kein schlechter Mensch. Ich gebe sogar offen zu, dass das Geld, mit dem ich herumwedele, gestohlen ist, ich sage nur nicht, dass ich es dem Teufel gestohlen habe. Sie sollen nicht wissen, von wem ich gesucht werde, aber sie sollen denken, dass nach mir gefahndet wird. So bleiben sie auf Abstand und außerhalb von Lebensgefahr. Wann holt mich der Chirurg? Wie geht es Chlor und Fluor?

- Fluor, jetzt werde ich dich so nennen, bis wir uns an ihm rächen.
- Einverstanden, Chlor. Suchen wir den Aufzug.
- Nicht so schnell, hier können Gorgonopsiden lauern, hier in den weiten Fluren...
- In welcher Welt steht dieses Gebäude? Hoffentlich in keiner Vollwelt.
- Es muss eine Zwischenwelt sein. Guck aus dem Fenster: da ist einfach gar nichts.
- Warum er? Ist er wichtig?
- Jede menschliche Seele ist wichtig. Besondere sind natürlich besonders wichtig.
- Hält er sich für etwas besonderes?
- Größenwahnsinnig ist er nicht, aber er weiß um seine Unsterblichkeit. Transzendenzluzide, so würde ich ihn bezeichnen. Er sucht sein wahres Zuhause. Er muss unbedingt in einer der niederen Welten gehalten werden, so wie andere, die zu edel für die Welt sind, in die sie geboren wurden. Nur im Mittelweltenbereich kann Chaos existieren; wird dieser Bereich gereinigt, müssen die, die zu schlecht sind, weiter unten wiedergeboren werden. Was machen dann Monster wie wir?
- Nein, ich gehe nicht in die Hölle, vergiss es.
- Wir müssen den Chirurgen in eine Zwischenwelt entführen. Er reinigt. Er ist eifrig, fanatisch, und er hat nicht nur Glauben, er hat auch Wissen.
- Nicht genug Wissen offenbar, er hat ihn ja zu uns gebracht.
- Wir haben gefickt.
- Du und der Chirurg?
- Ja. Es war der Neid. Der Chirurg denkt, unser Patient käme aus einer höheren Welt, einer viel höheren. Darum hatte er nichts dagegen, das wir ihn umdrehen. Außerdem ist der Chirurg Dualist: er will eine flache Welt mit nur zwei Höhendimensionen.
- Nur Himmel und Hölle?
- Nein, das würde das Universum zerreißen. Er will, dass sich alle irgendwo in der Mitte treffen, die Bösen im Keller, und die Normalen in einer erdähnlichen Mittelwelt. So wie bei den Kommunisten oder Zeugen Jehovas. Aber die Welt ist tief... und hoch.

Erleichterung. Ich bin kein Monster, ja nicht mal ein Arschloch, wenn die Erzählungen stimmen. Vielleicht sollte ich mich umbringen, bevor ich wieder gefangen werde? Höhere Welten werde ich im nächsten Leben noch nicht erreichen, aber eine bessere als diese mit Hochsicherheit. Ich bin mit ihr mehr als fertig, ich war hier immer fremd. Doch was hält mich davon ab, einfach hier und jetzt abzudrücken? Ich mache es, noch heute, am 28. August 2016. Wo geht man an einem Sonntag im August hin, bevor man sich eine Kugel in den Kopf jagt? Am besten in ein Lokal, das so heißt.

- Hey, dich kenne ich! Von neulich, stimmt?
- Ich war dieses Jahr noch nie hier.
- Darf ich mich setzen?
- Ja, gern.
- Bist du reich oder so?
- Wieso glaubst du das?
- Dir ist ein Hunderter auf der Straße aus der Hosentasche gefallen. Passanten sind um die Wette gelaufen, du hast dich nicht mal umgedreht.
- Ich habe es nicht bemerkt.
- Hast du noch mehr Kohle zu verschenken? Gib sie her!
- Fünfhundert, wenn du das Mädchen dort dazu bringst, sich zu mir aufs Sofa zu setzen. Viel Erfolg, Junge! Hallo, Mädchen.
- Hi. Das ist aber nett von dir.
- Was denn?
- Was er gesagt hat, dass du gesagt hast, dass er mir sagen soll.
- Gern geschehen. Du bist nicht von hier, oder?
- Ich komme aus Neuseeland, bin noch eine Woche hier.
- Es ist mein letzter Abend. Ich werde in dieser Nacht sterben.
- Kein Witz?
- Leider nein.
- Bist du krank?
- Krank zum Tode.
- Dann warte auf mich. Ich komme mit dir.
- Willst du dich umbringen? Seit wann? Du bist doch höchstens 17...
- Willst du die exakte Uhrzeit wissen? Seit dem 23.8. 18:45.
- Wo warst du denn zu dieser Zeit?
- Im Flugzeug.
- Warte. Das wird jetzt interessant. Kann es sein, dass das Flugzeug zu jenem Zeitpunkt den 49. Breitengrad überquert hat?
- Das kommt sogar gut hin...
- Los, verschwinden wir hier!

Erst jetzt fällt mir auf, wie schön das Mädchen ist. Ich beginne zu begreifen, was mit dem Vollmond gemeint war. Das Wort Weltenschleife ist im selben Zusammenhang gefallen, man lernt nie aus. Oder könnte einfach die buddhistische Vorstellung der ewigen Wiederkehr gemeint sein? Das All als vertikaler Ring, in dem es für alle bewussten Wesen auf und ab geht? Man steigt auf durch gutes Karma, kommt sogar in den Götterbereich, doch verschwendet sein Karma durch ausschweifende Lust, und steigt wieder ab; auf und ab, aber es gibt kein Entkommen. Außer im „true death“, wie es bei Vampiren heißt. Erlöschung, Verschwinden im Nichts, - wenn das die Erlösung ist, wo ist der Sinn des Ganzen? Steht alles Seiende unter einem negativen Vorzeichen, wäre es besser, wenn gar nichts existierte.



7. Das Treppenhaus


- Wo verschwinden wir denn hin? Ich dachte, ins Jenseits!
- Hab Geduld, kleine Maus.
- Warum fahren wir denn zum Hauptbahnhof? Entführst du mich?
- Lauf doch weg, verführerische Maus.
- Ich habe keine Angst vor dir. Ich bin dir persönlich wohl zu egal, es geht dir um eine Sache, die ich noch nicht verstehe.
- Ich will das Flachland verlassen. Aber es geht nicht nur um mich selbst. Ich muss nur herausfinden, ob die Welt flach ist oder nicht, dann kann ich in Ruhe weitersterben.
- Ein kosmischer Kolumbus willst du sein?
- Eher ein Magellan. Komm, wir nehmen den Schnellzug.

Ich will nicht wieder die Kontrolle verlieren, daher ist es keine gute Option, mich selbst umzupusten. Aber warum ist eine bessere Welt keine gute Option? Für die beste bin ich noch nicht bereit, in eine bessere komme ich auf jeden Fall. Ich vertraue der Ordnung des Universums, aber gegen die Paranoia ist mein Vertrauen machtlos. Ich muss lebend, nicht tot, in eine andere Welt gelangen. Erst dann habe ich Gewissheit, dass eine höhere Ordnung des Universums keine Einbildung von Sinnsuche getriebener Phantasie ist. Der sogenannte Vollmond hat etwas mit Mädchen zu tun, und mit dem 49. Breitengrad. Vollmond entsteht womöglich, wenn alle wirklich schönen Mädchen sich nördlich vom 49. Breitengrad befinden. Wenn das eintritt, öffnet sich das Tor zwischen den Welten. Bei Vollmond wird die Achse durchlässig, man kann eine Welt verlassen, ohne zu sterben. In einer viel höheren Welt liegt die Stadt Dorcor auf der Achse, in einer viel niedrigeren die Stadt Xhigget. Ich habe es immer gewusst, dieses Wissen hat lange in mir geschlafen. Nun schläft das Mädchen im Schnellzug neben mir ein, so wunderschön, so zerbrechlich, und doch nichts weiter als ein lästiges Kind, das mich auf meiner Reise nur behindern kann. Sie ist 17, fast erwachsen, und kann selbst entscheiden, ob sie die andere Welt betreten will. Fast ergreift mich der Weltengeiz, und ich denke, sie gehört doch hierher, und weiter oben ist Platz für noch Schönere. Aber sie ist eine von denen, deren geographischer Standort auf der Erde darüber bestimmt, ob sich die Achse öffnet. Ist das absurd oder bin ich verrückt? Eine Weltenachse, das ist doch Schamanismus, da wird bestimmt nichts sein. Vielleicht ist einfach nur nichts nach dem Tod, ich sollte mir jetzt gleich in den Kopf schießen, und alles ist gut.

- Es ist nicht mehr weit. Bist du noch müde?
- Nein, nur lebensmüde. Im Flugzeug wurde mir klar, wie sinnlos mein Leben ist. Einfach so.
- Die Antwort zu wissen, ohne die Frage zu stellen, das ist Intuition. Ich habe mich mit Verstand, Vernunft und Urteilskraft jahrelang abgemüht, diese Welt zu verstehen, dabei hätte ich einfach nur darauf achten sollen, wie ekelhaft sie sich anfühlt. Sie ist einfach nicht mein Zuhause, und ich kann mir das nicht erklären.
- Warum die Welt nicht dein Zuhause ist?
- Warum ich hier ausgesetzt wurde. Ist das so eine Art Experiment? Wir sind da.
- Hildesheim?
- Tausend Träume können nicht irren. Das, was ich suche, muss hier irgendwo sein. Ein seltsames Haus im südlichen Teil der Stadt.
- Dort brigen wir uns um?
- Wir müssen nicht sterben, um diese Welt zu verlassen. Wenn ich meinen Träumen glauben kann, müssen wir nur bis zur Erschöpfung Treppen steigen.
- Ist das ein Wolkenkratzer?
- Nicht von außen, aber im Innern ist eine andere Dimension, da geht es unendlich hoch weiter oder unendlich weiter hoch, wir werden sehen.

Wir sehen das tiefenfurchterregendste Haus und finden einen Weg hinein. Da ist keiner, das Haus ist von außen fünf Stockwerke hoch, und nicht sehr groß. Ein Horror bis tief in die Knochen, ein kosmischer Südwind. Kommen Chlor und Fluor nach oben, zurück in diese Welt? Sind noch mehr Dämonen unterwegs hierher? Wir hätten diese Tür schließen können, ich hätte mit dem Mädchen einfach nach Italien fahren sollen. Es ist natürlich zu spät, jemand ist doch zu Hause: der Chirurg.

- Du bist doch entkommen...
- Hier wohnst du also.
- Ja. Ich habe 22 Jahre auf der ganzen Welt danach gesucht. Ich war von Wolkenkratzern besessen, aber da war keine Treppe in die andere Dimension. Man steigt höher und höher, und dann ist einfach nichts. Du wusstest es aber – oder hast du glücklich geraten?
- Vielleicht bin ich der, für den du mich gehalten hast.
- Wirst du dich rächen? Ich würde mich rächen.
- Du kommst einfach mit uns hoch. Wir verschieben die Rache.
- Ich habe deinen Schädel aufgesägt und dein Hirn gefickt, und du lässt mich am Leben?
- Ach, die Knarre. Verzeih. Nur um die Maus zu beschützen. Andere haben es gefickt: guck bloß nicht nach oben, Familie ist das wichtigste, du wirst noch einsam sterben, sei wie alle anderen, hör endlich auf zu träumen, - aber nein, sie haben es nicht geschafft. Ich habe mich dafür geschämt, anders zu sein, mich selbst gehasst, aber mir war immer klar: wenn ich lebe, dann nur als ich selbst, oder ich wähle den Tod. Wo ist die Treppe? Ja, die Maus kommt mit.
- Hier. Soll ich das Haus hinter uns sprengen?
- Das hat keinen Sinn. Die zwei Bestien, denen du mich überlassen hattest, werden ein anderes Tor in diese Welt finden; das ist wohl nicht das erste Mal für sie. Solange die Achse offen ist, kann sich die Treppe in jedem Haus in der Nähe der Achse öffnen. Wenn sie uns folgen, noch besser. Du wirst es bald am eigenen Leib erfahren, was ich meine.

Er erfährt es. Wir sind fast 500 Stockwerke gestiegen, er hat furchtbare Schmerzen, und kann nicht weiter. Das Licht lässt ihn nicht weiter steigen. Auf dem Millionsten leuchtet es tausendsonnen, hier unten ist es nur zu erahnen, aber er spürt es bereits hier. Ich rate ihm, weiter unten eine kleine Zwischenwelt zu finden, und sich dort auszuruhen. Ich werde natürlich nicht warten, das weiß er. Er findet im 444. Stock eine Tür zu einem langen Korridor. Er hat Schmerzen, etwas zerzerrt ihn von innen, löst ihn auf. Er findet einen Aufzug, steigt ein, und fährt nach unten. Ein Rausch ergreift ihn, er hat Orgasmen, ohne dass er föke. Der Aufzug fährt immer schneller abwärts. Bald ist er unter der irdischen Dimension.

- Und nun?
- Immer weiter, kleine Maus.
- Ich habe keine Kraft mehr, ich breche gleich zusammen.
- Dein Geist bricht zusammen, nicht dein Körper. Wir sind in einer anderen Dimension, hier gelten andere Naturgesetze. Wir sind noch nicht mal im 1000. Stock angekommen, die nächste Welt ist noch sehr weit. Spürst du Schmerzen?
- Nein, ich bin nur müde.
- Setzen wir uns auf die Treppe. Ich könnte aufwärts rennen... Wo wart ihr schönen Mädchen, als ihr herzzerzerrendst vermisst wurdet? Jetzt, wo du mir nur eine Last bist, willst du bei mir sein, - habe ich das leise oder laut gedacht, das hieße, gesagt? Ja, ich habe es gesagt.
- Lass mich doch einfach hier. Du findest oben bestimmt schönere Mädchen.
- Ich finde einfach nur mein Zuhause, nichts weiter. Vielleicht ist es eine leere Welt mit wunderschönen Landschaften und ekelloser Natur. Aber eine Einsiedlerwelt, da bin ich mir fast sicher.



8. Místàí


Damals in der Schule, da war ein hochbegabter Inder, der eine Frau, von der jeder andere geträumt hätte, zwangsheiraten sollte. Er war nicht schwul, er mochte sie, er war in sie sogar verliebt, und sie wollte ihn. Er hatte aber einen eigenen Lebensentwurf, in dem Ehe und Familie nicht vorkamen. Die Familie zwang ihn doch, aus Liebe wurde Hass, und Außenstehende sahen in ihm ein Arschloch, das eine Traumfrau wie Dreck behandelte. Sie hatten zwei Kinder. Er erhängte sich.

- Die ersten 1000 sind geschafft. Das sind 0,1%. Das ist nichts. Mir kommt es vor, als würde das Treppenhaus sinken, während wir steigen. Wir müssen schneller steigen.
- Ich kann nicht.
- Du willst nicht? Geh zurück.
- Du setzt ein Mädchen allein in einer anderen Dimension aus?
- Welpen setzt man aus. Du bist fast erwachsen und ziemlich intelligent. Finde den Eingang in eine Zwischenwelt, ruh dich dort aus, und steig allein weiter. Hier kann dir nichts passieren, nur deine Sünden können dich einholen.
- Was passiert, wenn man trotz Schmerzen immer weiter steigt?
- Es ist auch für mich das erste Mal. Ich weiß es nicht. Im Traum war ich einmal im millionsten Stock, das Licht hat mich bewegungslos gemacht und fast vernichtet. Ich bin heruntergekrochen, und habe mich so noch retten können. Hast du Schmerzen?
- Ich bin nur müde.
- Wir finden weiter oben eine Zwischenwelt zum Ausruhen.
- Unten haben wir doch schon eine gesehen.
- Dann geh zurück und leb wohl.
- Du willst mich allein lassen? Ich weiß nichts über diesen Ort und habe Angst.
- Vergiss es, du brichst mir nicht das Herz. Du wirst mich von meinem Ziel nicht abbringen. Du wolltest dich umbringen, ich habe dir etwas besseres gezeigt. Es ist deine Entscheidung. Meine ist längst gefallen.

Sie schweigt nun, wir steigen langsam, aber wir steigen. Kaum erreichen wir eine Zwischenwelt, die aus einem Korridor und fünf Hotelzimmern besteht, schon will sie mich verführen. Es ist widerlich. Wir schlafen in getrennten Betten, ich wache auf und suche eine Energiequelle. Es ist so eine Art Limonade. Sie schmeckt. Es ist ja eine andere Dimension, keine Simulation. Es gibt sogar Toiletten. Ich bin gespannt, wie weit man mit dem irdischen Körper kommt. Ich spekuliere, dass weiter oben, vielleicht ziemlich weit oben, ein Reinigungspool auf uns wartet; der Körper löst sich auf, und entsteht im Reinpool wieder, nur dass er nun zum Beispiel nicht mehr kackt, oder was weiß ich. Sie will unbedingt Körperkontakt halten, schmiegt sich an mich, doch ich brauche einen klaren Kopf. Ich bin jahrelang ohne Berührungen fast wahnsinnig geworden – ein Mensch braucht mindestens eine Viertelstunde Zärtlichkeit täglich, ich hatte nicht eine einzige in drei Jahrzehnten. Ich kann auch nichts dafür, dass nur Zärtlichkeit von höchster Zartheit zu mir durchdringen kann, und ich alles andere als unangenehm empfinde. Jedenfalls ist die Maus, die mich jetzt begleitet, irre zart, doch ich spüre nur Zorn und verfluche das ewige Zuspät. Alles, wonach du dich geseht hast, woohne du unsagbar gelitten hast, alles kommt zu dir, aber erst dann, wenn du es nicht mehr brauchst. Jetzt zähle ich Stufen, nicht Streicheleinheiten. Mein Guthaben von 800 Milliarden StE kann ich weiter oben in großen Scheinen abheben. Wir halten uns dennoch an den Händen, aber ich fühle gar nichts. Ich will schneller steigen, sie will in jeder Mini-Zwischenwelt Halt machen. Ich wäre etwas entspannter, wenn ich mir sicher wäre, dass das Treppenhaus nicht sinkt.

Ob der Bahnhof der Seelen auch in einer Zwischenwelt liegt? Irgendwo müssen die Gestorbenen ja warten, bis sie jemand nach Hause holt. Wieder dieses Nachhausekommen... Ein Zuhause kann nur eine Zwischenvorstellung sein, eine Arbeitshypothese, denn ohne Hoffnung, noch höher zu steigen, wird jedes unentrinnbare Zuhause zur Hölle. Fast haben wir ein Hunderstel des Weges geschafft, ich trage die Maus auf meinen Schultern seit geraumer Zeit, zarte Mädchen sind nunmal schwach. Dass Menschen, die zu gut für ihre Welt sind, in sie geboren werden können, ist ein Skandal, dass Mädchen, die zu schön für ihre Welt sind, in ihr ausgesetzt werden, ist geschmacklos, doch wenn für eine gegebene Welt zu schöne Mädchen von zu guten Menschen dabei gesehen werden, wie sie mit dem Schmutz in Berührung kommen, ist das höllisch böse. Wer ist der Sadist, der sich daran aufgeilt?

9888 von einer Million haben wir geschafft, hier ist eine etwas größere Zwischenwelt; in Zwischenwelten gibt es keine Natur, nur Artefakte. Wir gehen durch einen langen Flur zu einem surrealen Palast, dessen Innenraum eine Mischung aus Unigebäude, Möbellager, U-Bahnhof, Zahnarztwartezimmer und Kino ist. Im Kinoteil läuft ein endloser Film; kaum setze ich mich in einen Sessel, wechselt der Film, und zeigt die wesentlichen Ereignisse meiner Kindheit. Die Maus setzt sich dazu, der Film wechselt, und zeigt ihre Kindheit. Ich denke: süß, wie niedlich sie war. Sie wird traurig angesichts der emotionalen Vernachlässigung, an die sie diese Bilder erinnern. Ich lasse sie sich an mich schmiegen und sage: sie haben dich nicht verdient. Ich fühle, wie sie nickt. Gattung, Familie, Verhältnisse wie im Tierreich: nicht gut genug für zu feine Wesen, erst recht nicht für echte Individuen, für Selbste, die Iche sind. Als wir schlafen, träume ich, wie sie sich kurz vor dem Ende des Weges in Nichts auflöst, weil sie kein Ich hat. Ich wache auf und denke: wenn das stimmt, warum gibt es solche für die Welt zu schönen Mädchen? Um die edlen Seelen zu quälen? Um den Sinn für das Schöne und Gute zu verspotten, um Nihilismus zu lehren? Oder um an die Transzendenz zu erinnern, und daran, dass eine, eine einzige Welt, nicht alles sein kann, und der Sumpf der Gattung nicht unser Zuhause.



9. Kybele


20228. Die nächste größere Zwischenwelt. Es sieht aus, als würde hier jemand leben, und zwar schon sehr lange. Er ist Ende 50, war Professor, dann Esoteriker, dann in der Geschlossenen. Da die Achse gelegentlich vibriert, kam es zum glücklichen Zufall, dass ein Treppenhaus in einem Psychiatriegebäude in der Nähe von Hannover sich nach oben öffnete. Er wollte nur pissen, und kam hierher. Es war an einem Tag im Herbst 2011, nur für wenige Minuten war an jenem Tag Vollmond. Er sah, wie sich das Treppenhaus oben fast wieder schloss, und rannte hinein. Jetzt lebt er hier. Die Limonade füllt sich von selbst wieder auf, sagt er. Er hat eine Bibliothek gefunden, und will alle guten Bücher lesen, die jemals geschrieben wurden. Er war auch schon viel weiter oben, doch bekam immer stärkere Schmerzen, und stieg einmal hinunter, um sich in einer Zwischenwelt auszuruhen, dabei bemerkte er, dass die Schmerzen nachließen, und ging die Treppe immer weiter hinunter, bis sie verschwanden. Das ist mein Niveau, scherzt er, 20228 Etagen über der Welt, da stehe ich. Er versteht sich gut mit der Maus, könnte als ihr Vater durchgehen. Ich überlege, ob ich sie bei ihm lassen soll, um allein schneller vorwärts zu kommen. Doch was, wenn ich das alles nur träume? Ich brauche einen Beißer, oder zumindest jemanden, der mich ab und zu mal kratzt. Die luxuriösen langen Krällchen der Maus sind eigentlich für Lesbischeres bestimmt, und wenn ich das alles nur träume, dann ist es eben nicht real, und ich kann nichts daran ändern. Nach zwei Nächten lasse ich sie tatsächlich hier, sie ist einverstanden, mag ihn eindeutig mehr als mich, der Alte freut sich über Gesellschaft. Win-win-win.

- Was ist da oben, Mäuschen? Wo will er hin?
- Er sagt, da muss eine andere Welt sein. Er kennt sogar die Stadt, die auf der Achse liegt. In dieser Stadt vibriert sie nicht, darum haben sie einen Tempel um sie gebaut.
- Dorcor, nicht wahr?
- Ja, so heißt sie wohl. Kanntest du noch jemanden, der davon wusste?
- Zwei kannte ich, beide sind irgendwann spurlos verschwunden.
- Und du, bleibst du für immer hier?
- Ich habe da unten nichts verloren. Die haben mich einen Verschwörungtheoretiker genannt, dann für verrückt erklärt, dann eingesperrt. Alles bornierte Wichser da unten. Sie sind Nihilisten, ich verabscheue sie. Sie tun so geistvoll, aber beten das Nichts an.
- Die Religiösen auch?
- Das sind Heuchler. Sie brüsten sich damit, im Geist zu leben, hängen aber an der Titte der Kybele. Alles erbärmliche Materialisten. Allen geht es nur um eines: sich fortpflanzen, damit Kybele zufrieden ist. Trauriges, trostloses Matriarchat. Arbeit, Familie, Sippe, Fressen, Ficken, Tod. Ein Leben für nichts.
- Ich weiß nicht. Strenge Sitten, das ständige Gerede von Moral und von Gott. Religiöse Menschen sind dämliche Spinner, aber doch keine Materialisten!
- Doch, das sind sie. Was fordert denn ihre Moral von ihnen? Fortpflanzung. Ohne Fortpflanzung ist alles im Arsch, und Kybele mächtig angepisst. Als Nächstes kommt Gehorsam. Bloß nicht zu den Sternen schauen, stets bodenständig bleiben! Ein Mann muss eine Familie ernähren, eine Frau muss gebären. Religiöse sind nicht anders als Atheisten.
- Atheisten zwingen niemanden, sich fortzupflanzen.
- Das nicht, zumindest nicht direkt. Aber eine kinderlose Frau gilt auch bei denen als gescheitert: Mutter Kybele ist enttäuscht. Und all diese Homos und Transen: sie müssen ficken, dann werden sie akzeptiert. Wer nicht fickt, ist verdächtig. Er könnte ja denken, nach dem Sinn suchen, das Matriarchat in Frage stellen. Es hat immer große Männer gegeben, die sich aus disem Sumpf befreiten, und in Freiheit lebten. Sie erfanden und entdeckten, starben und hinterließen all das, woran die anderen parasitieren. Die Parasiten des Geistes von Genien haben nie verstanden, dass diese großen Männer nicht die Welt für dieses elende Pack gemütlicher machen wollten, weil auch sie an nichts glaubten, nein, alles, was sie hinterließen, waren nur Abfallprodukte ihrer Sinnsuche. Nun, weil meine Vorlesungen immer mehr zu solchen Tiraden gerieten, je älter ich wurde, hat mich die Uni gefeuert. Ich habe Bücher darüber geschrieben, was die Menschheit am wahren, geistigen Fortschritt hindert. Diese Bücher brachten mich in die Geschlossene, genauer gesagt, dass ich mir mein Recht nicht nehmen ließ, sie auf den Marktplätzen zu verkaufen. Ich kam mir am Ende selbst als Spinner vor, so weit hatten sie mich.
- Und jetzt bist du hier, und siehst, dass du Recht hattest.
- Nein, ich hatte nicht Recht. Ich ahnte immer, dass es etwas gibt, dass diese eine Welt nicht alles sein kann, doch ich wusste nie etwas bestimmtes über andere Welten. Dein Freund scheint mehr darüber zu wissen.
- Er ist nicht mein Freund.
- Das ist mir egal. Erzähl mir, woher er das Wissen hat?
- Aus den Träumen, hat er gesagt.
- Aha, also aus einem früheren Leben.
- Davon hat er nie gesprochen.
- Wie kann er sonst von etwas träumen, was er nicht kennen kann?
- Vielleicht ist er bloß irre.
- Auch ein Irrer kann im Traum nur das zusammensetzen, was er schon kennt.
- Egal. Er kommt nie zurück.
- Hoffentlich kommen andere zu uns hoch, ja, das hoffe ich sehr.
- Dann geh runter und hilf ihnen.
- Man weiß nie, wann sich die Achse öffnet, und wann sie sich wieder schließt. Was, wenn ich da raus gehe, und nie wieder hierher zurück kann? Ich bleibe lieber hier und warte. Wer sucht, der findet. In der Empirie ist das Quatsch, in geistigen Dingen stimmt es immer.
- Aber die Achse existiert doch real. Gehört sie deswegen nicht zur Empirie?
- Ich war zwar Professor, aber nicht in Philosophie. Gehen wir spazieren, hier gibt es einen Garten.
- Einen echten Garten?
- Ja, nur leider ohne echte Pflanzen. Ich weiß nicht, wer diese Zwischenwelten gebaut hat, es scheinen Raststätten zu sein. Es ist schon verrückt, dass das alles existiert, aber wir sind nun hier.
- Ich werde nicht lange bleiben.
- Bist du neugierig, Mäuschen? Du könntest Bauchschmerzen kriegen, ich hab das hinter mir.
- Ich passe schon auf, dass ich nicht zu hoch steige.
- Bist du Jungfrau?
- Ja.
- Dann viel Glück.

Ich wollte einen Freund Ende Januar wiedersehen. Jetzt müsste es Ende September sein, wenn die Zeit hier genauso vergeht wie auf der Erde. Aber vergeht sie gleich schnell? Vergeht sie überhaupt? Es könnte auch der 29. August sein, bis ich wieder, was ich nicht tun werde, heruntergehe, und auf die Öffnung der Achse warte. Das hier ist kein Teil desselben Universums, das ist eine andere Dimension. Zeitloser Raum, das ist die Achse. In der Zwischenwelt altert man nicht, es gibt keinen objektien Zeitdruck. Es gibt nur die subjektive Furcht, dass das alles nicht real ist, es gibt die Sehnsucht, in eine feste Welt einzutreten.

- Jemand hier?
- Natürlich, Junge, das ist 60000. Jemand ist immer hier.
- Wie lange bist du schon hier?
- 360 mal geschlafen. Bald kann ich Jahrestag feiern.
- Hast du jemanden abgelöst?
- So ist es. Und nun warte ich, bis einer mich ablöst. Ich heiße Elias, habe mir den Namen selbst gegeben. Weißt du, warum?
- Ich ahne es.
- Auch du reist in eine andere Welt, ohne gestorben zu sein. Du bist halb so alt wie ich. Wie lange hast du gebraucht, um das hier zu finden?
- Ich habe sehr früh angefangen zu suchen. Mit dem ersten Atemzug, schätze ich.
- Wirst du derjenige sein, der mich ablöst?
- Nein, ich werde weiter gehen.
- Und ich werde wieder runtergehen.
- Was? Wieso?
- Ich will wieder ein richtiges Essen, ich will Natur sehen. Ich will meine Familie sehen.
- Hast du Kinder? Die müssten schon erwachsen sein.
- Ich habe keine Kinder. Ich habe Eltern. Sie sind Ende 80, aber sie sind Eltern.
- Kybele wird dich reichlich belohnen. Verzeih den Sarkasmus.
- Wer ist Kybele?
- Niemand, war nur ein Witz.
- Dann marschieren wir los, Junge: ich nach unten, du nach oben; ich nach Hause, du ins Nirwana.
- Nirwana? Da oben?
- Was denn sonst, Junge? Erlösung, Erlöschung. Das willst du doch.
- Ich will leben.
- Dann komm mit mir! Es wird ein langer Abstieg, langweilig. Leiste einem alten Mann Gesellschaft.
- Du kannst auch den Aufzug nehmen. Aber pass auf, dass du nicht die Nulllinie verpasst, und weiter unten aussteigst.
- Aufzug? Ich habe nie geraucht, bin nie Aufzug gefahren.
- Ich habe auch nie geraucht, aber wenn ich einen Aufzug nach oben sehe, nehme ich ihn.
- Da ist nichts, gähnend leeres Nichts. Aber wie du meinst. Pass auf, dass du wegen deiner Gier nicht als Hund wiedergeboren wirst.
- Gute Heimreise.

Er kann nicht weiter nach oben, er ist frustriert. Hat es einer aus seiner Reisegruppe geschafft, zumindest die 100000. Etage zu erreichen? Ich gehe mal nachsehen.



10. Luna, Luna, Luna


In einem Videospiel kann man jederzeit auf Pause drücken. Ich treffe nun jemanden, der in der Realität auf Pause gedrückt hat: er kam hierher, nistete sich in einer größeren Zwischenwelt auf der 99861. Etage ein, und lernt hier fürs Abitur. Er wird hier nicht altern, aber in die Welt mit einem großen Wissensvorsprung zurückkehren; während die Zeit auf Erden stillsteht, werden hier Jahre spurlos vergehen, und er kann lesen, sich entspannen, über die Zukunft nachdenken, und mit vollem Tank wieder ins Leben eintauchen.

Die Zeit steht still, doch was ist mit der Zärtlichkeit? Der Junge ist 17, er hat noch Hoffnungen, die auf der Realität basieren, nicht auf purer Phantasie. Er hofft, noch zu sogenannten Lebzeiten glücklich zu werden. Er hat vor, Großes zu erreichen, und alles einer halbwegs hübschen Frau vor die Füße zu werfen. Er war noch nie verliebt, daher vermisst er das nicht. Er hatte noch nie Sex, daher drehen sich alle seine Wünsche nur darum.

- Überleg mal, Junge, was wäre, wenn du dir auch die Früchte, für die du so hart arbeiten willst, gleich hier holen könntest?
- Dann wäre das Leben ja sinnlos! Wenn man schon alles hat...
- Dann ist man unbestechlich. Du könntest, wie man so sagt, die Welt verändern.
- Aber wozu, wenn ich schon alles habe, was ich mir gewünscht habe? Wozu sich noch weiter anstrengen? Wozu noch etwas tun? Kennst du dich hier aus, gibt es hier echt so scharfe Miezen, kann man hier für immer bleiben?
- Würdest du für immer in einer Zwischenwelt leben wollen?
- Warum nicht? Wenn ich hier alles habe. Und du?
- Ich will die nächsthöhere erreichen, dann werde ich weiter sehen.
- Hier bist du aber unsterblich. Lass uns zusammen Miezen suchen, jeder baut sich eine Zwischenwelt mit hunderten von Miezen, und hin und wieder treffen wir uns an einem neutralen Ort und trinken Tee.
- Es gibt hier keinen Tee. Außerdem weiß ich nicht, was beim Sex passiert, vielleicht wird man ohnmächtig, und wacht woanders auf.
- Lass uns es erstmal versuchen! Wovor hast du Angst?
- Ich habe Respekt, nicht Angst. Die Achse ist kein Bordell. Ich habe nicht Sex gemeint, du hast mich missverstanden. Ich dachte an die Möglichkeit, dass die geliebten Mädchen hier oben in Sicherheit vor der Welt leben könnten, während man selbst da unten seine Mission erfüllt. Ab und zu könnte man wieder herkommen, auf Pause drücken, und seinen Tank aufladen. Das Herz hier lassen, und ohne Angst leben.
- Die Geliebte wie eine Maus verstecken? Wozu? Sie ist doch der größte Pokal, den man gewinnen kann, und alle sollen sehen, dass man gewonnen hat! Das schönste Mädchen der Welt erobern, darum geht es doch! Und nicht heimlich und hier, was willt du hier, dich mit ihr langweilen?

Der Junge hat noch nie geliebt. Er könnte abstürzen. Er ist unschuldig und naiv, aber wird sich schon bald mit Schuld beflecken, und diesen Ort an einer anderen, viel niedrigeren Stelle, wiederfinden. Auf der 100000. Etage steht ein Brunnen. Als Kind wollte ich wissen, was passiert, wenn man in einen Brunnen fällt. Die Großeltern sagten, es wäre der unendliche Fall, man würde niemals irgendwo ankommen: „Упадёшь в колодец, а там луна, луна, луна...“ Wie viele Reisende haben hier schon etwas hineingeworfen? Ich enthalte mich dessen und gehe einfach weiter. Auf welchem Stockwerk gibt es die erste Tankstelle? Wenn es sie gibt, wofür sind sie gedacht? Um den Reisenden zur Wiederkehr zu verführen, damit er glücklicher und ausgeruhter in eine katastrophal schlechte Welt zurückkehren kann, in die schlechteste aller möglichen Welten, so schlecht, dass die nächsttiefere Welt unter ihr schon zum Bereich der Hölle gehört?

- Fluor!? Verflucht, was machst du denn hier?
- Du undankbarer Bastard! Du hättest das Leben haben können, das du wolltest, und hast alles weggeworfen, nur um diese alberne Treppe hochzusteigen! Da ist aber gar nichts. Du erlischst, das ist alles. Keine Liebe, kein Glück, nur das Nichts.
- Mag sein. Ich werde jedoch selber nachsehen. Wo ist Chlor?
- Sie kann nicht so weit hoch, sie würde sich in Nichts auflösen... Sie und ich, wir können unendlich viele Sünden begehen, und kommen nie in die Hölle. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu nah ans Licht kommen, sonst werden wir für immer vernichtet.
- Sind Sünden noch Sünden, wenn man kein Ich hat?
- Ich freue mich, dass ich keines habe. Mit einem Ich verflucht, spürst du die Gegenwart des Höchsten Lichts selbst in der tiefsten Hölle, und zwar indem du davon getrennt bist, und unendlich darunter leidest. Sündigst du, steigst du ab, aber stirbst nicht. Du musst dich dann wieder quälend lange hocharbeiten, hast aber nie Gewissheit, ob es hinreicht. Dein Herz ist immer schwer und bang, du lebst in Furcht und Sehnsucht.
- Und in Freude, in Zuversicht, in Hoffnung. Kein Reichtum und keine Lust der Welt können sich mit dem Glück messen, das Höchste Licht wert zu sein.
- Aber du kannst nie wissen, ob du es bist.
- Und sollte ich es werden – dann ist vielleicht kein Nirwana da oben, sondern eine Welt.
- Welten, neue Welten, eine unendliche Reise ohne Ziel!
- Weltenebenen können eben nicht übersprungen werden. In meiner letzten Welt war der Ekel die alles beherrschende Empfindung. Eine Welt ohne Ekel wäre es mir wert, ein langes und schweres Leben in ihr zu führen. Hätte ich in der Welt, in der ich eingestiegen bin, noch etwas zu erledigen, wäre mir der Aufstieg womöglich verwehrt worden.
- Vielleicht aber auch nicht. Du bist auf der Flucht vor deiner Aufgabe. Du hast deine Mission verlassen. Denkst du, das Höchste Licht wird dich dafür belohnen? Ich wette, du wirst zurechtgewiesen und zurückgeschickt.

Wir gehen schweigend zusammen die Treppen hoch, Fluor ist noch nicht besorgt wegen ihres möglichen Verschwindens. Das wäre aber das, was bei den Vampiren der wahre Tod heißt: sie würde nicht wiedergeboren werden, es wäre die endgültige Vernichtung ihres empirischen Ichs, das kein transzendentales Ich über sich hat. Auf der 112016. Etage finden wir eine luxuriöse Zwischenwelt, die alle bisher gesehenen weit in den Schatten stellt. Doch das ist nur eine Raststätte, noch keine Tankstelle, sagt Fluor. Sie war schon hier, weil sie an der Tankstelle schonmal gearbeitet hat, und die erste ist weiter oben. Ich stelle fest, dass es hier guten Tee gibt, aber auch Zwischenweltschokolade in wohltemperierenden Kühlschränken. Die Marzipan-Schokoladenpastete „Arthur Schopenhauer“ mundet mir vortrefflich, auch die kleine Bitter-Tafel „Hamilcar Barca“ ist nicht von schlechten Chocolatiers. Der Einfluss der unteren Welt ist noch zu spüren, sagt Fluor. Bald kommen wir in die Wüstenbereiche, und irgendwann wird sich die obere Welt bemerkbar machen. Willst du nochmal Geschichte lernen, nochmal Erdkunde, eine andere Weltliteratur lesen, fragt Fluor. Ich freue mich sogar darauf, und weise darauf hin, dass die Mathematik wohl dieselbe sein wird. Es gibt sechs Tankstellen vor der Lichtwüste, klärt mich Fluor auf. Sie bangt, dass sie bis zur höchstgelegenen nicht mehr aufsteigen kann, aber sie will mich unterwegs überzeugen, dort zu tanken, und in die trostlose Welt von Abraham und Epikur, von Buddha und Dschingis Khan wieder zurückzukehren.



11. Dihairesis


Da stehen sie schon wie Marktweiber vor der Tankstelle, und begrüßen mich und Fluor. Die älteren dieser etwa 50 Frauen werden Nonnen gewesen sein, oder auf andere Weise jungferngeblieben. Wer Sex hatte, muss sterben, er kommt nicht durch die Achse. Gilt es auch für Masturbation, frage ich eine Nonne, und sie verneint freundlich. Sie sagt, die sexuelle Vereinigung mit einem anderen Menschen sei  de facto ein Heiraten, und man sei an die Welt, in der man Sex hatte, bis zum Tode gebunden.

128112, warum auch immer. Die erste Tankstelle ist hier, sie bieten Linderung. Ich gehe wortlos weiter, Fluor folgt nach. Ein Bisschen Streicheln ist nicht genug, werde ich grimmig: ich hatte mehr erwartet. Einfach nur schöne junge Frauen, die einen in die Welt zurückkuscheln wollen. Der Rückweg aus den Tankkabinen ist verschlossen, man kann nur in die Welt hinabrutschen, immerhin auf der geilsten Wasserrutsche, die man sich vorstellen kann.

Wir gehen und gehen, und wenn wir müde werden, halten wir an für einen seichten Schlaf. Die zweite Tankstelle ist auf der 151009. Etage, da bieten sie jedem sein eigenes irdisches Leben in Bestversion an, danach geht es in die Realität zurück. Eine Trash- oder Demoversion dessen hatten mir Chlor und Fluor damals andrehen wollen, als ich bewegungslos dalag. Ich würde mein irdisches Leben - in einer Art Simulation - so leben, wie ich es mir wünsche, aber ich wünsche mir kein irdisches Leben.

180444. Etage, die dritte Tankstelle. Machtgarantien werden versprochen: wenn ich hinabrutsche, werde ich einige Extrakräfte haben, die sich zwar mit den Naturgesetzen nicht beißen, aber einen enormen Vorteil im Leben verschaffen. Doch Vorteil – wobei? Was soll ich überhaupt erreichen wollen? Dort unten habe ich nichts verloren, ich bin mit dieser Welt fertig. Lieber im Himmel ein Hund sein, als in der Hölle ein König.

200216, die Wüstenmarlene im hauchdünnen Abendkleid begrüßt mich. Sie ist weder schön noch zierlich, einfach nur extrem sexy, und hat pralle Brüste. Eine, mit der ein Feinschmecker nicht das Luxusbett teilen würde, aber anzusehen, wie sie nascht, ist ein erotischer Hochgenuss. Die Naschkatze will mir mein Gewissen nehmen, damit ich alles tun kann, was Lust und Phantasie an Möglichkeiten erfinden. Sie hat 116 Mädchen und Miezen vorrätig, alle unfassbar schön. Wenn sie aufgebraucht sind, kann ich ich in die Welt runterrutschen, und weiterhin das Leben genießen: ich würde keine Skrupel mehr kennen...

- Sie will mich kastrieren.
- Im Gegenteil, du bekommst unendliche Potenz.
- Fluor, ich meine nicht den Schwanz, ich meine das transzendentale Ich.
- Es ist eh eine Last. Ergreif die Gelegenheit, und befrei dich davon!
- Dann kann ich nicht weiter hoch.
- Du bist ja besessen! Glückseligkeit ist keine Position im Raum.
- Aber wenn ich hier bleibe, kann ich die 5. und 6. Tankstelle nicht mehr sehen. Zurückkehren kann man ja immer.
- Für mich ist bald Ende. Wenn du weitergehst, lasse ich mir eine süße Maus servieren, die dir herzzerreißendstens gefallen würde, und werde sie genüßlichst fölterln.
- Die Maus ist nicht echt.
- Aber mein Genuß wird echt sein. Wo ist überhaupt der Unterschied? Komm mit mir, und du kannst naschen, soviel du willst. Vielleicht bekommst du mehr als die 116, ich kann etwas für dich aushandeln. Dein tausendjähriges Reich in einem Schloss der Zwischenwelt, jede Woche eine neue Maus, ja jeden Tag, wenn du willst! Du hast Lieblingsmiezen, die nicht altern werden, und die du dir bis zum Ende der 1000 Jahre aufhebst, du hast Verwöhnmiezen, und so viel zu naschen, wie du dir nicht vorstellen kannst!
- Ich kann mir vieles vorstellen. Ich kann mir auch vorstellen, ohne Naschdrang zu leben, der nur ein Versuch der Selbsttranszendenz eines übersteigerten Sexualtriebs ist. Alle Sexualität strebt nach Erlösung...
- Solange du ein Ich hast, ist es so. Lass dich davon befreien, und du fühlst dich wohl im Leben!
- Geist oder Leben – ich muss eine Entscheidung treffen. Sie fällt ja so verdammt schwer...
- Du zynischer undankbarer Bastard!
- Undankbar, ich höre das so oft. Wofür schulde ich Dank? Wem? Ich habe um nichts gebeten, wurde in eine Welt geboren, die mir immer ein Gefängnis war, oder bestenfalls eine Wüste. Egoisten, Narzissten, jede Menge Arschlöcher, - alle haben mich gelehrt, ich sei ihnen unendlich viel schuldig, als ich ein Kind war. Kinder ficken – dafür gibt es Höllenstrafen. Kinder ins Hirn ficken – was gibt es dafür? Ein Lob vom Hirten? Unterordnung, Selbstverleugnung bis zum Selbsthass, Fixierung auf die Gemeinschaft, auf die Titten, auf die Vagina, - das haben sie mich gelehrt. Ich habe aber eine andere Lektion gelernt: es gibt nur das Ich und das Nichts. Ein Leben im Geist oder ein geistloses Leben. Ich habe mich längst entscheiden.

Ich steige weiter die Treppen, Fluor geht wortlos hinter mir her, hat sich wohl in mich verguckt. Ich vernehme auf der Höhe der ungefähr 210000. Etage einen kurzen Blitz, drehe mich um, sie ist weg, hat sich im Nichts aufgelöst. Mir beschäftigt nicht die Frage, ob sie nun endgültig tot ist, vielmehr stelle ich fest, dass ich mich noch nie so wach gefühlt habe; das hier kann kein Traum sein, das ist Realität, vernehme ich geschärfter Sinne. Der Tee, die Schokolade, das Eis, - die Raststätten laden ein zum Bleiben, aber ich muss weiter. Es gibt keine Früchte, weil in den Zwischenwelten keine Pflanzen wachsen. 228996. Die fünfte Tankstelle. Der Angebot lautet: meine eigene Welt. Ich kann jahrtausendelang in meiner Phantasiewelt leben, die durch meine Gedanken Realität wird. Alle Mädchen, die ich mir dort unten in der Wüste ausgedacht hatte, würde ich treffen. Meine eigenen Landschaften und Planeten, ein eigenes Universum, - natürlich ist das Solipsismus, doch das empfindende empirische Ich wäre zufrieden. Das transzendentale Ich sträubt sich, nicht zuletzt, weil es noch eine 6. Tankstelle gibt. An einen Gag glaubt es sich mir nicht, ich habe nicht die Befürchtung, dass dort eine grimmige Tante steht, die einem sagt: deine Gier ist nicht zu befriedigen, nun, hier gibt es nichts mehr; die Tankstellen unten werden jetzt geschlossen, und du kannst reumütig absteigen und nach Hause gehen, oder die Treppe endlos weitersteigen, ja, es wird kein Ende geben, weil es das ist, was du dir wirklich wünschst.

Ich rechnete mit 260000, doch verrechnete mich. Als hätte ich die grimmige Tante tatsächlich gesehen. Ich fühle, also fühle ich mich einsam. Ich fühle mit nach außen und innen geschärften Sinnen, also fühle ich mich einsam hoch x. Zurück zur Fünften? Immerhin kenne ich meine eigene Traumwelt, und es war immer mein größter Wunsch, genau dort zu leben, und nicht an einem Ort, dessen Regeln ich nicht selbst bestimmen kann. Wenn sie mir 20000 Jahre geben, kann ich mit einer gigantischen Zufriedenheitsreserve zurückkehren, - aber wird es nicht wie ein Traum vorkommen, wenn es vorbei ist? Und was soll ich dann dort unten machen, nachdem ich im solipsistischen Paradies war, - in Erinnerungen schwelgen? Oder kann ich aushandeln, dass ich mich immer wieder für Jahrhunderte in meine eigene Welt zurückziehen kann, vielleicht an jedem 31. Dezember um 11 Uhr abends? Doch während ich all dies denke, gehe ich, wie ein Soldat, immer nur vorwärts. Über ein Was-wäre-wenn-Gegrübel kommt es nicht hinaus, ich bleibe meinem Weg treu, und treffe auf ihm einen Mann Mitte 40 mit Gesichtszügen eines Kriegsveteranen.

Er erzählt: „Ich wollte die Hölle finden. Es muss eine Hölle geben, hatte ich gedacht. Nach 18 Jahren Suche fand ich die Achse. Es hat damit angefanen, dass ich einen Lokalpolitiker erpressen wollte. Er war Anwalt von Beruf und missbrauchte seine achtjährige Tochter. Ich bekam es durch einen Zufall mit und kontaktierte ihn. Er wollte mir Geld geben, damit ich schweigen würde, dass seine Anwaltskanzlei ein Schwindel war, und er Schulden bei einem kriminellen Clan hatte, - ja, das ging ihm durch den Kopf, als ich ihn auf sein dreckiges Geheimnis ansprach. Woher wissen Sie von meinen Schulden, dass ich bankrott bin, wer hat es Ihnen gesagt, was wollen Sie? Das waren seine Worte. Als ihm klar wurde, dass ich ein anderes Geheimnis meinte, atmete er erleichtert auf, lachte, und spottete, ich würde es ihm niemals nachweisen können. Er war Anwalt, er wusste es besser. Ich kannte die Wahrheit, entführte und folterte ihn jahrelang, während ich das Tor zur Hölle suchte, um ihn lebend dort abzuliefern. Das Stück Vieh verendete nach 14 Jahren, die nicht qualvoll genug waren. Ich schlug und trat Fressen von Mißgeburten ein, die Menschen, die öffentlich den Kinderschändern wünschten, was ich dem einen tatsächlich antat, als Sadisten und Barbaren verspotteten. Mir ging es darum, hässlichen Seelen entsprechende Visagen zu zimmern. Auf der Flucht vor der Polizei suchte ich weiter nach dem Tor zur Hölle, und fand die Achse, das ist nun 7 Jahre her. Ich wollte runter, die Hölle heizen, aber fand keinen Weg dorthin. Darum bin ich jetzt hier, und überlege, an der Fünften zu tanken, um die Erinnerungen loszuwerden, um sie mit guten zu ersetzen, und Frieden zu finden“. „Du suchst keinen Frieden“, sage ich, „du suchst Krieg. Krieg wäre auch für mich der einzige Grund, wieder zurück zu gehen. Dort unten gibt es kein Glück, es gibt den Krieg, den Tod oder die Verdammnis. Ich will in einer Armee kämpfen, und wenn ich meinen Heerführer finde, der mich runter schickt, gehe ich wieder runter. Für nichts lasse ich mich nicht verheizen, ich bin ein gerechter Krieger, kein verirrter Mörder. Ich will die absolute Gewissheit, für das Gute zu kämpfen, keinen bloßen Glauben“. Das Böse wird es wohl auch in besseren Welten geben. Es ist nur sinnvoll, von oben nach unten zu fegen, also gewinnen wir zuerst den Kampf in der höchsten Welt, in der es das Böse gibt, und treiben es in immer tiefere Welten vor uns her, bis alles Böse in der Hölle ist! Ein Traumjob, gewiss. Ist das vielleicht meine Berufung? Ich kann mich jedenfalls dafür begeistern. Keine Arbeit ist sinnvoll, bevor diese getan ist.



12. Diurne


- 280000, und immer noch nichts.
- Die Lichtwüste macht den Großteil des Weges aus, die Sechste müsste bald kommen.
- Geheimwissen? Ahnung? Intuition?
- Ein spekulativer Schluss.
- Das Steigen macht dir Freude, Junge.
- Das war mein Kindheitstraum. Der wahre Kindheitstraum. In der Lichtwüste gibt es wahrscheinlich keine Zwischenwelten, wir müssen im Treppenhaus schlafen.
- Du, nicht wir. Ich gehe nur bis zur Sechsten.
- Was ist denn so Unwiderstehliches da?
- Es ist das Nirwana. Ich bin des Existierens leid, und werde mich selbst erlösen.
- Woher weißt du, dass da das Nirwana ist?
- Spekulativer Schluss. Womit kann man einen locken, der selbst seine Traumwelt verschmäht hat? Gottes Himmel kann es nicht sein, der ist weiter oben. Der Preis dafür ist ewiges Steigen in ständiger Gefahr des Sinkens und Abstürzens.
- Du bist dessen überdrüssig.
- So ist es. Ich würde mich mit keiner Welt anfreunden können. Ich kann einfach nicht begreifen, warum jede Existenz beschwerlich sein muss. Wieso muss erst ein Ziel erreicht werden, damit man glücklich ist? Warum muss man kämpfen, leiden, steigen, Opfer bringen, entbehren? Warum kann nicht von Anfang an alles in Ordnung sein? Das ganze All, und ich meine das ganze, hat einen Konstruktionsfehler. Gott ist ein Schwindler.
- Warum wollen wir glücklich sein, welchen Sinn hat das? Glückseligkeit kann doch nicht alles sein, es muss einen höheren Sinn geben.
- Der höhere Sinn verschiebt den Konstruktionsfehler nur weiter nach oben. Was wäre denn der Sinn eines höheren Sinns, eines höchsten Sinns?
- Wozu ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts? Auf diese Frage kommt jedes tiefere Nachdenken hinaus. Ich will den Weg bis ganz nach oben gehen, um die Antwort zu finden.
- Und wenn sie dir nicht gefällt? Wenn sie banal ist? Wenn es keine Antwort gibt, und Gott uns nur verarschen will? Was hoffst du wirklich da oben zu finden?
- Ich weiß nicht, vielleicht einen roten Knopf, auf den man drücken kann, um das All zu vernichten, und zwar so dass nie wieder etwas und nicht vielmehr nichts ist.
- Du bist witzig. Aber Gott muss noch witziger sein. Für ihn ist alles ein Witz: er ist allmächtig und allwissend. Ihm muss furchtbar langweilig sein.
- Seine unendliche Güte hast du nicht erwähnt – vermutest du, dass er nicht gut ist? Ist das deine Furcht, oder eine paranoide Vorahnung?
- Nach allem, was wir, und ich meine die Menschheit, bisher wissen: ein spekulativer Schluss.

Etage 296000, so hoch hängen die süßen Trauben des Nichts. Er hat Recht behalten: es wird nichts Geringeres als die Nichtexistenz angeboten. Für immer verlöschen. Er ist am Ziel, sein Kampf ist zu Ende. Das Böse muss vom Schöpfer gewollt sein, also hat es keinen Zweck, die Hölle aufzumischen, und den Teufel mit dessen eigenen Hörnern in den Arsch zu ficken. Das ist seine Rechtfertigung für den totalen Selbstmord. Seine letzten Gedanken haben einen tiefen Nachhall, ich steige immer lustloser, von Zweifeln zerfressen, das Dasein wird mir schal. Wenn wir mit dem Blick nicht mehr an Erscheinungen kleben, wenn wir unser Sinnenwesen verlassen, und reiner Geist werden, sehen wir, wie leer alles ist, und erstreben das Nichtsein. Aber ist das die Perspektive des Geistes, oder ist vielmehr nur für die Sinne alles leer, wenn es keinen sinnlichen Inhalt mehr gibt? Die Leerheit ist der letzte Schleier der Erscheinung, sie ist selbst Täuschung, Maya, Illusion. Die Wahrheit hinter der Leerheit ist, dass unser wahres Wesen das geistige, nicht das sinnliche ist, und das geistige Wesen ist nicht leer.

Die Lichtwüste ist anstrengend, die Temperaturen schwanken zwischen unerträglich heiß und arschkalt, es gibt keine Nahrung mehr, nicht einmal diese komische Limonade. Es ist ein Weg der Erschöpfung. Wer nicht mehr kann, bleibt liegen, und wird von Aliens in weißen Kostümen in einen Fahrstuhl geschoben, welcher sich in der weißen Wand öffnet und wieder in der Wand verschwindet. Die Erschöpfung wird durch die Intensität des Leidens überwunden, ich schreite wieder schneller voran, beiße mir auf die Seele, und steige einfach weiter. Die Sinne sind wie abgeschaltet, ich habe nur das Ziel vor Augen; mir ist weder kalt noch heiß, ich bin weder müde noch hungrig, mein Körper ist nur das Werkzeug, das mich meinen Weg gehen lässt, und je mehr ich mich davon entfremde, umso schneller wird mein Aufwärtsgang.

Die Hälfte der Million ist geschafft. Ich durchschreite unbeirrt die Lichtwüste, weiter, immer weiter, raste nur kurz auf den Treppen, ziehe mich am Geländer hoch oder renne, sobald eine neue, noch tiefere Kraftreserve in den Tiefen meines Willens erschlossen wird. Bald kommt der Pool, ich werde einen neuen Körper bekommen, einen, der der nächsten Welt angemessen sein wird. Bald, schon bald. Der Wille und die Zahl an der Wand, alles andere ist verschwunden. 643542, 643543, 643544... Immer weiter. Tee und Schokolade sind abstrakte Begriffe. 671008, 671009, 671010... Das Gefühl auf der Haut ist ein poetischer Ausdruck, ich habe keine Empfindung, die ihm entspricht. 699998, 699999, 700000. Die fünf Nullen fühlen sich wegen der 7 frisch und kühl an, sie stillen meinen Durst und geben mir Kraft. Nur nicht stehen bleiben. Gönnte ich mir nur fünf Minuten Bequemlichkeit, verreckte ich auf der Stelle. 800000, eine kuschelweiche Zahl, sie gibt mir das Gefühl des Ausgeschlafenseins. Was ist Schlaf? Wenn ich kurz anhalte, dann bleibe ich stehen, atme durch, und steige steilen Schrittes weiter. 881006. Der Pool. Ich springe hinein, irgendwas löst sich im schaumigen salzigen Wasser auf, aber mein Körper ist es nicht mehr, denn der ist nunmehr im Reinpool hinter einer unüberwindlichen Wand. Er ist jünger, schöner, und fühlt sich wie neu an. Bald fühlt er sich wie ich an. Ich schätze, es dauert genauso lange, mit diesem Körper eins zu werden, wie es gedauert hat, mich mit meinem alten Körper in der Lichtwüste zu entzweien.

Die erste Zwischenwelt, Etage 899229. Eine kleine Bibliothek mit unbekannten Büchern. Die Sprache scheint mir angeboren zu sein, aber ich weiß, dass ich sie nie vorher gesprochen habe. Bin ich immer noch ich, wenn alles, was mich ausmachte, nach und nach ersetzt wird? Die Erinnerungen an die vorige Welt sind dunkel. Ich kann mich bei höchster Denkanstrengung nicht an das Ekelhafte erinnern, ich kann das Grauen des Ekels, dem ich einst ausgesetzt war, nur ahnen, aber habe es nicht bildlich vor mir. Abgesehen davon, kann ich mich an alles erinnern.

Die vermeintlich erste war die einzige Zwischenwelt. Es ist nicht so ungemütlich wie in der Lichtwüste, aber es ist langweilig und wird immer heller. 980496, 980497, 980498... Die Stufen sind kaum mehr zu erkennen. 999001, 999002, 999003... Licht, überall Licht. 999998, ich kann nicht mehr stehen, ich muss kriechen, aber nicht wie in jenem Traum nach unten, sondern nach oben, zum Höchsten Licht. 999999. Als bliese der kälteste aller Winde. Die letzten Stufen.

Die letzte Stufe. 1000000. Das Licht wird dunkler, endlich ist etwas zu sehen. Das Licht ist fast erloschen, und es öffnet sich eine Tür. „Místàí“, höre ich Mönche in schwarzen Roben rufen, während ich auf die Beine komme, und die Tür durchschreite. Kein Dämon, kein Zwischenweltling, ein Mensch, der zwischen Welten gereist ist, ein Seher, - ein Místàí, wie man in Dorcor sagt. Und schon sitze ich am Tisch, und lerne den Geschmack des schwarzen Tees, wie er wohl tatsächlich gemeint war, endlich kennen.


Anmerkung von Terminator:

1.2016

In einer besseren Welt erweitert und verfilmt, genauer gesagt, verserie:t.

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Gttata 
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Kommentare zu diesem Text


 RainerMScholz (05.02.24, 15:00)
Erinnert mich an Dietmar Dath. Muss ich aber, glaub´ ich, nochmal lesen.
Grüße,
R.
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