Das Weihnachtsmärchen

Kalendergeschichte zum Thema Traum/ Träume

von  IngeWrobel

Das Weihnachtsmärchen

Ich war im Buchladen. Ich wollte meinem kleinen Mädchen ein Märchen zu Weihnachten schenken. Es sollte das schönste aller Märchen sein. So schön, dass ich es meinem kleinen Schatz abends vorm Einschlafen vorlesen oder erzählen könnte in dem Bewusstsein, dass mein Kind die wunderschönsten Träume hätte. Feen sollten in dem Märchen vorkommen und ein gütiger alter Zauberer, und ein Einhorn. Auch viele andere Tiere, die mein Töchterchen schon aus dem Zoo kannte – nur, dass diese im Märchen nicht eingesperrt waren. Und ein Kragenbär. Ja, ein Kragenbär sollte darin vorkommen. Er wäre noch kuscheliger als ihre Teddys, und beim Hören des Märchens könnte man sich vorstellen, langsam selbst in solch einem weichen Kragen zu versinken, sich wohlzufühlen und sanft in das Reich der Träume zu gleiten.

Die Bibliothekarin erklärte mir, dass es dieses Märchen nicht gebe.
Ich würde es selbst schreiben müssen.

Am Abend des Tages dachte ich vorm Einschlafen über das zu schreibende Märchen nach. Im ersten Aufwachen erfüllte mich ein ungekanntes Glücksgefühl. Ich erinnerte mich an meinen Traum. Ich hatte ein Märchen geträumt – das Märchen.
Alles kam darin vor: von den Feen bis zum Kragenbär waren mir im Traum alle Wesen begegnet, an die ich am Tage gedacht hatte. Ich selbst war in meinem Traum eine Prinzessin in einem wunderschönen Kleid.
Das wohlige Gefühl, das mich ganz erfasst hatte, und das zu beschreiben mir mit Worten unmöglich ist, verließ mich, je mehr ich versuchte, mich an Details des Traumes zu erinnern.

Mich ergriff alsbald eine Panik. Die Vorstellung, der Traum könne für immer verloren sein, ließ mich zu Papier und Stift greifen. Aber nur ein einziges Wort stand dort auf dem weißen Blatt: Kragenbär.
Das Nachdenken und Bemühen, mir den Traum ins Bewusstsein zu holen, hatten diesen völlig verdrängt. Die letzten Bilder verflüchtigten sich vor meinem geistigen Auge in einem Nebel, der immer undurchdringlicher wurde.
Da hatte mir das Schicksal die Erfüllung meines Wunsches in den Schlaf gelegt – und ich hatte nicht zugegriffen!

Mein Tag verlief trist und unbefriedigend. Ich erledigte meine Arbeit und ignorierte das Grummeln meines Chefs, der von mir hören wollte, was er seiner Familie zu Weihnachten schenken sollte. Wie konnte ich ihm raten, wo ich doch das selbe Problem hatte?! Die Ohrringe für meine Frau hatte ich rechtzeitig beim Juwelier zurücklegen lassen. Sie passten zur Kette, die ich ihr letztes Jahr schenkte; darüber musste ich keinen Gedanken mehr verschwenden. Aber meine Tochter – was sollte mein Sonnenschein dieses Jahr erhalten?

Am Abend dieses Tages drückte ich mein Kind nur kurz und sanft, als ich ihm eine gute Nacht wünschte. Früher als sonst legte ich mich selbst zur Ruhe. Die  Annäherungsversuche meiner Frau, die wohl noch kuscheln wollte, ignorierte ich. Ich wollte nur schlafen.

Unter meinen geschlossenen Lidern zeichnete sich das Bild eines Kragenbären ab.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Glücksgefühl: der Traum war erneut zu mir gekommen. Anstatt zu versuchen, ihn aufzuschreiben, stellte ich den Wecker ab und drehte mich auf die Seite, um nochmal einzuschlafen.
Tatsächlich schlief ich wieder ein. Ich träumte sogar, aber dieser Traum gefiel mir ganz und gar nicht. In ihm erklärte ich meinem Chef mein verspätetes Erscheinen im Büro.

Genau so, wie geträumt, lief es dann auch in der Realität ab. Der Chef runzelte zwar die Stirn, aber behandelte meine Verspätung dann als einmaligen Ausrutscher, der in dieser hektischen Vorweihnachtszeit verzeihlich sei.
Nach einem freudlosen Tag ging ich abends früh schlafen und stellte mir vor, in einem weichen großen Kragen zu versinken.

Der Traum war wieder da.
Aus dem Büro hatte ich mir vorsorglich ein kleines Diktiergerät mit nach Hause genommen, um für diesen Fall gerüstet zu sein. Noch beim Formulieren und der Beschreibung des ersten Traumbildes entschwand es aus meiner Erinnerung, löste sich auf, während ich nach passenden Worten suchte.
Dieser Traum war einfach unbeschreiblich, mehrdimensional – ein Film, den man mit allen Sinnen erfassen, nicht aber erklären kann.

Mein Hausarzt schickt mich nach den Feiertagen in ein Schlaflabor. Dort soll geklärt werden, was an meinen Nerven zehrt, mich abmagern lässt, warum ich nicht mehr richtig schlafen kann – und doch jeden Morgen mit lächelndem Gesicht erwache.
Ich habe auch eine Überweisung zu einem Psychotherapeuten.
Ich weiß ja, was mich krank macht. Aber wie könnte ich das meiner Familie und den Ärzten verständlich machen, wenn ich noch nicht mal einen ständig wiederkehrenden Traum beschreiben kann?

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Kommentare zu diesem Text


 franky (28.11.20)
Hi liebe Inge!

Dein Weihnachtsmärchen schlief unter deinem Kissen,
du konntest es mit Worten nicht einfangen.
So bleibt es nur für dich reserviert;-)

Liebe Wochenendgrüße von Franky

 IngeWrobel meinte dazu am 28.11.20:
Lieber Franky,

ich danke Dir für Dein Mitgefühl und Verständnis!
Meine Frau ist da weniger einfühlsam – und ich fürchte, sie wird sich meiner Abschiebung in die Klappse nicht entgegenstellen, wenn die Ärzte sich mit mir beschäftigt haben. Sollte man mich als geheilt entlassen, melde ich mich wieder bei Dir!
Dein Manfred

PS: Wochenendgrüße von Inge zurück!
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