An einem Sommertag auf der Treppe vor der Stiftskirche

Alltagsgedicht zum Thema Begegnung

von  tulpenrot

3. Version
es ist zum Glück schattig hier
vom Kirchturm läutet es 11 Uhr
ein alter Mann torkelt vorbei
als ob ihn die vergangene Nacht noch nicht entlassen hätte

auf der Treppenstufe links neben mir spaziert eine Taube
nickt mit dem Kopf nach Taubenart
ich habe kein Futter für sie
auch von dem grauhaarigen Mann mit Brille und Rucksack
bekommt sie nichts
er sitzt ganz aufrecht
lesend
rechts von mir auf den Stufen
feine Gesichtszüge
gebräunt
ob er aus Indien stammt?

gegenüber an der Häuserecke musizieren Straßenmusiker
anscheinend Vater Mutter Sohn Tochter
bescheidene instrumentale Ausrüstung
nur Gitarre und Schellentambourin
dazu singen sie mehrstimmig
rhythmisch abwechslungsreich
Lieder über Glück und Unglück
von Schafen und Ziegen
von verlassenem Land
sicher handeln sie auch von Liebe und Sehnsucht
von Hunger, Vertreibung und Wanderung
große Menschenthemen
Wehmut klingt aus ihrer Musik

eine Mutter mit Zwillingskinderwagen überquert den Platz
daneben läuft ihr kleines Mädchen und ein noch kleinerer Hund
sie bleibt kurz vor den Musikern stehen
wirft etwas Geld in den Hut
geht weiter

Polizisten nähern sich
und sprechen mit den Musikanten
diese verstummen und verlassen den Platz
er ist ärmer geworden



2. Version
es ist zum Glück schattig hier
vom Kirchturm läutet es 11 Uhr
ein alter Mann torkelt vorbei

auf der Treppenstufe links neben mir spaziert eine Taube
nickt mit dem Kopf nach Taubenart
ich habe kein Futter für sie
auch von dem grauhaarigen Mann mit Brille und Rucksack
bekommt sie nichts
er sitzt ganz aufrecht
lesend
rechts von mir auf den Stufen
feine Gesichtszüge
gebräunt
ob er aus Indien stammt?

gegenüber an der Häuserecke musizieren Straßenmusiker
anscheinend Vater Mutter Sohn Tochter
bescheidene instrumentale Ausrüstung
nur Gitarre und Schellentambourin
dazu singen sie mehrstimmig
rhythmisch abwechslungsreich

vielleicht sind es Lieder über Glück und Unglück
von Schafen und Ziegen
von verlassenem Land
sicher handeln sie auch von Liebe und Sehnsucht
von Hunger, Vertreibung und Wanderung
große Menschenthemen
Wehmut klingt aus ihren Stimmen

eine Mutter mit Zwillingskinderwagen überquert den Platz
daneben läuft ihr kleines Mädchen und ein noch kleinerer Hund
sie bleibt kurz vor den Musikern stehen
wirft etwas Geld in den Hut
geht weiter

Polizisten nähern sich
und sprechen mit den Musikanten
diese verstummen und verlassen den Platz


1. Version
es ist zum Glück schattig hier
vom Kirchturm läutet es 11 Uhr
ein alter Mann torkelt vorbei
ich wundere mich

auf der Treppenstufe links neben mir spaziert eine Taube
nickt mit dem Kopf nach Taubenart
ich habe kein Futter für sie
auch von dem grauhaarigen Mann mit Brille und Rucksack
bekommt sie nichts
er sitzt ganz aufrecht
lesend
rechts von mir auf den Stufen
feine Gesichtszüge
gebräunt
ob er aus Indien stammt?

gegenüber an der Häuserecke musizieren Straßenmusiker
anscheinend Vater Mutter Sohn Tochter
bescheidene instrumentale Ausrüstung
nur Gitarre und Schellentambourin
dazu singen sie mehrstimmig
ich mag ihre Musik
rhythmisch abwechslungsreich
worüber sie wohl singen?

ich stelle mir vor
Lieder über Glück und Unglück
von Schafen und Ziegen
von verlassenem Land
sicher handeln sie auch von Liebe und Sehnsucht
von Hunger, Vertreibung und Wanderung
große Menschenthemen
Wehmut klingt aus ihrer Musik

eine Mutter mit Zwillingskinderwagen überquert den Platz
daneben läuft ihr kleines Mädchen und ein noch kleinerer Hund
sie bleibt kurz vor den Musikern stehen
wirft etwas Geld in den Hut
geht weiter

Polizisten nähern sich
und sprechen mit den Musikanten
diese verstummen und verlassen den Platz
mir gehen traurige Gedanken durch den Kopf
ich denke sie nicht zu Ende


Anmerkung von tulpenrot:

empfohlen von: Paulila. Moja, AchterZwerg, Judas, Ralf_Renkking, Stelzie.

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Kommentare zu diesem Text


 FrankReich (28.11.20)
Manche Gedanken lohnen natürlich, zu Ende gedacht zu werden, weil sie in vernünftigen Taten münden würden, insofern eine sehr anregende Pointe.

Ciao, Frank

 tulpenrot meinte dazu am 29.11.20:
Hallo Frank,

Meine Gedanken waren nicht allgemeiner Natur, sondern bezogen auf die Musiker, die nicht mehr weiter auftreten durften. Ich war betroffen und hatte Fragen.

Viele Grüße
tulpenrot

 FrankReich antwortete darauf am 29.11.20:
Wenn Du Deine Gedanken zu Ende gedacht und dementsprechend die Fragen gestellt hättest, dann wären sie vielleicht sogar beantwortet worden, wie auch immer, jede Version hat durchaus ihre Berechtigung, mir allerdings gefällt die 1. noch am besten, da sie nicht nur eine Zustandsbeschreibung des lI und der Situation beinhaltet, sondern darüber hinaus mich zum Weiterdenken anregt und Visionen evoziert.

 tulpenrot schrieb daraufhin am 29.11.20:
Das ist interessant. Solche Reaktionen des Lesers kommen mir auch wieder sehr zu pass.
Ich selber wollte aber nicht zu Ende denken, das Ende wäre sonst zuuu traurig geworden, vermute ich.
Ich lasse mal alle Versionen vorübergehend stehen.

 FrankReich äußerte darauf am 29.11.20:
Genau das macht die 1. Version für mich ja auch so interessant, denn sie ist die einzige, in der Du das offensichtlich formulierst und somit den Leser (bewusst oder unbewusst) aufforderst, weiterzudenken.
Wenn ich mir den Kommentar des Zwerges so anschaue, solltest Du die Versionen nicht nur vorübergehend stehen lassen. Vielleicht kommt ja sogar noch die eine oder andere hinzu. 🙂

 AchterZwerg (29.11.20)
Hallo tulpenrot,

mir gefällt die mittlere (2.) Version deutlich am besten.
Sie wirk knapper (verdichteter) und deshalb klarer.

Du schilderst eine alltägliche urbane Szene auf interessante Weise und überlässt die Schlussfolgerungen deinen Lesern. :)

Liebe Grüße
der8.

 tulpenrot ergänzte dazu am 29.11.20:
Hallo 8.

die zweite Version ist die schlichteste (also nicht im negativen Sinn, sondern von der Ausdrucksweise her). Gut, wenn sie dir am besten gefällt.
Danke und viele Grüße
tulpenrot

Antwort geändert am 29.11.2020 um 20:17 Uhr

 Moja (30.11.20)
Du zeigst nachfühlbar die Szenerie, liebe Tulpenrot, mir gefallen besonders die letzten beiden Zeilen der 1. Version:

"mir gehen traurige Gedanken durch den Kopf
ich denke sie nicht zu Ende"

Sie drücken Mitgefühl aus, Resignation schwingt mit, ja, ohne die Musiker fehlt das Menschliche.

Lieben Gruß,
Moja

 tulpenrot meinte dazu am 30.11.20:
Danke, Moja.
So war es gemeint, die Trauer oder auch Resignation bezog sich auf die Szenerie mit den Musikern.
LG
tulpenrot
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