Schöne Besuche beim Nervenarzt

Kalendergeschichte zum Thema Treue

von  eiskimo

Tante Gabriele arbeitete bei einem Nervenarzt, dem Dr. Ludwig. Der hatte seine Praxis in der Innenstadt. Mittags, nach der Schule, besuchte ich dort meine Tante recht oft. Der Arzt war ein ziemlicher Chaot, und wenn meine Tante nicht gewesen wäre, hätte der seinen Laden dicht machen können. Er war laut und unbeherrscht. Ich habe öfters erlebt, wie er meine Tante anblaffte. Ich fand dann toll, wie souverän sie diese Ausraster abtat. Tante Gabriele sprach ein schönes Kölsch, und sie hatte  damit eine Leichtigkeit, die jede Situation entschärfte. Ich weiß noch, wie sie mir bei  einem dieser ungleichen Rededuelle sogar zuzwinkerte. Kaum war der Doktor abgerauscht, befand sie nur lapidar: „Hügg hät dä äsch et Schoss eruss“ (Heute spinnt er total!) 
Für mich hatte die Tante immer etwas Leckeres beiseite gelegt. Meistens reichte sie mir Pralinen oder Schokolade weiter, die ihr die Patienten mitgebracht hatten. Denn die mochten sie. Manche kamen über Monate und Jahre. Tante Gabriele, die die einzige Helferin in der Praxis war, kannte sie alle bestens. Sie erzählte mir auch schon  mal von ihren Lieben. Ja, sie sagte „Lieben“. Erst später dachte ich nach über diese große Zuneigung, die man da spürte. Tante Gabriele hatte früh ihren Mann verloren. Ab dann war die Praxis quasi ihr Lebensmittelpunkt geworden.
Es war ein Glück, dass diese Praxisgemeinschaft noch viele Jahre hielt. Tante Gabriele hat da mit ihrer souveränen Art gute Arbeit geleistet, davon konnte ich mich immer mal wieder überzeugen.
Als ich sie zuletzt im Altersheim besuchte, saß sie mit zwei Senioren im Foyer. Sie spielte mit ihnen Karten. Als wir dann in ihr Zimmer gingen, kündigte sie mir auf dem Flur schon an: „Jung, isch hann jet Sößes für disch!“ Und dann bekam ich, genau wie früher, vorab ein paar leckere Pralinen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (02.12.20)
Sehr schön!

 AchterZwerg (02.12.20)
Lieber Eiskimo,

im Zuge meiner früheren Arbeit lernte ich zahlreiche Psychiater/Neurologen kennen. Das waren durchweg interessante Begegnungen.
Nicht eben selten wirkten die Fachärzte wie in ihren täglich erlebten Labyrinthen gefangen, indes die Hilfskräfte - gemäß deiner Kalendergeschichte - Lebensfreude und spürbare Stärke abstrahlten. Manchmal übernahmen die sogar die "Vorgespräche" und eine Form liebenswerter Nachsorge.

Zum Wohle aller Beteiligten. :)
Der8.

 eiskimo meinte dazu am 02.12.20:
Alle 8ung! Du bringst es auf den Punkt. Die wirksamere Therapie fand nicht in Ludwigs Behandlungszimmer statt, sondern bei der "Vor- und Nachsorge" mit meiner Tante. Die war stark!
Ärzte, die mit so kleiner Besetzung arbeiten, gibt es heute wahrscheinlich gar nicht mehr. Ich erlebe jetzt nur noch "Privatkliniken" und kaum mehr Persönliches.....
Am liebsten gesund sein, in diesem Sinne
Eiskimo

 sandfarben (02.12.20)
Interessant an dieser Geschichte finde ich, dass der sogenannte Nervenarzt (sagt eigentlich niemand mehr, wundert mich daher, dass Herr Rotmund sich nicht aufgeregt hat....!) in seinem wohl cholerischem Verhalten auffällt. Eine feine Dame, deine Tante Gabriele. Eine feine Geschichte zur Vorweihnachtszeit.

 eiskimo antwortete darauf am 02.12.20:
Ja, der Herr Doktor war schon etwas verhaltensauffällig. Vielleicht auch nur zu sehr "Gott in Weiß".
Danke für Deine positiven Worte!
Eiskimo

 Thomas-Wiefelhaus (24.12.20)
Manche Nervenärzte können sicher von Glück sagen, dass sie nicht von ihren Kollegen behandelt werden.

Selber hatte ich (in jungen Jahren) ja nur zwei dieser Sorte kennen gelernt.
Einer behandelte ohne ein Wort zu reden. Und der andere hörte nicht zu.

Zum Glück auch eine Ärztin, die redete und zuhörte. Wo gibt es das denn?

 Teichhüpfer (27.12.20)
Das war ein Novum und machte mir als Kind bedenken.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram