Stimmungskiller

Tagebuch zum Thema Rassismus

von  NachtGold

How I manage my culture is up to me.

Ich hätte sagen sollen, dass ich stolz auf mich bin, weil ich mich für mich selbst einsetze. Damals bin ich ausgezogen, weil ich die frauenfeindliche Einstellung meiner Eltern und die vielen Regeln und die Streitereien nicht mehr aushalten wollte. Ich fühlte mich allein und wertlos und wusste, dass nur ich etwas an der Situation ändern möchte. Weder meine Geschwister noch meine Eltern wussten, wie ich unter dem Stress und der lieblosen Atmosphäre litt, denn ich sagte nie etwas. Nicht weil ich mich nicht traute, sondern weil ich wusste, dass ich mit Wänden reden und nur meine Energie verschwenden würde. Es war schwer, doch einfacher würde es auch nicht werden. Das wusste ich schon vor meinem Auszug. Ich hatte nicht viel. Einen Job an einer Schule in Dinslaken, etwas Bafög und etwas gespartes Bargeld. Mir war dennoch bewusst, wie gut ich es hatte, also war ich dankbar über meine Startvoraussetzungen. Meine Eltern wussten nicht, dass ich ausziehen will. Sie wussten nichts, bis ich den Mietvertrag unterschrieb. Nachdem ich unterschrieben hatte, habe ich mich nicht getraut ihnen das direkt zu sagen. Ich dropte es irgendwann und *shocker* es gab erstmal ärger. Meine Mutter sagte, es wäre für sie kein Problem die Miete der Mindestmietdauer zu übernehmen und die Wohnung sofort wieder zu kündigen. Ich sagte ihr, dass das Urkundenfälschung sei, doch sie sagte, dass sie weiß, dass ich bei meiner Einschreibung auch ihre Unterschrift gefälscht hatte. Das stimmte. Ich war minderjährig und brauchte eine Unterschrift meiner Eltern. Die wollten aber nicht, dass ich Geisteswissenschaften studiere, sondern etwas richtiges. Ich hatte es meinen Eltern vorenthalten, dass ihre Unterschrift überhaupt nötig war, aber ich glaube, sie wussten es von Anfang an. Nach einer langen Phase der Funkstille zwischen mir und meiner gesamten Familie, folgten Vorwürfe und Anschuldigungen. Ich hätte das Familiengleichgewicht zerstört und wäre ein schlechtes Vorbild für meine jüngste Schwester. Dabei wusste ich, dass meine jüngste Schwester nicht viel von mir unterschied, wenn es um unser Weltbild ging. Meine älteren Schwestern waren keines Wegs besser als ich. Beide hatten schon, verbotener Weise eine körperliche Beziehung zu einem Mann, doch das wussten meine Eltern nicht. Auch ich hatte es nur zufällig erfahren. Eine von ihnen ging ohnehin regelmäßig aus und sagte, sie hätte Nachtschicht. Dass sie im Anschluss alkoholisiert in unserem streng religiös geprägten Elternhaus zu Bett ging, wussten nur ich und meine jüngste Schwester. Meistens prahlte sie damit, dass sie von unseren Eltern nicht verurteilt wurde wie ich, wobei sie viel mehr wagte. Als sie von meinem Auszug gehört hatte, stellte sie sich empört auf die Seite meiner Eltern und sagte, dass sie nicht versteht, wie ich mich entwickelt habe. Wir wären doch in der gleichen Familie groß geworden, doch sie wusste, dass ich anders behandelt wurde. Ich hatte einen weiblichen Körper. Große Oberweite, dünne Taille und eventuell sogar etwas zu viel Hüfte. Die besten Voraussetzungen, um sexualisiert zu werden. Ich habe das nicht immer so wahrgenommen und reflektiert, aber ich wurde für meine Weiblichkeit, die ich mir nicht selbst „eingebrockt“ habe, anders behandelt als meine anderen Geschwister, die auch alle weiblich sind. Bemerkt habe ich es meistens, wenn es um meine Klamottenwahl ging. Meine Mutter zerrte an meinem Ausschnitt, der kein Ausschnitt war. Oft fragte ich mich, ob sie bemerkte, dass sie mich damit verletzt. Ich fühlte mich fehlerhaft und erniedrigt. Tragen was ich wollte, war nicht drin. Auch deswegen nicht, weil meine Eltern religiöse Menschen sind. Manchmal fragte ich mich, ob es auch daran liegt, dass wir alles Mädchen waren und meine Eltern uns „beschützen“ wollten vor den bösen, bösen Männern, die uns nur als Sexobjekt sehen. All das ist unfassbar diskriminierend für alle Geschlechter. Auch der Sexismus war für mich ein Beweggrund, weg zu gehen. Weg von all der häuslichen Gewalt, Diskriminierung und dem Druck. Es wurde mehr erwartet, als ich sein wollte. Auch wenn ich heute froh bin, dass ich diese Dinge erlebt habe, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin, war es traumatisierend. Es gibt Momente in denen ich mich für meine Oberweite noch heute schäme. Beim Sport, wenn ich Klamotten kaufe oder mir jemand ein Kompliment macht. Es ist ein schwieriges Thema, über das ich allerdings heute endlich reden kann und sehe, dass es im Großen und Ganzen besser wird. Vor allem deswegen, weil ich weiss, dass ich nicht allein bin, mit all diesen Sorgen. Ich hatte früher nicht das Gefühl, dass es anderen auch so geht. Alles wirkte so perfekt. Bis Instagram nicht nur mehr als Plattform der Selbstdarstellung genutzt wurde, sondern auch als ein Ort des Zusammenhalts und der Kritik an gesellschaftlichen Normen und Konstrukten. Jedoch bekommen sowohl meine Mitmenschen als auch ich persönlich immer wieder Kritik dafür, dass wir auf sozialen Netzwerken Missstände aufdecken. Häufig kommen Nachrichten wie „das bringt nichts, schlechte Laune zu verbreiten“ oder auch „ja, aber wie oft kommt das denn vor“ und sowas wie „das ist doch kein Rassismus, wenn es gut gemeint ist“. Bullcrap. Ich bin stolz drauf, dass ich das heute alles in Worte und Bilder packe und poste, mich meinen Mitmenschen öffne, damit sie sich mit mir austauschen über ihr Leid, und dass ich auch für mich selbst einstehe und meine Perspektive verfechte, denn sie zählt. So, wie jede andere auch, es sei denn, sie ist offensichtlich diskriminierend und rassistisch. Dass ich so denke und mich für mich einsetze, ist neu. Das hätte ich sagen können, als eine meiner Freundinnen in einer gemütlichen Runde bei mir vorschlug, dass jeder/jede von uns etwas erzählen soll, warum er oder sie auf sich stolz ist. Viele von Ihnen erzählten von Situationen, in denen sie selbstlos waren und anderen halfen. Ich ordnete mich dem unter und erzählte, dass ich mal einer verzweifelten Frau half, die betrunken am Bahnhof stand. Ich bin stolz auf mich, dass ich dieser Frau geholfen habe, aber das wofür ich wirklich stolz auf mich bin, ist meine Kraft für mich selbst, die ich im richtigen Moment fand und einsetzte. Doch ich bin mir sicher, dass wenn ich all das gesagt hätte, die Stimmung gekillt hätte, es viel zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte und auch, dass ich trotz der vielen Worte, immer noch zu wenig über diese bedrückende Zeit meines Lebens gesagt hätte. Außerdem fürchte ich immer noch, dass meine Mitmenschen mich dafür verurteilen, dass ich diese Schritte in meinem Leben gewagt habe. Ich weiss auch, dass viele denken, ich hätte es für ein ausgiebiges Partyleben gemacht, aber das stimmt nicht.  JA. Ich bin ausgegangen. Viel und lange. Was mich aber wundert ist, dass viele meiner Freunde, die mich näher kannten, mich sogar darauf ansprachen.

„das würde ich meinen Eltern nicht antun“
„meine Familie wäre mir wichtiger als ein bisschen Party“
„ich sag dir das, weil du mir wichtig bist.. verstehe es bitte nicht falsch aber es ist dumm, für ein bisschen Freizügigkeit seine Identität zu leugnen“
„versteh mich nicht falsch, aber warum musst du das denn posten“
„krass wie du dich verändert hast, also voll gut, wusste garnicht, dass du so drauf bist“
„wie sieht deine Familie das, dass du einen freund hast und auch noch alleine wohnst“
„Du findest das nur so toll, weil es verboten ist/war“
„Wie fänden das deine Eltern, wenn die wüssten, dass du hier mit einem Bier sitzt?“
„Voll gut, dass du das jetzt einfach alles machst, obwohl deine Eltern dich dafür hassen“

Alles wörtliche Zitate aus chats oder aus Gesprächssituationen. Danke für nichts. Ich hörte diese Sätze von allen meinen Peers. Unabhängig von Geschlecht, ethnischen Varietät, sozialem Status der Familie und Religion. Fazit ist, dass ich sogar wenn ich ich selbst bin, es falsch ist. Ich durfte sein, wie ich bin, so ist es nicht, aber es war dennoch falsch. Aus der Perspektive anderer konnte ich nicht viel richtig machen, außer darüber reden und reflektieren, warum ich Dinge tue und warum ich manche Sachen gesagt bekam. Dennoch sieht man finde ich in den Nachrichten ganz gut, wie Rassismus im Freundeskreis aussieht. Viele meiner Freunde, denen ich erzählte, dass meine Familie eine Baustelle ist und ich streng erzogen wurde, kam zurück: „AAAAH also kann ich mir das vorstellen, wie eine türkische Klischee-Familie. Ab jetzt nenn’ ich dich Ayse! hehehheheheheh“. Was zur Hölle. Was ist eine türkische Klischee-Familie? Was macht sie aus? Wie sieht eine deutsche Klischee-Familie aus? Was habe ich verpasst? Mir ist leider ziemlich klar, mit was ich dort in Verbindung gebracht werde. Dass es in Migrantenfamilien Konflikte gibt, ist mir klar, aber gibt es Konflikte nicht in jeder Familie. Es wäre mir neu, wenn dies so ist, denn ich habe Freunde, die auch unter dem Stress zu Hause gelitten haben und die kommen, haltet euch fest, nicht alle aus einer türkischen Familie. Das Wort „Klischee“ sollte man meiner Meinung nach sowieso nochmal reflektieren. Kategorien generell sind meiner Meinung nach nichts schlechtes, aber wenn es dazu kommt, dass dadurch Menschen diskriminiert werden, läuft was schief. Was mich jedoch am aller meisten an der ganzen Sache stört ist, dass ich mich entscheiden muss. Meine Familie, meine türkische Identität, der Islam und meine religiösen Freunde ODER meine Freiheit, meine deutsche Identität, Agnostizismus und meine Partyfreunde. Spoiler: Ich entscheide mich nicht. Ätsch, ärgert euch grün und blau und zerreißt euch das Maul. I don’t care because I care about myself. Ich bin ich. Das S in meinem Namen ist ein SCH und ich bin Agnostikern mit einer großen Portion Bewunderung für Religionen und ganz ganz besonders für den Islam. Ich bin Deutsch-Türkin, eine Almanci, die auf Elalem (die Gesellschaft) scheisst, an Ramadan fastet und trotzdem in Kneipen geht. Ich werde diskriminiert und tausche mich oft mit Freunden darüber aus, wie auch ihnen Rassismus widerfährt. Ich werde sexualisiert und hatte/habe Probleme, mich zu akzeptieren und weiss, dass viele Menschen genau das selbe Problem haben.  Man muss sich auch selbst oft scannen, damit man aufmerksamer wird, denn auch als Opfer von Rassismus und Sexismus usw. ist man, obviously, nicht fehlerfrei. Durchatmen. Langer Text und noch immer ist nicht alles gesagt, aber die Stimmung hab ich gekillt. Yeah.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (03.12.20)
Ist das autobio?

 NachtGold meinte dazu am 07.12.20:
Das ist ein Auszug aus meinem Tagebuch. :)

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 07.12.20:
Bitte auch so benennen, damit man gleich Bescheid weiss.
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