Tiefensoziologische Trichotomie plus Postmoderne

Parabel zum Thema Selbstverwirklichung

von  Terminator

Es roch nach Gebratenem. Ivan fütterte das Vieh und ging in den Sonnenuntergang. Der stille Fluss weckte Kindheitserinnerungen, in der Ferne grasten noch Kühe, und der krumme Baum an der Flussbiegung sah bei untergehender Sonne abermals wie eine alte Frau mit Kopftuch aus. Ivan ging nun etwas frohsinniger zurück ins Dorf, die Sonne war schon untergegangen. Hunde und Katzen stritten sich um Schafsinnereien, die Nachbarn aßen Schaschlik, und bald saß auch Ivan bei einer Flasche Vodka, frischgebratenem Fleisch und frischgebackenem Brot bei ihnen. Aus dem Wald kam wieder ein alter Bär zu Besuch, man gab ihm zu essen, und goss etwas aus der Flasche ihm in die Tränke. Die Gespräche der Menschen und die Tierlaute bildeten eine einheitliche harmonische Geräuschkulisse für den Gesang der Angeheiterten. Als das Volkslied über die Mutter erklang, begann Ivan mitzusingen. Wie und wo er einschlief, bekam er nicht mehr bewusst mit, da der Abend im Hof nahtlos in seinen Traum überging.


Der Kleinstadtbahnhof war an jenem Samstagnachmittag nicht allzu geschäftig. Aus einem Fernzug stieg eine elegant gekleidete geheimnisvolle junge Frau aus. Jean stand am Geländer und beobachtete die in die Ferne ziehenden Vögel. Er rauchte, und neben ihm rauchte ein anderer junger Mann, der ihn nervös machte. Jean ließ es sich nicht anmerken, und blickte nun selbstbewusster in die Richtung der Unbekannten, die ihre Beine spektakulär übereinanderschlug und mit teilnahmslosem Blick nicht ganz zu den beiden Männern hin aber auch nicht ganz von ihnen weg schaute. Jean ließ unvorsichtig die Zigarette fallen, ließ es im Nachhinein wie Absicht aussehen, zerstampfte sie energisch mit dem rechten Fuß und ging nicht ganz in die Richtung der Unbekannten hin aber auch nicht ganz von ihr weg. Ein Windstoß riss den gerade ausgezogenen Handschuh der Unbekannten fort, und Jean hob ihn scheinbar im Vorbeigehen auf und brachte ihn der Frau zurück. Sie bedankte sich mit einer warmen Stimme, doch ihr kalter Blick wies ihn ab. Der andere Mann saß bereits auf der Bank neben der Unbekannten und bot ihr eine Zigarette an.


Die vielen Lichter machten die Nacht in der pulsierenden Metropole zum Tage. Unten auf den Straßen versammelten sich Menschenmengen zum Tanzen, zum Feiern, zum nächtlichen Bummel, während Johan auf dem Dach des Wolkenkratzers spazierenging, und darüber nachdachte, dass man Wolkenkratzer aufgrund der Lichtverschmutzung von Unten noch höher bauen sollte. Erst wenn die Lichter der Stadt von Hieroben so fern erschienen wie die Sterne, wäre das Haus hoch genug. In seinem karg dekorierten Penthaus trank Johan schnell einen Tee, bevor er sich an seinen Computer hinsetzte, und den Brückenentwurf seines unprofessionell arbeitenden Kollegen scharf korrigierte, indem er alle zweckwidrigen und albernen Verzierungen von der Zeichnung strich. Er lehnte sich zurück in den Sessel und dachte an eine sehr junge mädchenhaft zierliche Frau, deren Körper, abgesehen von all dem, was an ihr in seiner intimsten Vorstellung unbekleidet war, Gesicht und Händen, genausogut der Körper eines Knaben hätte sein können. Die fast nicht vorhandenen Brüste mit niedlich kleinen hellen Spitzen würden niemals selbst von ihm berührt werden, sondern nur von Engelwesen ihrer eigenen Art. Johan, Mathematiker und Architekt, lebte allein, und freute sich auf die Aussicht, bald auch allein arbeiten zu können. Die digitale Wanduhr, die die exakteste messbare Uhrzeit angab, war das einzige Accessoire in seiner großen und hellen Penthauswohnung.



Das Taschentuch griffbereit, saß John vor dem Flachbildschirm. In drei ungleich großen Fenstern waren Pornovideos geöffnet: Lezdom, BDSM und Foot Fetish mit Shemales und Transen, - der Ton war aus. Im vierten Fenster lief eine Holocaust-Dokumentation, - John hörte betroffen zu, warf auch ab und zu einen Blick dorthin. Sein Hauptaugenmerk lag jedoch an einem bestimmten Körperteil eines SM-Bottoms, er spielte dieses Video immer wieder von 11:32 bis 12:08; unfortunately reichten die 36 Sekunden nicht, um zum Höhepunkt zu kommen, also stoppte er bei einer Großaufnahme bei 11:49 und kam ins Taschentuch. John trank einen Mix aus Vodka und Energizer, rauchte Gras, und bereitete sein veganes Abendmahl zu. Er öffnete zwei Chatfenster, und nannte sich einmal Juan und einmal Joanne. Seine dritte virtuelle Identität neben dem Macho und dem Flittchen ward ein Troll im Kommentarbereich einer Online-Zeitung. Auf dem Schreibtisch lag eine Broschüre über Geschlechtsumwandlung: während Johns Beine, Gesicht und selbstverständlich sein Hodensack ihre männliche Identität bewahren wollten, rebellierten seine Füße, seine Brustwarzen und die passive Hand gegen die männlich-faschistoide Fixierung der Lust auf Genitalien; der aktiven Hand und der Zunge war es egal. John machte seine zehnminütige Selbstvertrauensübung vor dem Spiegel, ging joggen, setzte sich nach dem Duschen ins Wohnzimmer seiner WG und beobachtete seine beiden Mitbewohner, die auf dem Balkon fröhlich poppten und kreative Selfies machten. Da kamen schon Johns geladene Gäste, setzten sich an den Tisch und feierten mit mir-ist-alles-so-egal-Gesichtsausdrücken Johns Wahlgeburtstag, zu welchem er den 20. April auserkor, damit an diesem Tag, wie er es ausdrückte, nicht nur der Teufel etwas zu feiern hätte. Die einzige Frau am Tisch fragte John mit desinteressierter Stimme: "Was studierst´n so?" "Was mit Medien und so", antwortete John. Man vermied klare oder bestimmte Aussagen, blieb im Ungefähren, irgendwann hatte man irgendwie Lust, Flaschendrehen zu spielen. Vor jeder Runde wurde der zu küssende oder zu leckende Körperteil demokratisch bestimmt, also durch die Minderheit, um diese nicht zu diskriminieren, also durch die Frau, weil sie die einzige Frau war, während sie und noch jemand anders, damit also zwei, homosexuell waren. John wollte das alleinige Stimmrecht eigentlich für sich aushandeln, weil er zur Hälfte transsexuell war, und eine halbe Person eine noch kleinere Minderheit ist, als eine ganze Person, doch uneigentlich genoss er den Femdom der äußerst einfallsreichen Lesbe, die das Spiel manipulierte, um ihm demütigende Streiche zu spielen. Doch John hielt Würde ohnhehin für ein soziales Konstrukt, und außerdem, dachte er, was ist schon Realität, vielleicht sind wir alle mit Gehirnen an Maschinen angeschlossen und träumen unser Leben, während künstliche Intelligenzen in Form von Computernetzwerken unsere Gedanken steuern und künstliche Sexualitäten in Form von Androiden unsere Körper sexuell missbrauchen. Zu philosophieren fing John an: alles Leiden in dieser Scheinwelt entstünde daraus, dass man in der wirklichen Welt von Androiden in den Arsch gefickt werden würde. In einer Runde des Sichwichtigmachens nannte jeder seinen Lieblingsfilm, als da wären: "Waking Life" - wacht endlich auf! - , "Matrix" - der zweite Teil ist eigentlich der Beste! - , "Natural Born Killers" - der einzige authentische Film über Authentizität! - , drei nannten keinen, und die einzige Frau in der Runde sagte: "Vielleicht "Lost in Translation"". Um drei Uhr Nachts gesellte sich zu der völlig betrunkenen Meute Johns Stiefvater, ein Alt-68-er, und reichte den Partygästen Drogen. John verließ die Party unter Protest, als sein Stiefvater zu erzählen begann, wie John als kleiner androgyn aussehender Junge sich im Spätkauf um die Ecke immer als Mädchen ausgegeben hatte, um von älteren Jungen mit ungenanntem Migrationshintergrund nicht verprügelt zu werden: John sagte, es sei politisch total unkorrekt, überhaupt zu erwähnen, dass diese Jungen einen Migrationshintergrund hatten, denn es sei diskriminierend, und verschweige das eigentliche Trauma aus Johns unglücklicher Kindheit. Eine Stunde später kam John als Frau geschminkt und verkleidet zurück, und tat feierlich seinen Entschluss zur Geschlechtsumwandlung kund. Es gab wenig überraschtes, verhaltenes Klatschen, wonach Johns Stiefvater, der sein Studium bezahlte, monierte, dass John mit den fünf verschiedenen Konten, die jeweils separat auf die verschiedenen Persönlichkeiten in Johns multipersonalem Ich liefen, zu viele Kontoführungsgebühren zu bezahlen hätte.

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