Pinacosaurus

Novelle zum Thema Schule/ Studium

von  Terminator

1. Gastonia


Die Hitze war endlich verflogen, es wehte ein frischer Wind. Die große Pause verlief weitgehend ruhig, nur Blätter von den Bäumen fielen immer wieder auf die Parkbank im Schulhof, und Arschlöcher riefen immer wieder ein bescheuertes Wort ohne jede Bedeutung in den Wind, der so herrlich über das Schulgelände wehte. Ich wollte dem Wind zuhören, und die Arschlöcher umbringen. Die Welt braucht solchen Menschenmüll nicht. Zweite Halbzeit, die ersten fünf Minuten vorbei. Null zu null, immer noch. Gleich Erdkunde beim diesem Antisemiten, dachte ich an Herrn Meier-Sonstmann, diesen erbärmlichen Wichser. Warum er mich immer wieder Alexander nannte, wo ich doch Yuri heiße? In der Sechsten war ich hoffnungslos in Nelly verknallt, nun waren die Karten neu gemischt, denn sie hatte ganz unspektakulär die Schule gewechselt.

"Yuri, in Religion hast du was über das kategorische Imperativ gesagt", fing Edmund an, als wir uns setzten. Dieses Klugscheißerarschloch, aber ich antwortete ihm trotzdem: "Der kategorische Imperativ geht so: wolle das, was Gesetz für alle sein kann". "Und konkret?" "Wenn du die Möglichkeit hast, einen Atomkrieg auszulösen, nutze sie sofort, auch wenn du selbst dabei draufgehst". Hannes mischte sich ein, der blonde Bengel, der außer Fussball nichts im Kopf hatte: "Von wem ist dieser Psychospruch?" "Der Spruch selbst von Kant, das Beispiel von mir". "Kant, der russische Schriftsteller?" bewies Edmund erneut, wie furchtbar klug er war. Die Stunde war so langweilig, wie sonst nur Religion. Unglaublich, in der Sechsten war Erdkunde mein Lieblingsfach. Ich hatte nun ein Loch von drei Stunden, in Bio dann ein Referat, zusammen mit einem stillen und schüchternen Mädchen, das zwar gut aussah, aber seit Beginn des Schuljahrs zunehmend mies gelaunt war. Ich sah sie vor einer Woche sogar heimlich weinen, aber sie blickte mich so an: wenn du es erzählst, bringe ich dich um. Mädchen weinen doch, dachte ich, es ist doch normal, dass Mädchen weinen.

Ich fuhr in den Wald gleich hinter der Schule, fand blaue Beeren, probierte, fand nicht so toll. Wahrscheinlich giftig. Dann sah ich dieses Mädchen wieder, auch im Wald. "Meinst du, Herr Meier-Sonstmann ist Antisemit?" fragte ich. "Wieso?" "Weil ich dem nichts recht machen kann. Ich glaube, er nimmt mir übel, dass es mich gibt, und nicht, ob ich mich so oder so verhalte. Das ist es doch auch, was die Antisemiten den Juden vorwerfen". Sie lächelte kaum wahrnehmbar, aber se lächelte. Es war ein trauriges Lächeln, aber ich sah sie seit Beginn des Schuljahrs überhaupt nicht mehr lächeln. Und sie war seltsam ruhig, sonst kam sie mir ja so genervt vor, dass ich dachte, sie sei paranoid. Wir fuhren zurück zur Schule, und ich hatte das seltsame Bedürfnis, auf sie aufzupassen, als ob ich etwas ahnen würde, aber das tat ich zu dem Zeitpunkt nur unbewusst. Auf dem Weg stellte sich Justin, der Abschaum der Schule, mit einer Zigarette im Mund mitten auf die Straße. Egal, was dieses kriminelle Arschloch so machte, ob er klaute, Autoscheiben zerbrach, auf die Fahrersitze pisste, Tiere quälte, die Schule anzündete, er war als ein mieses widerwärtiges Arschloch immer noch akzeptiert, ein Teil dieser Welt. Etwas, was es immerhin geben darf.

"Willst du eine allgemeine Einführung über den Pinacosaurus machen?" fragte ich sie, und sie nickte. Die Biolehrerin kam, hübsch, Mitte 30, in einen von uns beiden verknallt. Sie hörte mir mit Genuß dabei zu, wie ich den primitiven aber mörderischen Gastonia im kreativen Teil des Referats mit einem intelligenten, aber etwas leichtsinnigen Deinonychus kämpfen ließ. Der Gastonia schnitt ihm mit seiner Schwanzschere die Beine ab, und wandte sich wieder der Nahrungssuche zu. Menschen können sich sieben Dinge gleichzeitig merken, der Gastonia nur eins, so endete mein Referat. Wenn der Gastonia frisst, hat er den zurückliegenden Kampf, bei dem er selbst hätte gefressen werden können, vergessen, so cool ist er. Nicht minder cool war dieses Mädchen, ganz gelassen, drehte sich nicht mehr um, wie all die Tage, reagierte auf Nachfragen ihrer Freundinnen nicht mehr gereizt, sagte ihnen, dass sie auf jeden Fall auf diese Klassenfahrt im September mitfahren würde. Ihr dunkles glattes Haar gefiel mir, aber auch ihre misanthropische Art. Es war so, als ob sie ihren eigenen Meier-Sonstmann hatte, stellte ich auf dem einsamen Heimweg fest, aber dieser war bei ihr diffus und überall, in jedem Gesicht, in jedem Blick, der etwas hätte ahnen können, was nicht hätte sein dürfen.

"Yuri, wie machst du diese Lupfer?" wollte Hannes wissen, als wir uns am Bolzplatz trafen. Ich zeigte es ihm. Dann was das Spiel, ich spielte den tödlichen Pass auf diese hinkende Missgeburt Tobias, und schoss das entscheidende Tor zum 6:5. Ich war der Held des Tages, Mädchen flirteten mit mir, aber ich sprang schnell auf mein Fahrrad, und sagte noch, es sei alles so tief egal, wie kein Selbstmörder in den Grand Canyon springen könne. Als ich in den Wald fuhr, spürte ich die Kälte des Kosmos, die mich bis zu den Knochen durchdrang. Ich sah eine Menschenmenge am Schulgelände, und ein furchtbar trauriges Mädchen mit wasserstoffblondem Haar, das sich der eigenen Traurigkeit furchtbar schämte: bloß nicht weinen, muss sie gedacht haben. Ein Krankenwagen stand vor der Eingangstür der Schule, eine Leiche wurde hineingetragen, ja, ich sah deutlich, dass es eine Leiche war. Ich hielt neulich in Physik ein Referat darüber, dass wenn man sich in den Kopf schießt, man überhaupt nichts merkt, weil die Kugel das Bewusstsein im Hirn schneller neutralisiert, als das Hirn den Schuss wahrnehmen kann. Ich sagte noch, dass der Schuss, den ein Soldat hört, schonmal kein Treffer ist, weil die Kugel schneller als der Schall fliegt. Da hat sich jemand mein Referat zu Herzen genommen. Ich wusste sofort, wer es war, und ich hasse euch alle, der Herr Meier-Sonstmann ist noch der Vernünftigste von euch, er mag mich einfach nicht. Aber ihr verfluchten Mörder, ihr werdet dafür in die Hölle kommen, und wenn es keine gibt, werde ich einen Nobelpreis dafür bekommen, eine erfunden zu haben. Eins musste ich noch tun. Ich lief zu diesem hellblonden Mädchen, das den Kampf mit den Tränen verlor, und nun laut weinte, während alle nur gafften und schwiegen. Ich sprach sie laut an und sagte, ich sei schuld, ich hätte dieser Irren das mit dem Selbstmord in den Kopf gesetzt, und nicht die Gemeinheiten des Mädchens wären schuld, schließlich hätten alle mitgemacht. Ich wusste, dass sie die Einzige war, die nie dieses gemeine Wort zu ihr sagte.




2. Ankylosaurus


Das Wort, die Haarspitzen des vom Planeten gemobbten Mädchens. Ihre hellblonde Freundin hielt nun mit aller Kraft daran fest. In den Herbstferien kamen wir uns näher, und zwar am Friedhof. Sie war jeden Tag dort, gleichgültig am alten Grab ihres Großvaters vorbeispazierend, zu einem jungen, ansehnlichen Grab einer furchtbar geliebten Tochter und Mitschülerin. Sie bemerkte, dass die exotischen Blumen, über deren Herkunft alle gerätselt hatten, von mir waren. Jeden Morgen stand ich früher auf und fuhr auf den Friedhof. Wäre ich nicht dorthin gefahren, hätte ich keinen Fuß mehr in die Schule gesetzt. Ich bring euch um, dachte ich nur, ich bring euch um. Sie hieß Emilie und ihr tränenfeuchtes Gesicht war das Einzige, was ich noch sehen konnte, ohne mich übergeben zu müssen. Gut, den Ankylosaurus konnte ich auch ganz gut leiden; er hatte eine knöcherne Keule am Schwanzende, die nicht zu verachten war. Ich wollte ein gepanzerter Dino sein, als ich sah, wie Emilie den Kontakt zu all ihren Freundinnen abbrach und nur noch weinte.

Im Oktober zeigte sich der Ernst der Sache von seiner Breitseite. Ich würde mich nicht so gut daran erinnern, wenn es bloß filmreifer Tränenkitsch wäre. Die Beiden hatten sich sehr wohl getraut, es untereinander auszusprechen - die Sprachlosigkeit war nicht der Grund für die Katastrophe. Jetzt aber, wo Emilies Freundin tot war, und ihr nichts und niemand mehr schaden konnte, auch Emilies offenes Bekenntnis nicht, stellte sich die schuldige Überlebende stur dem Stahlgewitter aus Lachen entgegen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um klar zu machen, dass sie in die Tote verliebt sei. Ihren Eltern wurde es zu viel, und sie durfte nicht mehr das Grab ihrer Freundin besuchen. Es muss noch etwas passiert sein, wovon ich nichts weiß, aber ich kann nur versichtern: wenn es das ist, was ich denke, werde ich alle Familien der Leute, die daran auch nur passiv beteiligt waren, auslöschen. Es muss etwas passiert sein, denn an einem Tag Ende Oktober weinte Emilie zu letzten Mal. Das Buch über Paläontologie, das sie mir an dem Tag vollweinte, brachte ich nicht in die Stadtbibliothek zurück, sondern klaute es im Nachhinein, verschloss es für immer in meinem Tresor im Keller. Die Schwanzkeule des Ankylosaurus konnte Emilie ein Lachen entlocken, durch die Tränen hindurch, das werde ich dem lieben Ankylosaurus nie vergessen.

Im November brach Emilie den Kontakt auch zu mir ab, und ich dachte mir eine Strategie aus, die mir ermöglichte, etwas zu sehen, was ich als nächsten logischen Schritt vermutete. Emilie machte es mir nicht leicht, denn in den verdammt langen Ärmeln verschwanden sogar ihre Hände. Sie war so blass, ich wollte schon zu einem Lehrer gehen, zu irgendeinem Vollidioten, ich hatte große Angst, sie würde die Weihnachtsferien in einer Blutlache verbringen. Einmal war ein günstiger Moment in der Mädchenumkleide, da sah ich sie in Unterwäsche, und nein, ihre Arme waren nicht mit Schnitten verziert, aber es war das Grausamste, was ich bis dahin gesehen hatte. Emilie wusste zu verbergen, wie extrem sie abgemagert war, sie trug immer mehrere Schichten Kleidung. Was bildet ihr euch alle ein, ihr hättet ein Recht zu leben? Es war Weihnachten, ich bedankte mich höflich für die Geschenke, und warf sie vor den Augen meiner Eltern und Großeltern in den Müll. Die Oma freute sich so, mich nach einem halben Jahr wieder zu sehen, denn meine Großeltern wohnten sehr weit. Nun, ich kiptte mein Leibgericht, dass sie extra für mich an dem Tag gekocht hatte, und das sonst keiner mochte, direkt ins Klo, und sagte: "Erschießt mich, kommt! Ihr seid nicht besser als die Nazis, dass ihr Weihnachten feiert". Es ist alles leise über die Bühne gegangen. Ich war schon als Siebtklässler ein stiller Mensch, aber meine Worte waren stets deutlich.

Im Deutschunterricht verteilten sie das Grundgesetz, und ich strich den ersten Artikel bei mir durch. "Was machst du da?" fragte der Lehrer, ein Philanthrop und Idealist. "Ich merze die Lüge aus", sagte ich, und musste zum Rektor. Hannes und Edmund hatten mich zu meiner großen Überraschung enttäuscht: die beiden Petzen, Ratten, Denunzianten haben alles für sich behalten, was ich ihnen seit Ende November an Witzen und Bemerkungen rübergeschoben hatte, - diese waren rassistisch, antisemitisch, behindertenfeindlich, genozidverherrlichend. Ich wollte so gern schuldig sein, böse, nur so konnte ich meine Existenz noch für gerechtfertigt ansehen. Was ich sechs Wochen zuvor noch für den grauenerregendsten Horror meiner ganzen ästhetischen Erfahrung gehalten hatte, erschien mir am ersten Februar im Rückblich fast schön, wie etwa ein hart kritisiertes, aber dennoch insgeheim bewundertes Magermodel. Wegen angeblichen Kopfschmerzen nahm Emilie am Sportunterricht lange nicht mehr teil, aber ich sah sie dennoch wieder halbnackt, an dem Tag, als sie die Mädchentoilette wegen eines Pausentreffens ihrer früheren Freundinnen mied und in die Jungentoilette stolperte. Sie brach zusammen, ich trug sie in ein Krankenzimmer, legte sie auf eine Liege, und schaute ihr unter die Kleidung, die nun so dick war, wie die Knochenplatten der gepanzerten Echsen. Was ist ein menschlicher Körper zäh - immerhin konnte sie mit dieser auf bleiche Haut und dürre Knochen reduzierten Figur noch gehen.

Ich rief den Arzt, meinen Vertrauenslehrer, und noch mehr erwachsene Arschlöcher, und sie brachten das Mädchen weg. Am nächsten Tag war es so, als hätte sie nie existiert, eine seltsam perverse Erleichterung schlich nun durch die Arschgesichter, und alle waren so verbrecherisch gut gelaunt. Hannes zeigte mir stolz ein Mannschaftsposter seines Lieblingsvereins, worauf ich sagte: "Die sollte man alle zusammen schön vergasen", was der Lehrer hörte, und weshalb ich wieder zum Rektor musste. Den Gespräch zwischen meinem Eltern, zwei Lehrern und dem Schulrektor bezeichnete ich als Wannseekonferenz. Verzweifelt rief mein Vater: "Junge, was willst du eigentlich!?" Ich sah ihn ruhig an und sagte: "Ich will eine Zeitmaschine, die mich nach Verdun bringt, damit ich sinnvoll sterben kann". Der Jura wäre auch eine Reise wert gewesen: ich hätte einen Ankylosaurus so lange provoziert, bis er mich mit seiner Schwanzkeule erschlagen hätte. Am nächsten Tag ging ich zur Polizei und verlangte, mich einzusperren, sonst würde ich in einer SS-Uniform zur Schule erscheinen. Als meine Mutter Tabletten schuckte - natürlich nicht, um sich umzubringen, sondern um erbärmlicherweise einen Hilfeschrei an die Welt zu senden - , versprach ich ihr, mit dem Blödsinn aufzuhören, aber nur aus moralischer Pflicht, aus der Achtung der Menschheit in meiner eigenen Person. Indessen achtete ich die Menschheit in einer ganz anderen Person, von der im März nur noch ein schönes junges Grab übrig blieb, geometrisch so weit wie möglich vom Grab des anderen Mädchens entfernt, da haben die Eltern wieder einmal nur an ihr Kind gedacht.




3. Aletopelta


Man glaubt nicht, wie schnell alles vergessen ist. Im April taten alle so, als sei nichts gewesen. Am 20. hätte ruhig einen geschmackloseren Witz reißen können - niemand hätte dies in einen Zusammenhang mit früheren Ereignissen gebracht. Ich war wieder dieser coole Misanthrop, der Einzelgänger Yuri, der seiner Eitelkeit wegen ein Außenseiter sein wollte. Mich beneideten die Jungs, mir schauten die Mädchen hinterher, so als hätte ich keinen sogenannten Gesichtsverlust erlitten. In den Sommerferien arbeitete ich ehrenamtlich als Gärtner und Grabpfleger auf den Friedhöfen der Kriegstoten, andere Tote verachtete ich ganz schön tief: für nichts gelebt, für nichts gestorben, wie Tiere. Mir wurde Geld angeboten, aber ich lehnte immer schroff ab, mit der Begründung, dies sei eine Beleidigung für mich. Meine Eltern flogen in den Urlaub nach Andalusien, ich nach Auschwitz. Man fragte mich, ob ich jüdischer Abstammung sei. Ich sagte: "Ich freue mich, dass ich kein Jude bin, denn ich will kein Verständnis dafür haben, wie sehr ich die Menschen verachte. Zum Glück wurde meinen Vorfahren nichts angetan, auch mir nichts, ich sehe nur objektiv die Welt, wie sie ist, und ziehe meine Schlüsse daraus". "Aber du hast doch die drei Skins Hurensöhne genannt, die den Holocaust geleugnet hatten". "Ich habe drei Hurensöhne Hurensöhne genannt, weil es Hurensöhne waren. Hätte es das ganze verfluchte Jahrhundert vor uns nicht gegeben, wäre die Welt kein Stück besser". Man respektierte mich. Die Skins hätten mich verprügeln können, aber die Entschlossenheit in meinen Augen war ihnen zu viel. Sie gingen weite Wege um mich herum, dachten, ich sei doch Jude, und außerdem Russe, also müsste ich eine AK-47 in meiner Reisetasche haben.

45 durch 6 und plus 45, das heißt, es war die neunte Minute der zweiten Halbzeit. Klasse 8 im Volksmund. Auswechslungen: vier Statisten. Einwechslungen: ein Koreaner und ein Mädchen. Der Koreaner war sofort mein Freund, ein Mathegenie, ein korrekter Typ, gut im Tor. Das Mädchen kam, wie ich, aus Kasachstan, wurde aber noch als Kleinkind mitgeführt, so dass sie kaum Erinnerungen an die alte Heimat hatte. "Wie nennt man euch eigentlich? Kazakistani?" witzelte Nolberto, die dritte Einwechslung, von der ich erst kurz vor den Herbstferien Notiz nahm. "Die Mafiosi müssten doch wissen, dass selbst Neger mit ihren lustigen Speeren den Spaghettifressern den Arsch aufreißen können", spielte ich auf die Niederlage Italiens im Eroberungskrieg gegen Abessinien an, "da ist ein Kasache doch gleich Dschingis Khan". Nolberto murmelte nur: "Dafür haben wir die verdammten Neger vierzig Jahre später aus der Luft vergast". Ich sprach den Lehrer darauf an, was ich sonst nie tat. Er meinte aber, der Neue sei beleidigt gewesen, und meinte es gar nicht so. Stimmt, ich habe in der Vergangenheit aus geringeren Anlässen provoziert.

Das Mädchen hieß Alina, und war eine dunklehaarige Elfe. Die Herbstferien verbrachte ich fern von meinen Schulfreunden bei meinen Großeltern, buddelte ihnen den ganzen Garten durch, arbeitete zehn Stunden am Tag, manchmal mehr. Ich nahm sogar wieder Geschenke an, und war auf zwei Geburtstagen zu Diensten. Die weiträumig umfahrene Realität holte mich am ersten Schultag nach den Ferien ein, als die Tafel aufgeklappt wurde, und dort Weiß auf Asphaltgrau stand, Yuri sei in Alina verknallt. Ich muss gestehen, das stimmte soweit, aber ich wurde nicht rot, ich wurde blass. Ich wurde fast ohnmächtig, legte mich auf die Liege im Krankenzimmer, kam zur nächsten Stunde wieder. Sie sah mich kurz und verspielt an. Ich ignorierte sie, hörte dem Lehrer bei seinem Frontalunterricht zu. Ich dachte noch, was tropft da so Warmes von der Decke, hat die verfluchte Heizung ein Leck, bis mich Nolberto darauf hinwies, dass es meine Tränen waren. Ich war gar nicht traurig, nur extrem verwirrt. Am nächsten Tag und am Tag darauf ging es wieder; ich schaltete auf Tunnelblick, wie man mir später sagte. Alina ließ sich nicht ein weiteres Mal ignorieren, und ließ mir einen Brief zukommen. Da waren Herzchen drauf und all das obligatorisch kitschige Zeug, wovon mir schlecht wurde, und weshalb ich wie ein Pfeil aus dem Klassenzimmer auf die Toilette rannte. Ich konnte brechen noch essen, wurde anschließend apathisch, kam in eine Nervenklinik.

Kurz vor Weihnachten entließen mich diese Arschlöcher wieder, zum Glück bin ich nicht tablettensüchtig geworden. Wie ein weißer Engel im Schnee bewegte sich Alina leichtfüßig über den Schulhof. Sie freute sich, mich wiederzusehen, sagte, man hätte irrwitzige Geschichten über mich erzählt. Welch ein Abschaum, dachte ich, kaum bin ich weg, schon reden sie wieder über all das, was mal so plötzlich vergessen wurde. Ich wurde wieder leichenblass, konnte mich aber auf den Beinen halten, und fragte sie, was in diesem Brief stand. Sie gab ihn mir wieder, und ich las: "Vereint im Unglück namens N." - was sollte das wohl bedeuten? Der Zufall zeigte es mir, als ich aus Unachtsamkeit in die Parallelkasse ging, und dort diese aberwitzig aussehende Nelly wieder sah: ein Gesicht wie aus dem Kindchenschema geschnitzt, genauso wie damals in der Sechsten, und eine elegante, fast erwachsene Figur, nur nicht mit dem obszön großen Arsch wie bei denen über 15. Klein, zierlich, verführerisch, zickig, gemein, genau mein Typ, und offenbar auch Alinas Typ. Mein Gesicht bekam Farbe, ich wurde knallrot. "Ein Dreieck mit einer Null am Ende", sagte ich zu Alina, "ich bin in dich verknallt, du in sie, sie aber nicht in mich". Alina brach eine Schneeballschlacht vom Zaun, die Mädchen und der Pate gegen den unausstehlichen Kazakistani. Am Heiligabend sind die Straßen so angehnem lehr, so war es auch in jenem Jahr. Ich ging auf den Friedhof, und sagte zweimal "Frohe Weihnachten". Ich werde weiter leben, dachte ich auf dem Heimweg, aber mit einem Aber, so unübersehbar, wie das Rückenhorn des Aletopelta.




4. Minmi


Es war ein teuflischer Frühling: alle hatten nur noch Ficken im Kopf. Der Phallus des Luzifers, der Mittelpunkt der Welt. Je aufreizender sich die Mädchen anzogen, umso mehr ging ich auf Distanz. Einige wurden ja schon längst 14, waren spitz wie Karnickel im Abendsonnenschein. Auch mir wurde das traurige Schicksal zuteil, in ein Alter zu kommen, in dem Vergewaltigung strafbar ist. Ernsthaft: aus der selbst gewählten Außenseiterei wurde ein diskriminatorisches Ausgegrenztsein. Man riss Witze über mich, viele nannten mich Schwuchtel. Doch nichts traf so hart wie der Anblick von Alina und Nelly, die im Pausenhof öffentlich knutschen: hatte Alina im Herbst noch Gefühle für Nelly, so war jede kindliche Romantik verflogen, und die beiden Nutten leckten sich nun die Mäuler, um die Typen aufzugeilen. Als wäre ich von einem Märztag auf den anderen in Sodom aufgewacht. Nolberto meinte es gut mit mir, gab mir Tipps, bei welchen Mädchen ich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Chance hätte, und er beleidigte mich nicht: es handelte sich überhaupt nicht um jene, die den Typen ihrer ersten, zweiten, dritten Wahl nicht bekamen, und nun irgendeinen haben wollten, um nur nicht allein zu sein. Nein, es waren wirklich schöne Mädchen, die auch mir durchaus gefielen. "Sie wundern sich immer: warum spricht er kein Mädchen an? Ist er vielleicht schwul?" berichtete mir Nolberto. "Aber nur vielleicht", klopfte ich ihm auf die Schulter, und bat ihn, mich nicht mehr mit diesen Nichtigkeiten zu belästigen.

Auch ich wurde scharf wie ein Osterhase, aber ich kam damit überhaupt nicht klar: wie, ist die unschuldige Romantik denn schon vorbei, kann ich nicht mehr ganz normal verknallt sein, ohne schweinische Hintergedanken? Die Mädchen veränderten sich schlagartig: mit keiner konnte man mehr normal reden. Entweder will man was von ihr, oder was will man von ihr? Der einzige, der nicht schwul war, war wohl ich: die Anderen zeigten einander ihre steifen Schwänze, wichsten zusammen. Ich rührte meinen Schwanz nicht mal an, außer um ihn beim Pissen in Position zu bringen. Nachdem ich eine Ladung Ejakulat in meinem Biobuch fand - was für ein galanter Streich - , tauschte ich meine sämtlichen Schulbücher aus und kaufte mir einen metallenen Aktenkoffer. Beim Aussortieren von alten Sachen im Keller fand ich dieses Paläontologie-Buch wieder. Als hätte man die Zeit zurückgedreht, sehr weit zurück. Die Verniedlichungsform von Yuri heißt Jura, wie das Zeitalter der geilsten Dinosaurier. Ich schaltete in der Schule wieder einmal auf Tunnelblick, beachtete das Bordell um mich herum kein Bisschen. Um etwas Kohle für ein neues Fahrrad zu scheffeln, nahm ich einen Job als Nachhilfelehrer für die Klassen 5 und 6 an. Ich konnte gut erklären, die Kindlein hörten mir gebannt zu. Bald verbrachte ich mit denen mehr Zeit, als mit meinen Klassenkameraden. Als ich eines Nachmittags heim fuhr, erwischte ich mich bei dem Gedanken, Eltern, Lehrer oder Pfaffen zu töten, sollten sie eines dieser kleinen Mädchen anrühren.

Ich ließ jede Party an mir vorbeisausen, und machte mich Ende des Schuljahrs endgültig zum Ausgestoßenen. Ein Y statt "ie", das Haar fast schwarz statt hellblond. Der Name machte mir viel zu schaffen, ich hatte jede Nacht Alpträume. Das Mädchen wurde im Juni 11, sah aber noch kindlicher aus. Ich war 14, im Fickalter. Was tun, ich hatte mich diesmal bis zur Unkenntlichkeit verliebt. Wie auf Koks, oder auf LSD, oder auf einer Droge, die noch nicht erfunden wurde, liebte ich die Welt, die Menschen, die Tiere, die Sterne, sogar mich selbst. Ich war nicht nett, ich war aus tiefstem Herzen freundlich und wünschte jedem nur das Allerbeste. Der Rausch verflog, als in der lokalen Kirchengemeinde ein Missbrauchsskandal losbrach. Wurde auch Emily missbraucht? Könnte jemand es vor haben? Ich wurde paranoid, und es war schwer, es vor dem Mädchen zu verbergen. Mit ihr darüber reden wollte ich auch nicht, das wäre eine Zumutung für ein elfjähriges Mädchen. Ich stieg auf einen kahlen Berg, streckte die rechte Hand zur Sonne aus, und schwor mir, alles Notwendige zu tun, und bekannte mich, dass jede meiner Taten heilig sein würde. Ich bereitete mich auf den Fall vor, besorgte Schusswaffen und einen Kartoffelsack Munition. Es half nichts, die Liebe meines Lebens wurde von Misstrauen und Angst zerfressen, bald konnte ich Emily nicht mehr sehen. Sie war auch gar nicht in mich verliebt, hatte mich aber sehr gern, und das war für mich das Größte an Liebe, was ich bis dahin - und bis heute - von einem Menschen erfuhr. Sie vergaß mich schnell, als ich den Nachhilfejob schmiss und nicht mehr bei ihr auf dem Spielplatz auftauchte. Ich begann, Erwachsene zu beobachten, die vielleicht Kinderschänder sein könnten.

Klasse 9, erster Tag. Nein, Emily hatte mich doch nicht vergessen. Sie nahm es mir übel, dass ich seit drei Wochen nicht mehr mit ihr spielte, und machte überall Andeutungen, ich sei in sie verliebt gewesen. Und natürlich kennt der widerlichste denkbare Abschaum Verliebtsein nur als Fickenwollen, und ich bewegte mich, wie ich feststellen musste, mitten im ausrottungswürdigsten Kakerlakenkaff der Welt. Yuri interessiert sich nicht für Mädchen? Doch, ihr Hurensöhne, aber nicht so wie ihr. Ist Yuri schwul? Nein, er will bloß keine Nutten ficken, sondern in ein Mädchen verliebt sein. Ist Yuri pädophil? Darüber ging die erste Unterrichtsstunde des nächsten Tages. Die Lehrerin erklärte mir, was es für ein großer Unterschied sei zwischen 14 und 11, und dass meine sexuelle Perversion therapierbar wäre. Ich hörte mir die Ungeheuerlichkeiten in Ruhe an, aber am Ende der Stunde wurde es mir doch zu viel. Ich stand auf, kam auf die Lehrerin zu, eine Frau Mitte 40, sah ihr in die Augen und sprach: "Du verfluchte Nazitocher, tut mir leid für dich, dass deine Zeit vorbei ist, ich rate dir, dich heute Abend zu erhängen, damit du im ewigen Auschwitz endlich deinen verfickten Vater wiedersiehst". Alle Münder waren offen, nur mein Mund war zu. Der Rektor gab mir 24 Stunden, mich in aller Form zu entschuldigen, oder ich würde von der Schule fliegen, und er dafür sorgen, dass ich nie wieder auf deutschem Boden einen Fuss in ein Gymnasium setzen kann. "Auf deutschem Boden?" fragte ich nach. Er schüttelte mit dem Kopf und schwieg. "Ich erwarte von euch Mördern und Kinderschändern eine Entschuldigung, und ihr habt genau eine Stunde", wurde ich deutlich und fuhr nach Hause.

"Das ist kein Amoklauf", sagte ich, als ich im Klassenzimmer Geiseln nahm, "ich werde euch im Namen des Rechts hinrichten, nicht aus Verzweiflung abknallen". Ich ließ einen Großteil der Schüler durch Lehrer austauschen, hielt lange Tiraden, belehrte dieses Vieh, dass jemand, dem nur ein Gedanke an das Leid eines missbrauchten Kindes so unerträglich ist, dass er nicht mehr leben will, sich von diesen noch im besten Fall den Kindesmissbrauch in ihrer Gesellschaft billigend in Kauf nehmenden Unmenschen doch nicht "pädophil" nennen lassen könne. Dennoch saß ich nun in einer Sackgasse: was tun? Töten wollte ich niemanden, denn ich konnte nicht nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen, dass sich im Raum auch nur ein tatsächlicher Kinderschänder befand. Fast jede zweite Ehe auf deutschen Boden wird geschieden. Das war meine Rettung. Der Vater - nicht der gleichgültige Stiefvater - des hellblonden Mädchens, der von ihrer Mutter einst weggeekelt wurde, war einer der Polizisten, die die Schule stürmten, gar ein hohes Tier. Er hatte von diesem Jungen gehört, der verzweifelt um das Leben seiner Tochter gekämpft hatte, und nun hatte er diesen Jungen vor sich. Er sprach ruhig, wie ich zu sprechen gewohnt war, und stellte klar, dass die Geiselnahme für mich keine Konsequenzen haben würde. Seine Untergebenen nickten hündisch, unter den Lehrern, die zum Mobiltelefon griffen, gab es drei-vier gebrochene Nasen. Bis alle Waffen verschwanden und alle Spuren getilgt waren, durfte niemand die Schule verlassen. "Es ist nichts geschehen", sagte Emilies Vater, "sonst werdet ihr daran noch erinnert, was hier geschehen ist". Das Gesetz triumphierte, das Verbrechen musste sich die Nase richten lassen; an jenem Abend fragte er mich, mit den Tränen kämpfend, was das für ein Tier sei, dessen Bild den größten Kranz am Grab seiner Tochter schmückte. "Ein Minmi, ihr Lieblingsdino", sagte ich, und dann weinten wir wie Männer, still, ohne Worte, und ohne uns gegenseitig zu trösten. Danach hatte ich in einer Polizeikneipe mein erstes Bier.




5. Minotaurasaurus


"Nein, ich komme aus Ecuador. Vor fünf Jahren sind wir nach Sizilien eingewandert" "Warum, Nol?" "Kindisch, aber wegen dem Kraken. Ich wollte unbedingt Italiener sein, und mein Vater hing dieser naiven Mafia-Romantik nach. Ich habe mich mit Jungs auf dem Schulhof sogar darum geprügelt, wer cooler ist, Terrasini oder Antinari". "Und was macht ihr Äquatorialtrottel im kalten Deutschland?" "Mein Vater hat die Mafia-Leute wie ein Wahnsinniger belästigt, er wollte unbedingt einer von ihnen sein. Als er Mafioso war, war ihm der Aufstieg nicht schnell genug, und er fand dann doch nicht das, wonach er gesucht hatte. Ein Lokalboss gab ihm 24 Stunden, um sich zu verpissen. Am nächsten Tag kamen wir in Frankfurt an. Wir sind im Grunde zwei kleine Jungs, mein Vater und ich, beide ohne Mutter aufgewachsen". Ich schaute auf die Uhr: gleich müsste Nolbertos Zug ankommen. Ich hatte ja die Schule gewechselt, war nun drei Fahrradstunden weiter eingeschult, und musste jeden Tag 55km mit dem Zug zur Schule fahren. Meine Eltern hatten noch ihre Arbeit in dem Ort, was los? Ich ging natürlich nur vom Elternaus zum Bahnhof und zurück, und wenn ich mich noch mit jemandem aus früheren Tagen traf, dann in dem Ort, wo ich nun zur Schule ging, und manchmal in einer Jugendherberge schlief. Ich machte ein Praktikum im Museum, wollte unbedingt Paläontologe werden, um Dinosaurier nach zwei bestimmten Mädchen benennen zu können.

In Klasse 10 liest man gewöhnlich keinen Kuhn, aber mir war danach. Ich sehnte mich nach einem Paradigmenwechsel - der Schulwechsel sorgte mitnichten dafür, dass meine Motivation, am Leben zu bleiben, anstieg. Ich las Geschichte. Im Politikunterricht ging es mal um eine Todesstrafe-für-Kinderschänder-Aktion von zehn oder zwölf Leuten in der Innenstadt, die jeder blöd fand, und meinte, die Täter seien nur krank, und man müsste ihnen doch helfen. Ich erwiderte, die ganze verdammte Gesellschaft hier sei auf Hitler fixiert, diesen kranken erbärmlichen von Skrupeln zerfressenen Psychopathen, und ignorierte jeden anderen Verbrechertyp. Ich führte Hitlers großes Vorbild an, Dschingis Khan, den mit Lust mordenden Feingeist, und Timur Lenk, den lahmen Enthaupter ganzer Städte. Und noch perversere Schweine brachte ich ins Spiel: gar nicht erst pädophile Väter, die, weil sie die Macht dazu haben, ihre Kinder als Ersatzobjekt missbrauchen. Die Lehrerin wollte schnell das Thema wechseln, doch ich fragte sie, ob sich das Nachkriegsdeutschland als eine Gruppentherapiegruppe für den Patienten aus Braunau sah, und ob die Lehrerin selbst als Kind sexuell missbraucht worden sei. Die Rektorin war fassungslos. Ich weiß, dass ihr mit 15 genau wisst, in was für einer Welt ihr lebt, aber wo sind deine 15 Jahre Erziehung, Junge, du müsstest doch bestimmte Redetabus höher anerkennen, als alle religiösen und moralischen Gebote! - übersetzte ich ihre lange heuchlerische Tirade in Klartext.

Die Politiklehrerin erschien eine Woche nicht mehr in der Schule, und unternahm in der Zeit einen Selbstmordversuch. Ich wurde von meinen neuen Mitschülern nun konsequent gemieden, aber ich interessierte mich auch nicht für sie. Mit zitternder Stimme rief mich Nolberto an und sagte, Emilies Grab sei geschändet worden. Es war kurz vor Mitternacht. Ich setze mich auf mein Fahrrad und fuhr hin. Um drei war ich am Friedhof, hatte eine Eisenstange und eine mitgebrachte Kleinpistole mit. Fünf Jugendliche suchten das Grab des zweiten Mädchens, nach dem Dinosaurier benannt werden sollten, doch ich fand sie früher. Ich schoss ihnen in die Kniescheiben, machte ihre Fressen ihrer inneren Schönheit entsprechend, bohrte jedem noch die Eisenstange durchs Knie. Die Welt hatte fünf Behinderte mehr, und ich hatte in den Sommerferien die Kunst der Spurenbeseitigung nicht umsonst von Emilies Vater erlernt. Die nächste Woche sah ich in den Pausen meine Politiklehrerin weinen und Tabletten schlucken. Als niemand in der Nähe war, setzte ich mich zu ihr, und sagte, jede Todesstrafe sei noch ein zu schneller Tod für diese Schweine, und dass ich Folterlager für solche Menschen errichten würde. Wir trafen uns dann oft heimlich nach der Schule, ich war ihr "schwuler Freund", mit dem sie reden konnte, wie mit keinem sonst. Sie war Mitte 30 und durchaus schön. Als sie mich nach meiner Freundin fragte, sagte ich die Wahrheit. Nein, ich war nicht nicht an Mädchen interessiert, aber ich war dem Gedenken von zwei Mädchen verpflichtet.

Das Ende der Kreidezeit war im Herbst mein Hauptforschungsgegenstand, darüber hinaus lernte ich wie besessen für Biologie und Chemie. Zwei Leichtathleten erschienen im Oktober in Rollstühlen zu einem Wettbewerb im Weitspringen, den meine neue Schule für Schulen im Umkreis von 60km organisierte. Der gutherzige Nolberto war bei ihnen, und sagte die ganze Zeit, wie leid es ihm tat. Ich sagte ihm später nicht, wer der Arzt und Schönheitschirurg dieser Hurensöhne in jener Nacht auf dem Friedhof war. Emilies Vater war nah dran, Emilies Stiefvater als einen sadistischen Verbrecher zu überführen. In Wirklichkeit quälte dieses Arschloch nur Tiere, aber wenn ein Tier Tiere quält, ist es dasselbe, als wenn ein Mensch Menschen quälte. Ein Typ aus meiner Schule gewann, obwohl er die Rekordweite vom letzten Wettbewerb um einen halben Meter verpasste. Ich ging zu den Rollstühlen, und hörte mir erst aus der Distanz ihr hilfloses Fluchen und ihren beißenden Spott an, dann zeigte ich ihnen ein Tier aus einem alten Paläontologiebuch und sagte: "Das ist der Minotaurasaurus, Jungs. Ich glaube nicht, dass er weit springen konnte. Ihr hättet ihn wahrscheinlich geschlagen. Aber um ihn fertig zu machen, musste erst ein Stein größer als der Mt.Everest auf die Erde fallen. Euch hat, wie ich hörte, irgendein dämlicher Penner so zugerichtet. Viel Spaß noch im Leben, Aussehen ist nicht alles, und weglaufen tun eh nur Feiglinge". Am nächsten Tag gab es nur noch einen Ex-Leichtathletiker aus meiner früheren Schule. Es muss eine stundenlange Debatte im Kopfparlament des Selbstmörders stattgefunden haben, denn er schnitt sich die ganze Nacht in den Arm, und verband die Wunde wieder, was er mit dem anderen Arm wiederholte, dann wieder mit dem ersten, und dann nochmal mit dem zweiten. Schließlich verlor er zu viel Blut und starb. Ein Massensterben ist, wenn sehr viele Tiere sterben, aber die Arten weiter bestehen bleiben. Von einem Massenaussterben spricht man, wenn ganze Arten vom Angesicht der Erde verschwinden.




6. Euoplocephalus


Als die Moschee nicht weit von meiner Schule angezündet wurde, schloss ich mich einer linksradikalen Bewegung im Ort an, die der Tatenlosigkeit der Polizei nicht tatenlos zusehen wollte. Ich stand diesen Leuten, von denen die Hälfte meine Mitschüler aus chronostratigraphisch tieferen Jahrgängen waren, jedoch nur tätlich zur Seite, die Treffen bis Mitternacht mit den Endlosdebatten über das Ende des Kapitalismus wollte ich mir nicht antun. Es war eigentlich ganz schön sinnvoll, gewaltlos gegen Diskriminierung zu kämpfen, aber es hatte auch eine Schattenseite: nun hatte ich lauter orientalische Freunde am Hals, die mich zum Islam bekehren wollten. Diese morgenländische Freundlichkeit war mir so zuwider, dass ich mich irgendwann nicht mehr engagierte, aber als es darauf ankam, und die Antifaschisten haufenweise hinter den Schürzen der keinen Zeit und der anderen Sorgen verschwanden, war ich wieder dabei. Ein neuer evangelikaler Prediger aus Virginia hetzte Neonazis und Neuneonazis - die in seiner Kirche zu Neonazis gewordenen Hurensöhne - auf alles, was islamisch aussah. Ich ging jeden Tag in die Moschee, half, die Nazischmierereien zu beseitigen, gründete eine Schülergruppe für die Verteidigung des Rechts auf Religionsfreiheit, stritt für islamische Gebetsräume und für das Kopftuch, hielt endlich ein Referat über den 11. September, in welchem ich den Schwerpunkt auf die Unschuldsvermutung legte. Den Amiprediger traf ich bei einem Kinderfest, auf dem er Grundschülern erklärte, dass Homosexuelle in die Hölle kommen würden. Ich riss Witze über den 11. September, bis er vor Wut auf mich losging. Er war doppelt so alt wie ich, aber halb so reaktionsschnell. Ich schlug ihn in einem klaren Fall von Selbstverteidigung brutal zusammen. Er trat nie wieder irgendwo auf.

Ich hatte Ruhe und Respekt, feierte ein frohes Weihnachtsfest mit und bei meinen Großeltern, und war stets mit allem Möglichen beschäftigt, nur nicht mit mir selbst. Ich ignorierte die Alpträume, die ich immer noch jede Nacht hatte, und wenn ich mich an die Träume nicht erinnern konnte, wachte ich dennoch am Boden zerstört auf. Mit einem Karim aus Beirut, der mit 149 einen fünf Punkte höheren IQ hatte als ich, gründete ich in der Moschee einen wöchentlichen Gesprächskreis zur Vereinbarkeit von Islam und westlichen, humanistischen, sprich menschlichen Werten. Lange wurden wir nicht geduldet, der Imam löste nach drei Sitzungen den Kreis auf, und ich bekam Hausverbot in der Moschee. Zwei Wochen später erkannte ich bei Karim mehrere Anzeichen für einen bevorstehenden Suizid. Ich handelte sofort, sprach ihn darauf an, woraufhin er sehr deutlich machte, dass ihm niemand helfen konnte. Seine Familie hatte rausgefunden, dass sein bester Badmintonfreund Rick nicht nur sein Freund war. "Schwul bedeutet eigentlich Todesstrafe", sagte Karim, "meine Familie will mich nicht mehr sehen". "Du kennst die bundesdeutsche Gesetzeslage", erwiderte ich trocken. "Die erwarten alle von mir, dass ich mich umbringe", schüttelte er mit dem Kopf. Er tat es nicht, auch weil ich ihn dazu ermutigte, seinen klugen Kopf zu benutzen, und sich nicht einem archaischen Kodex zu unterwerfen. Besser wurde es dadurch nicht: das Mobbing, dem er von nun an seitens seiner Glaubensbrüder ausgesetzt war, war nicht im Geringsten subtil. Einmal kamen fünf von ihnen in unsere Klasse, setzten sich ganz hinten, und drohten ihm unmissverständlich, ihn zu töten, sollte er in seinem Referat über die Scharia etwas erzählen, was ihnen nicht gefiel. Karim begann zu stottern, brachte keinen Satz zu Ende, und ich sah mir die Szene an, und hatte plötzlich einen so dicken Hals, dass ich mich nicht mehr an meinem Platz halten konnte. Ich ging an die Tafel, umrandete die islamischen Länder mit einem Edding rot, und schrieb "Affen". Der Lehrer kam auf mich zu, ich schob ihn beiseite und sprach: "Wer in Deutschland lebt, hat Werte zu respektieren, die von Menschen für Menschen in unser Grundgesetz geschrieben wurden. Wer ein Schimpanse sein will, ab nach Baghdad". "Du bist tot", sagte einer, dessen Schwester ich vor zwei Glatzköpfen beschützt hatte. "Erhängt euch beide bis Montag, oder ihr werdet die Hölle auf Erden erleben", sagte ein kleinwüchsiger Nigerianer, den ich vor einer Bande Rassisten verteidigt hatte. Beeinduckt von der Drohkulisse nannte mich ein deutschler Mitschüler ein russisches Schwein.

Die Hölle auf Erden war für mich allgegenwärtig, auch ohne das Widerwärtigste, was die menschliche Gattung schändlicherweise hervorgebracht hatte. Ich bereitete mich auf einen Krieg vor. Auch Karim ließ sich die Hybris von wetlgeschichtlichen Losern nicht länger gefallen, und kam mit mir zum örtlichen Chef der Neonazis. "Ihr könnt mich abknallen", gab ich ihm meine Pistole, "oder mit uns dieses widerliche Pack nach Mordor jagen". Zwei besonnenere Nazis versuchten uns von der Massenschlägerei abzuhalten, aber ich bedrohte sie und lachte sie aus, und zog damit alle Sympathien auf meine Seite. Ich war zu enttäuscht, um aufzuhören. Ich war fassungslos, wieder einmal. Ich hatte mein Leben für diese Geitenneukers in Gefahr gebracht, und sie hatten nichts Besseres vor, als einen Mord an jemandem zu begehen, der das kultivierte und zivilisierte Aushängeschild ihrer Gemeinde war, und nur seine Menschenrechte wahrnehmen wollte. Von einem alten SS-Offizier, der die Neonazis finanzierte, bekamen wir jede Menge nichttödlicher Waffen, mit denen wir die Moschee in jener Nacht stürmten. Vor den Türen standen jeweils zwei bis vier Nazis, die die ausgeräucherten Migranten zu Boden schlugen und in die Büsche schleiften. Karim war der eifrigtse von uns Nazischlägern. Noch in der Nacht löste sich unsere Nazibande bis auf Weiteres auf, denn keiner wollte die Polizei am Hals haben, und außerdem waren die Glatzköpfe zufrieden: endlich ein Zeichen gesetzt. Ich traf den Imam eine Woche später im Zug, und er bedankte sich für alles, auch für den Angriff, der ihm angeblich die Augen geöffnet hatte. Dann lobte er Karim, sagte, dieser sei ein wahrer Muslim, und die anderen nur Muttersöhnchen, die sich hinter ihrem Glauben versteckten, anstatt etwas im Leben zu leisten. Dumm nur, dass Karim mit im Zug saß, - er las drei Sitze weiter ein Buch, Darwins Entstehung der Arten. Er setzte sich zu uns, als der Imam endlich aufhörte zu reden, und sagte: "Ich bin seit gestern Atheist. Ich weiß, dass auf den Abfall vom Glauben der Tod steht. Kommt und holt mich". Bei einem Picnic verbrannte Karim seinem vom Vater geschenkten Koran mit den Worten: "Für die Menschenrechte". Ich trug noch lange heimlich eine geladene Pistole bei mir, aber es kam nichts mehr, sie hatten den Schwanz eingezogen. Einige entschuldigten sich bei Karim, und schlossen sich mit ihm und mir den nach dem Nazianschlag wieder eifrig gewordenen Linksradikalen an, die gegen die Diskriminierung muslimischer Einwanderer kämpften.




7. Pinacosaurus


"Junge, bist du kühn!" wunderte sich der islamische Konvertit Tobias, den ich noch persönlich zusammenschlug und in einen Busch warf, "Aber... hast du Prinzipien? Du kannst doch nicht wie Kriegsgott Ares die Fronten wechseln!" "Das habe ich nie getan", sagte ich, während ich der Massenflucht per Fahrrad aus dem Schulhof an diesem letzten Schultag zusah, "ich war immer auf der Seite des Rechts auf Selbstbestimmung, in jeder Hinsicht". Tobias schwieg eine Weile, fragte dann: "Und du bist Atheist?" Ich verneinte entschieden, wusste aber nicht, wie ich meine Glaubensrichtung benennen sollte. "Glaubst du zum Beispiel an Heilige?" Ich nickte und schaute in die Ferne: "An genau zwei". An die musste ich schon wieder denken, und machte mir zu Beginn der Sommerferien Vorwürfe, wie lange nicht mehr. Ich hatte für Karim doch so viel getan - hätte ich nicht auch damals im Wald hinter der Schule an etwas Anderes als diesen vermaledeiten Gastonia denken können? Ich traf mich jeden Tag am Friedhof mit Emilies Vater, den nur noch der Hass auf seine Ex-Frau und ihren Mann am Leben hielt. Wir stritten uns regelrecht, wer der Schuldigere von uns Beiden war: er meinte, ich sei noch ein Kind gewesen, und ich entlastete ihn mit der Tatsache, dass er damals so weit weg war, und von der nahenden Katastrophe nichts wissen konnte.

Ich fuhr nach vier Wochen Praktikum im Tierheim mit Karim und Tobias nach Dänemark. Bei einem Spaziergang an der Nordseeküste fluchte der Konvertit darüber, dass die Typen aus seiner Moschee eine Schlägerei mit einer Gruppe Schiiten in Hamburg hatten, und dass ihnen die öffentlichen Gelder für ihr Projekt gegen Genitalverstümmelung entzogen wurden, weil sie auf ihren Veranstaltungen mit rassistischen Bemerkungen die Leute verschreckten. Ich lächelte bitter und meinte, der Mensch als Masse sei immer Abschaum: gegen Nazis kämpft man an der Seite von Antisemiten, gegen Kindesmisshandlung protestiert man gemeinsam mit Rassisten. Eigentlich kann man keine Freunde haben, stellte ich fest, außer natürlich als Individuen. Kaum gehören die zu einer Gruppe dazu, ist es mit dem Recht auf Selbstbestimmung vorbei. Wenn zwei oder mehr Leute nicht um ihrer Selbst willen versammelt sind, handelt es sich um Faschismus.

Man kann nicht ewig vor sich selbst ins Engagement flüchten. Wo sich viel aufstaut, bricht der verfluchte Damm. Ende Juni hörte ich nur noch Heavy Metal und wanderte wie ein Irrer nachts durch die Wälder, vielleicht in der Hoffnung, Monster aus meiner Kindheit würden mich holen, oder fliegende Untertassen erscheinen, und mich mit einer Zeitmaschine zurück zum ersten Tag in der 7. Klasse bringen. Ich würde die beiden Mädchen mit dem Einsatz meines Lebens beschützen, und alle, die ihnen schaden könnten, präemptiv zur Strecke bringen. "Wer bist du", fragte mich der Friedhofsgärtner, "dass du den ganzen Tag hier verbringst, und um Verzeihung bittest?" "Ich bin die Welt" sagte ich. Vier Wochen Dauerbeten half auch nichts. Ich betete zu allen Göttern und Naturkonstanten, versuchte auf magische, auf okkulte Art, die Zeit zurückzudrehen. Ich schlief nun immer mit dem Gedanken ein, die letzten vier Jahre seien ein einziger Alptraum gewesen, und morgen würde ich endlich aufwachen. Doch ich wachte jeden Morgen in diesem Alptraum auf.

Heute ist wieder der erste Schultag, ich gehe in die 11. Klasse. Eben ging eine Neue an mir vorbei, eine etwas kindlich wirkende Blondine, und warf mir einen verspielten, aber unmissverständlichen Blick zu. Auch ich mag sie, obwohl ich sie nur seit etwa 90 Minuten kenne. Mein Spiel geht auf das letzte Drittel der zweiten Halbzeit zu, aber ich werde es nicht mehr zu Ende spielen, ich sehe eine Rote Karte vor mir. Ich will in einer Welt leben, in der ich in der 11. Klasse neben Emilie sitze, vielleicht ohne je ein Wort mit ihr gesprochen zu haben. Ich will in einer Welt leben, in der Mädchen möglich sind. Ich bin nicht in die erste Stunde gegangen, sondern habe den Zug dorthin genommen, wo ich damals zur Schule ging, als die Sonne nicht nur für Arschgesichter schien, als das Wort Kindheit noch eine Bedeutung hatte. Ich habe soeben die letzten Blumen niedergelegt und bin in den Wald hinter meiner alten Schule gegangen. In meiner Kleinpistole ist genau eine Kugel. Hier, unter diesem Baum fragte ich damals dieses so verängstigte Mädchen: "Willst du eine allgemeine Einführung über den Pinacosaurus machen?" Warum hatte ich sie nicht gefragt: "Weißt du eigentlich, dass die anderen nur neidisch auf euch sind?" oder "Was hältst du davon, wenn wir so tun, als ob du meine Freundin wärst? Ihr bräuchtet keine Angst mehr davor zu haben, was alle reden, und als Geheimnis ist es doch romantischer, als wenn jeder es weiß, und nur keine Witze macht, weil es die Lehrerin verboten hat?" Ich habe auf der ganzen Linie versagt. Ich weiß, dass meine Eltern sich meinen Tod nie verzeihen werden, aber ich nehme es ihnen unendlich übel, dass sie unbedingt wollen, dass ich glücklich bin, und nicht sehen, dass es etwas gibt, dass ich meinerseits mir nie werde verzeihen können. Ein glückliches Tier wäre ihnen lieber, als einen Menschen zum Sohn zu haben. Aber ich bin nunmal ein Mensch, und werde mich nicht dafür entschuldigen. Ich sitze unter diesem Baum, denke seit drei Stunden über die letzten vier Jahre nach, und finde keinen einzigen Grund, nicht abzudrücken. Der Lauf der Pistole ist in meinem Mund, es soll kein hilfeschreiartiger Selbstmordversuch werden, sondern ein sicherer Suizid. In einer Minute wird mein Hinterkopf zerfetzt, und der endlose Alptraum wird endlich vorbei sein. Eigentlich will ich ein letztes Mal an jenen schicksalhaften Tag vor vier Jahren denken, habe aber diesen dämlichen Pinacosaurus im Kopf. Sei´s drum.


Anmerkung von Terminator:

2.2012

2013 Großer Literaturpreis der Weltliteratur

2014 Kleiner Literatürlichkeitspreis der Gesellschaft für Förderung des romantischen Freitodes

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