Die Krällchen der Maus

Erzählung zum Thema Zuneigung

von  Terminator

Aniki ging in die 10. Klasse einer edlen Schule, und war zusammen mit einem arroganten langhaarigen Mädchen Klassenbester. Nach den Herbstferien kam ein noch langhaarigeres Mädchen neu in die Klasse, nicht minder intelligent und abgehoben, nicht minder brünett. Seine Konkurrentin um die besten Noten nannte Aniki heimlich die Katze, und so war es nur konsequent, das neue, etwas kleinere Mädchen die Maus zu nennen. Ein kleines oder sogar großes wenig war Aniki in die Katze verknallt, und sie wusste zumindest die Hälfte eines Wenigstels davon. Da es sich um eine edle Schule handelte, waren die sozialen Interaktionen sehr diskret, ein Klassenpärchen gab es zum Beispiel gar nicht. Der Oktober ging vorüber und hinterließ mehr Kälte und gemütliches Novembergrau. Der zarte Jüngling kuschelte sich vor immer längeren Nächten in die liebliche kühle Decke, ein bestimmtes Mädchen meinend, die zarte Mädchenikin lieblichte sich entzart einer bestimmten Phantasie, die bestimmt auch Aniki hatte. Sie sprachen manchmal miteinander, und das Eis des Geheimnisvollen war fast reif zum Brechen, doch eines kühlen und diskreten Novembertages entfachte sich die Rivalität neu.

Ging es um die besten Noten im Halbjahr? Aniki kam jeden Morgen angespannter, gestresster, ließ sich nichts anmerken, sein schulterlanges schwarzes Haar saß wie immer perfekt. Aniki vermied schon immer Berührungen mit anderen in der Schule, doch gegen Mitte November vermied er auch Berührüngchen, und es dauerte nur eine weitere Woche, bis er auch jegliche Berührüngchelchen mied. Beim Kalt seiner Hände dachte er immer verzweifelter an das Kalt ganz bestimmter Hände, es fühlte sich trotz normaler Beheiztheit der Räume in der Schule jeden Tag kälter an. Das Eis der Luft konnte man fast knacken hören. Eisstarr war auch Anikis Hals in den Unterrichtsstunden, er traute sich in bestimmte Richtungen gar nicht mehr zu gucken. Er wusste auch nicht mehr, wohin mit dem Blick. Am letzten Novemberschultag, als erster Schnee gefallen war, saß Aniki am Fenster und die Katze am anderen Ende des Raumes an der Periodensystemwand. Aniki dachte, er könnte so tun, als würde er auf die Elemente gucken, und überlegte sich, der besseren Glaubwürdigkeit halber, ob er seine Gedanken nicht zunächst ganz einer bestimmten Eigenschaft der Elemente widmen sollte. Edelgase, dachte Aniki mit gut gespieltem Ernst, und schaute hoch zu Helium, dann etwas runter zu Neon.

Der Rest der Klasse befand sich geographisch zwischen Aniki und der Katze, beim Blick auf die schwereren Edelgase würde sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich die Blicke treffen. Ist das alles kindisch, ich bin immerhin fast 16, sprach sich das Mädchen innerlich den Mut zu, und warf blitzschnelle Blicke zu Aniki, ohne den Kopf zu drehen. Der Unterricht begann, die Maus packte ihre Sachen aus, und stellte fest, dass der Kugelschreiber sich in der Mitte auseinandergeschraubt hatte. Argon, dachte Aniki, und würdigte das Element eines entschlossenen Blickes. Ach, die Schneeflöckchen fallen, machte der Winter der Katze Mut, und sie drehte den Kopf nach links und sah zum Fenster. Langsam, fast in Zeitlupe schraubte die schüchterne Maus den Kugelschreiber zusammen, während Anikis Blick über Krypton zu Xenon glitt, und sich schließlich verfing. Aniki kannte den Flow-Zustand beim Lesen, beim Fahrradfahren, bei Geometrie und Algebra, aber so noch nicht beim Gucken. Sein Blick ruhte nun, fest aber zärtlich, behutsam aber entschlossen.

Als der Kugelschreiber nach sich endlos dehnenden Momenten am Ende nahezu gestoppter Zeit zusammengeschraubt war, hob Aniki den Blick nur ein ganzkleinwenig an, und traf den verträumten, sich festgeguckten Blick der Katze. Aniki versuchte, den Blick nicht allzu auffällig abrupt abzuwenden, doch wurde schon nach einer knappen Sekunde rot im Gesicht, was auch mit der Katze geschah. Das sonst so arrogante und unnahbare Mädchen wusste nicht, wohin mit dem Blick, und ausgerechnet in diesem Moment herrschte im Klassenraum nach einer misslungenen Wortmeldung eines nicht besonders klugen Strebers peinliche Stille. Die verletzlichverlegene Süßscham der Zwei an den gegenüberliegenden Enden des Klassenraums wäre von anderen unbemerkt geblieben, hätte nicht die Maus in der Mitte mit einem kurzen Verlegenheitslächeln genau dorthin geschaut, wovon sich äußerst ungern gerade zwei Blicke getrennt hatten. Zwei Herzen klopften wild, zwei Chemiebücher wurden energisch ergriffen, und zwei zitternde Arme streckten sich in die Luft, um den peinlichen Fehler des Strebers zu korrigieren.


Anmerkung von Terminator:

2.2019

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (26.01.21)
Wird bei manchem Leser längst verschüttet geglaubte Erinnerungen an die eigene Schulzeit wachrufen.
Locker, flockige, mit überraschenden und fantasievollen Wortschöpfungen gespickte Erzählweise..
Sag ich doch immer, nur harte Hunde können mit leichter Hand feingliedrige Märchen erzählen!
TT
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