Fremdschämen, sich

Erzählung zum Thema Behinderung

von  Terminator

1


Der Whisky roch nach Leder und gerösteten Früchten. Kuzma setzte sich zu uns, kletterte etwas unbeholfen auf den hohen Stuhl. Ich erzählte gerade von einem Fall des Fremdschämens, als Stoiber Anfang 2007 bei einer dreistündigen Rede unbemerkt den Versprecher vom amerikanischen Präsidenten Breshnew produzierte. "Das ist gar nichts" lachte Kuzma. Er klopfte auf die Zigarettenschachtel, bis eine auf den Tisch fiel. Erwin reichte ihm die brennende Kerze vom Nachbartisch. Kuzma bedankte sich und nahm seinen Doppelten unter die Lupe. Er trank den Whisky schnell, es hätte auch Vodka sein können.

Ich machte es mir bequem, ließ den Whisky im Glas zirkulieren, roch an ihm und dachte, ich sei zu betrunken, um dieses Gefühl, das ich bei Stoibers Versprecher empfand, Kuzmas Erzählung folgend empfinden zu können. "Er hieß Sebastian. Er heißt immer noch Sebastian, tot ist er ja nicht. Er hasste seinen Namen, wie vermutlich jeder Stotterer seinen Namen hasst. Die Wahrscheinlichkeit lag bei 0,8 dass er sich mit Se-se-sebastian vorstellte. Etwas seltener sagte er S-s-s-sebastian zu sich, aber es kam auch vor, dass er, hochmütig lächelnd, die erste Silbe seines Namens ausgesprochen zu haben, dann mitten im Wort stotterte: Seba-ba-bastian". "S und A sind gemein, aber auch F", so ich. "K, B und D sind hart, aber nicht so listig. Bei denen weiß man ja, dass man sie nicht packt, und findet Synonyme, die mit anderen Buchstaben beginnen".

"Also kam der Sebastian zu diesem Klassentreffen, setzte sich still in die Ecke, knabberte ein Bisschen, trank ein Bisschen, wollte sich schon verabschieden, da kam dieses Mädchen. Sie hieß wie die Kidman, Michelle". "Nicole", so Erwin. "Und sie guckte so, wie eine arrogant-verführerisch guckende Michelle Kidman". "Nicole". "Ach ja, Nicole". Kuzma rief den Kellner, ließ sich noch einen Doppelten bringen. "Er war schon sehr lange in sie verknallt. Natürlich hatte er sie niemals angesprochen. Als er gehen wollte und in der Tür stand, da packte sie ihn am Arm und stellte ihm eine Small-Talk-Frage. Aufgefordert zu reden, sprach er fließend. Übermut überkam Sebastian. Er begab sich auf ein Eis, so dünn, wie die Figur von Michelle. Er übernahm die Initiative, gab ihr einen Drink aus und fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Sie war überrascht, denn Sebastian war schüchtern, aber sie war einverstanden. Sie gingen nach Draußen. Sebastian zitterte, wollte sich aber nichts anmerken lassen, und zitterte umso mehr. Er versuchte, sein Sprechen zu kontrollieren, aber das Stottern kam in jedem Satz mehr und mehr in den Wortfluss. Die Minute, die ihm vergönnt war, bei sich zu Hause sein Fahrrad abzustellen - er hatte sein Fahrrad dabei, und somit etwas zum Festhalten -,  die nutzte er, um durchzuatmen und etwas Kleines in die Hosentasche zu stecken."

Erwin hustete. Kuzma zündete eine Zigarette an und fuhr fort: "Nun, ohne Fahrrad, war er noch nervöser, konnte seine Sätze nicht mehr beenden. Als er eine Frage mit Ja beantworten wollte, stotterte er beim Ja und sprach nach dem halben J nicht weiter. Michelle lud ihn ein, bei ihr zu Hause etwas zu trinken, und nebenbei die Hausaufgaben in Mathematik und Chemie für sie zu machen. Da war Sebastian wieder souverän und erledigte alles routiniert in zehn Minuten. Michelle ging in die Küche. Sie kam ins Wohnzimmer zurück, und da kniete Sebastian mitten in ihrem Wohnzimmer und hielt etwas Kleines in der ausgestreckten Hand. Er begann: Ih-i-i-i-i... Michelle sah den Ring, tat so, als sähe sie ihn nicht. Sie setzte sich an den Tisch und wartete. Er, rot wie eine Erdbeere, versuchte es diesmal mit Mh-m-m-m-mi-mi... und kroch auf Knien auf sie zu, er wollte den Ring ja nicht der Luft überreichen. Sie versuchte ihn zu ignorieren, und er sah nur kurz in ihre Augen, wonach er aufsprang, sich auf das Sofa warf, die Augen schloss, fünf Sekunden bewegungslos verharrte, wieder aufsprang und murmelte, er sei eingeschlafen und wo sie so lange war. Sie sagte nichts. Er äußerte die Absicht, nach Hause zu gehen, sie begleitete ihn zur Tür. Als sie seine Hand an der Türklinke berührte, nahm er all seine Verzweiflung zusammen, schraubte den Kopf durch die Luft zu ihr, machte den Kussmund. Sie erschrak und driftete von ihm weg, fuchtelte mit den Händen in der Luft, sich schützend, und er fuchtelte auch mit seinen Händen, wobei er wirres Zeug murmelte und wie ein Irrer in schnellen Zuckungen mit dem Kopf schüttelte".

Erwin nahm die Kerze vom Nachbartisch und zündete Kuzma die nächste Zigarette an. Alle schauten auf Kuzma, aber der betrunkene Germanistikstudent war fertig mit seiner Rede. "Was ich als Chemiker nicht verstehe" , fing Erwin an und beendete den Satz mit wirrem Unfug. Das Fremdschämen hatte vollends Besitz von ihm genommen, und ich unterbrach ihn, weil er mit den Blicken darum bat. "Woher weißt du denn, dass es sich genauso zugetragen hat?" fragte ich. "Sein Nebenfach ist Germanistik. Er sitzt oft neben mir. Verarbeitet, was er erlebt, in Kurzgeschichten, und gibt sie mir zum Korrekturlesen". "Ist er Legastheniker?" "Er tut manchmal so, - das ist sein Vorwand, um mir seine Geschichten zum Lesen zu geben. Er kann es niemandem erzählen, aber ist furchtbar einsam. Und ich tu so, als wären sie fiktiv, korrigiere sie, gebe sie ihm, und er bedankt sich für die Korrektur, wobei ich weiß, wofür er in Wahrheit dankbar ist. Dafür, dass jemand ihn wahrnimmt".

Ich trank meinen Whisky und wir gingen nach Draußen. Kuzma griff nach der Schachtel - keine Zigaretten mehr drin. Wir gingen an einem Kiosk vorbei, dort arbeitete Michelle. "Ein G-g-gruss von Se-se-sebastian", scherzte Erwin. Michelle wurde rot wie eine Erdbeere und schlug das Fensterchen zu.



2


Kuzma schlich an Erwin heran und erschreckte ihn. Ich schmunzelte. Als Kind hatte ich eine Verschwörungstheorie, welche besagte, dass ich zu stottern begann, nachdem ein Mädchen mir laut ins Ohr geschrieen hatte. Erwin schlug vor, in ein Lokal zu gehen, in dem man sich zum Flirten traf. Da die anderen Bars alle zu waren, kam ich mit. Ich setzte mich in die Ecke, schimpfte über das Nichtvorhandensein schottischer Whiskys und bestellte mir ein dunkles Weizenbier. Es herrschte Rauchverbot, aber das betrübte weder Erwin noch Kuzma, da der Kauf einer weiteren Zigarettenschachtel vor einer halben Stunde von mäßigem Erfolg gekrönt wurde.

Zwei junge Frauen setzten sich zu uns in die gemütliche Ecke. Erwin mimte Sebastian, daraufhin wandten sie sich vom gutaussehenden Erwin ab und Kuzma und mir zu. Kuzma sagte höflich, wir würden auf unsere Freundinnen warten, nur Erwin wäre Single. Sie gingen. Erwin lachte zuerst. Sie unterhielten sich mit einer anderen Gruppe, lachten, zeigten auf unsere Ecke, kamen aber wieder, als sie merkten, dass Erwin sich einen Scherz erlaubt hatte.

"Ich war also mit Ron und zwei anderen werdenden Lehrern, deren Namen ich nich mehr weiß, auf dieser Geburtstagsparty" erzählte Kuzma, "Alle Damen waren sofort um Ron versammelt, er war witzig, geistreich, charmant, malte Bilder, schrieb Theaterstücke - eins davon führten wir gestern wieder auf, schade, dass ihr nicht da wart - , aber die Damen interessierte erwas Anderes. Das sei alles doch nicht die Wahrheit, meinten sie. Wie ist Ron denn in Wahrheit so? Das erfuhren sie, als er seinen epileptischen Anfall hatte. Das befriedigte sie zutiefst, und die Herren noch tiefer, denen sich die Damen wieder zuwandten". "Was ist mit dir?" fragte eine der jungen Frauen Kuzma. "Du bist doch normal, oder?" Kuzma lachte, sagte aber nichts. Ich erzählte eine alte Geschichte, vielleicht aus dem Jahr 1989: "Es war Kasachischunterricht und ein Junge musste nach Vorn gehen und die Vokabeln aufsagen. Er sah nervös aus, riss sich aber zusammen, stellte sich gerade, fand den Tunnelblick und begann die Vokabeln aufzusagen: Nan - Chleb". "Chleb heißt auf Russisch Brot", bemerkte Kuzma. "Da stand er eine weitere Sekunde, zwei, drei, wiederholte: Nan - Chleb, und es verging wieder eine Sekunde, und noch eine, und er war rot wie eine sowjetische Fahne, hielt die Spannung nicht aus und begann von Vorn: Nan - Chleb. Und wieder: Nan - Chleb, bis die Kasachischlehrerin ihn erlöste. Er durfte sich setzen". "Eine Zwei?" fragte Kuzma. "Nein, keine Zwei. Die Lehrerin meinte, es hätte an seiner Nervosität gelegen".

Aus dem Lokal, in die frische Winterluft. "Die Beiden waren doch nett?" fragte Kuzma. "Ich fand sie nicht nett" so Edwin, "ich hätte auch Sebastian sein können". "Ein Wenig bewundere ich Sebastian. Ich hätte mich nicht getraut, in diesen Schaumbad der Scham zu steigen" begann ich zu meinen, aber Kuzma sagte mir die Wahrheit: "Du hast zu früh begriffen, dass es keinen Sinn hat, krampfhaft zu versuchen, normal zu sein". Ich schwieg. Hätte ich dieses Mädchen damals a-a-angesprochen, wäre ich wenigstens wahrgenommen worden. So aber weiß sie nicht einmal, dass es mich gibt, was für uns Beide letzlich auch besser ist.



3


"Es war Biologiestunde, die Lehrerin stellte eine Frage, ich meldete mich, stand auf und blieb mit offenem Mund stehen. Eine halbe Minute, vielleicht länger. Ich versuchte zu sprechen, aber es kam nichts. Die Lehrerin ignorierte mich daraufhin und fragte einen anderen Schüler". "Ich hätte das gern erlebt. Ich meine, am eigenen Leib" so Erwin. "Wieso?" fragte Kuzma. "Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es ist, manisch-depressiv oder schizophren zu sein. Vor zwei Jahren tippte ich kurz vor der Pfüfung eine SMS, verschickte sie, ging zur Prüfung. Nach fünf Minuten überkam mich das Gefühl, dass etwas schwer nicht in Ordnung war. Ich wurde nervös, aber nicht wegen der Prüfung. Ich schwitzte. Ich nahm die Professoren kaum noch wahr, als sie mir meine 1,7 gaben. Ich rannte aus der Uni, schaltete mein Handy wieder ein - das war eine sehr persönliche SMS. Und ich habe sie ausversehen jemandem geschickt, der... Ich meine, ausgerechnet ihr habe ich sie geschickt! Ich sah den Boden an, bat ihn, mich zu verschlucken". "Wir sind wieder beim Kiosk" erinnerte ich Kuzma. "Geh du kaufen. Dein Gesicht hat sie nicht gesehen".

Ich und Michelle, da war ich gespannt. Ich sagte höflich wenn nicht sogar zärtlich, ich wollte eine Packung Marlboro. Sie sah mich an und fragte: "Stotterst du?" Aus dem Aussprechen meines Satzes kam das keineswegs hervor, also fragte ich nach. Michelle meinte, mein Satz sei so glattpoliert, und die Augen verrieten es, auch wenn das Mundwerk wie eine Schweizer Uhr funktionierte. "Nicht mehr so wie früher" sagte ich. "Ich war früher schön" sagte sie. Sie sah immer noch gut aus, aber ich verstand, was sie sagen wollte: früher sah sie nicht gut aus, sondern war schön.

Michelle ging mit uns zum zugefrorenen Fluss, flirtete mit Erwin, und er mit ihr. Sie bestand darauf, uns in Sachen Trunkenheit einholen zu wollen, wir gewährleisteten dies. Auf dem Eis sitzend, erzählte sie von der peinlichen Szene mit Sebastian, merkte aber, dass diese uns allen bekannt war. "Das war gar nichts" sagte Michelle. "Dennis, mein erster Freund, wollte, dass ich für ihn strippte. Was ich nicht wusste war, dass überall hinter Sofas und Schränken seine mit Gucklöchern bewaffneten Freunde warteten. Ich tat mein Bestes, strippte, stöhnte, und auf einmal kamen alle aus ihren Verstecken und applaudierten". "Peinlich", bemerkte Kuzma trocken. Erwin hustete. Wir erinnerten uns, dass er kürzlich eine Lungenentzündung hatte. Kuzma rief ein Taxi und fuhr Erwin heim; ich begleitete Michelle nach Hause.

Ich wurde nervöser, als wir gingen, denn ich wurde nüchterner. Ein Fahrrad hatte ich nicht dabei, nur meine Hausschlüssel, die ich auf dem Weg hochwarf und fing. Michelle lud mich zu einem Kaffee ein, ich nahm die Einladung an. Als sie in der Küche verschwand, kniete ich im Wohnzimmer und streckte die Hand, in der ich etwas Kleines hielt, nach Vorn aus. Michelle tat so, als sähe sie mich nicht, stellte den Kaffee auf den Tisch, ging dann aber rückwärts auf mich zu. Ich überreichte ihr den USB-Stick mit Sebastians Texten. Diese Aktion wurde vor knapp einer Stunde mittels kuzmasebastianischen Telefongesprächs autorisiert; Kuzma gab mir den Stick, als er mit Edwin in ein Taxi stieg. Wir tranken Kaffee, unterhielten uns, ich sah ihre Fixervenen. Ich sah Michelle nicht wieder, aber Kuzma erzählte mir am nächsten Freitag, dass sie und Sebastian nun zusammen seien; er dachte über eine Therapie in einem logopädischen Zentrum nach und sie habe sich in einer Entzugsklinik angemeldet.


Anmerkung von Terminator:

2010

2014 Erster Peinlichkeitspreis der Ex-Stotterer-und-Ex-Christen-Vereinigungsgemeinschaft

2019 Kleiner Blumenstrauß der Gilde der Bullshitgeneratoren-Hersteller für den kreativsten Gebrauch des Produkts

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (31.01.21)
Überraschender Schluss. Es ist dir gelungen, in dieser langen Erzählung die Spannung zu halten.
LG
Ekki
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