Restwelt (erster Teil)

Text

von  nautilus

Ich stand an der Ampel neben dem Landesgerichtsgebäude und blickte an dessen Fassade nach oben. Stellte mir vor, wie es wohl wäre jetzt mit vollem Anlauf vom Dach zu springen, durch die Luft zu segeln und auf dem Boden aufzuprallen. Ich erschrak bei dem Gefühl der absoluten Gleichgültigkeit, dass sich bei dem Gedanken in mir ausbreitete und schaltete schnell wieder auf Autopilot. Suizidphantasien waren mir altbekannte Begleiter, die im Laufe der letzten Jahre immer leiser geworden waren. Ich hatte gelernt sie als Abwehrmechanismen einzuordnen und ihnen nicht mehr so viel Gewicht beizumessen. Die Ampel schaltete um und ich setzte meinen Weg in Richtung S-Bahnstation fort. Es war nicht so als wäre ich unglücklich gewesen, ich hatte bloß keinen Kontakt mehr zu meiner wirklichen inneren Gefühlswelt, hätte mich jemand an diesem Tag nach meinem Befinden gefragt, hätte ich ihm darauf keine ehrliche Antwort geben können. Zu meinem Glück hatten die Menschen in meinem Umfeld schon vor langer Zeit aufgehört sich ernsthaft mit mir auseinanderzusetzen, zu groß wäre die Gefahr gewesen, auf ein Problem zu stoßen, mit dem man sich dann auch tatsächlich befassen hätte müssen. Ich für meinen Teil hatte mich in meinem Gefühl der Taubheit weitgehend eingerichtet. Wie hinter einem sicheren Verbau aus Milchglas betrachtete ich meine Welt und jeden anderen darin. Ich hatte begonnen an einem Rehaprogramm für Menschen mit Beeinträchtigung teilzunehmen und auch wenn die ersten Tage mit ungewohnt strukturiertem Tagesablauf mir einiges abverlangten, war ich dennoch froh über jedwede Ablenkung und den Hauch eines Neuanfangs. Meine Freizeit verbrachte ich damit miese Gedichte und wahnhaft anmutende Kurzprosa zu schreiben. Der Gedanke, dass man posthum hinter meine Genialität käme, befeuerte meine gekränkte, narzisstische Seele mit etwas Leben. Tatsächlich gelang es mir, nachdem ich mich in einem Lyrikforum angemeldet hatte, auch den ein oder anderen wohlgesonnenen Kommentar zu meinen Texten einzustreifen und so wuchs mein Selbstvertrauen mit wachsender Produktivität.
Zu Hause angekommen öffnete ich meine Emails und fand eine Nachricht von einer mir unbekannten Frau darin. Sie schrieb mir, wie sie meinte, aus dem Zug auf dem Weg in meine Heimatstadt, wo sie (aufgrund der Angaben die ich leichtsinnig im Forum zu meiner Wohnadresse gemacht hatte) unweit meiner Straße wohnte. Mein letzter ernstzunehmender Kontakt mit einer Frau lag Monate zurück und ich fühlte wie mir das Herz beim Lesen dieser, ganz und gar unverfänglichen Zeilen, das Herz bis zum Hals schlug. Ich antwortete ihr irgendetwas Beiläufiges, um nicht unsicher zu wirken, aber gleichzeitig weiteren Kontakt aufrecht erhalten zu können.

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