Der erste Werkstattsbesuch

Erzählung zum Thema Erwachsen werden

von  Thomas-Wiefelhaus

Als Tomas das große Schild „Arbeitstherapie für geistig Behinderte“ über der Tür sah, mochte er das Gebäude am liebsten gar nicht mehr betreten. Er wollte ja keine Therapie machen, er wollte richtig, ganz richtig, arbeiten! Und dazu hätte er gerne, – aber diesmal zusammen mit einem Bethel-Mitarbeiter – noch einmal beim Arbeitsamt vorgesprochen. Was also sollte er hier in einer Arbeitstherapie? Pikiert zog er eine Schnute. Aber dann betrat er, dem Sozialarbeiter und dem Werkstattleiter folgend, trotzdem das graue Gebäude.
In einer staubig-dunklen Ecke vor dem Hallen-Eingang wartete sehr gelangweilt: eine kleine, angerostete Stanze. Tomas sah sie sich genau an. Man brauchte bloß ein Werkstück einlegen, den Hebel hinunter ziehen, und konnte danach das fertige Werkstück wieder rausnehmen. Undsoweiter-undsoweiter-undsoweiter …
Der Sozialarbeiter unterhielt sich gerade ausführlicher mit dem Werkstattleiter, sie standen 5 Meter entfernt auf der Gegenseite des Raumes. Tomas hatte also Zeit, sich den Stempel der Stanze noch gründlicher anzusehen. Was genau wird hier geschnitten oder verformt? Den Arbeitsvorgang konnte er sich ja leider bestens vorstellen, aber nicht das konkrete Endergebnis. Doch wie langweilig wäre es wohl, stundenlang daran sitzen zu müssen! Unendlich eintönig stellte Tomas sich diese Tätigkeit vor. Und man würde beim Stanzen nicht viel schlauer werden, schon eher dümmer mit der Zeit! Doch da kam auch schon der Sozialarbeiter mit zustimmendem Kopfnicken und raschen Schritten auf ihn zu. Na, endlich hat der Junge etwas gefunden, was ihn interessiert, zeigte seine Gesichtsmimik überdeutlich.
„Auch das ist durchaus möglich!“ erklärte nun auch sein  Mund. Und er nickte Tomas erneut aufmunternd zu … Aber Tomas schüttelt unwillkürlich den Kopf, als wolle er einen Fluch bannen … Warum hatte er nicht besser gleich vor der Tür Kehrtschwenk gemacht, noch auf dem Schuhabsatz?
Und warum traut man ihm weniger zu, als jedem anderen Jungen in seinem Alter? Er hatte doch schon soviel Zeit verloren, in der er gekonnt hätte und immer wollte, aber die Erwachsenen nicht! Die anderen lässt man zumindest zur Schule gehen! Er dagegen soll wohl hier an einer Stanze versauern? Nein! – Primitive Arbeitstherapie! Er will doch schnellstens aus Bethel herauskommen! Und dafür bräuchte er schnellstens einen Ausbildungs-Platz, oder, besser noch, einen einfachen normalen Job! Einen, bei dem er gerade genügend Geld verdienten könnte, um sich selbst ein kleines Zimmer zu mieten! So ein kleines, aber feines Einzelzimmer – ganz für sich alleine! Ein eigenes Reich. Mit der schönen Freiheit zu kommen und zu gehen, wann und wohin man will. Ohne Bevormundung. Das wäre sein Traum! Dafür und nur dafür würde er selbst an einer Stanze, die ihm so schrecklich dröge erschien, bienenfleißig arbeiten. – Wenn es sein muss!
In der kleinen Halle saß ein gutes Dutzend Patienten an einem kleinen Fließband. In Tomas Augen ausnahmslos ältere Herrschaften, bis auf nur einen Patienten mittleren Alters. Was sollte er denn hier als 16-Jähriger unter den ganzen Opas? Meist trugen sie dunkelblaue Latzhosen oder Kittel. Obwohl ihre Tätigkeiten nicht ganz so eintönig waren, wie bei der rostigen Stanze vor der Halle, hatte jeder nur wenige Handgriffe zu tun.
Die Teile auf dem Fließband bestanden vorwiegend nicht aus Metall, sondern aus Plastik. Sie sahen weiß und sauber aus. Gleichwohl roch es nach Öl und nach Arbeit. Aber es war nicht sehr laut; das miteinander Unterhalten war noch gut möglich.
„Wie viel verdient man hier?“ lautete Tomas hauptsächliche Frage.
Ein paar Mark am Tag wären es schon, meinte der Werkstattleiter, sodass im Monat ein ganz ansehnliches Taschengeld zusammen käme ... Und schon bald würde ein Platz frei werden; spätestens in vier Wochen könne Tomas hier anfangen.
Bloß ein schmales Taschengeld! Keine Unabhängigkeit, keine Mietgeld fürs ersehnte eigene Einzelzimmer. Keine neue Freiheit, nicht die erhoffte Eigenständigkeit! – Und keinen Abschluss obendrein!
Er würde Bethel erhalten bleiben!
Und Tomas antwortete, dass er es sich sehr gerne, vielleicht auch noch ein paar Mal mehr, überlegen möchte …
© Thomas Wiefelhaus

Aus einer Aktennotiz:
… die Arbeitstherapie war unter seiner Würde!


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Bei mehrteiligen Texten wäre es in der Regel gut, mit der Hauptüberschrift zu beginnen, um den Gesamteindruck zu bekommen. (die Gesamtaussage)
Aber Zahlen der Aufrufe verraten mir, die Leser greifen sich wohl oft eine Überschrift heraus.

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