Zahnarzt-Begegnung am Bahnhof

Text

von  pentz

Ausflug zurück von Bimbam-Berg.
Mit meinem Ticket können zwei Personen fahren. Ich getraue mich, eine mit Fahrrad anzusprechen, mit meiner Karte zu fahren. Dabei kann ich mir ein paar Euro sparen.
„Ich habe schon letztes Mal schlechte Erfahrungen gemacht."
„Hören Sie meine Stimme?" Die Maske kann ich nicht abnehmen. „Klinkt die trügerisch?"
„Vor einem Jahr hat mich dies schon jemand an dieser Stelle gefragt. Existieren Sie davon?“
„Sie meinen, daß ich ständig hin- und herfahre und damit meinen Geld mache? Gute Idee, aber leider habe ich manchmal etwas besseres zu tun.“
„Oder warum machen Sie das?“
Zuhören scheint nicht seine Stärke zu sein. Aber Neugierde ist bei ihm um so ausgeprägter.
„Also, ob einige davon ihren Lebensunterhalt bestreiten, entzieht sich meiner Kenntnis.“ Nichts wissen, nichts hören, nichts sehen – der Mensch ist ein Affentier. Außerdem sieht er mir eh nicht so aus, als ob er am Hungertuch nagte, was einen Grund für seine Neidaussage hergegeben hätte gegenüber den armen Kirchenmäusen, die sich nebenbei auf diese Weise ein paar Käsestückchen stipitzen.
Ein Wort einzulegen für die Mühseligen und Beladenen, die psychisch Kranken und Suchtabhängigen, offenbarte mich als humanes Wesen und so sage ich, sowie wir uns auf dem Weg zum Bahnsteig machen, den er sich gewünscht hat, denn er wollte in die Sonne und die schien just auf diesen zu erreichenden Flecken, auf den hin wir zu gehen hatten: „Von irgendetwas müssen die Menschen schließlich leben. Bevor sie faul rumhängen wie die Affen auf den Bäumen...“
Er murmelt etwas Unverständliches und schwenkt akrobatisch das erstklassige Fahrgestell des dickreifigen Mountan-Bike-Fahrrads durch die Luft, um es sich schließlich unter den Arm zu klemmen, wirklich, nicht auf den Boden zu setzen, durchaus affenagil und -konform, und los zieht das Affenpaar, aber nur im Sinne von zwei Personen, unterscheiden wir uns nicht nur geistig, sondern auch stammesgeschichtlich. Sehr dickschwarzbehaart, augenbrauenbuschig, muskulös und breitknochig, athletisch, gestylt und gebodybuiltet ist er, also müssen seine Vorfahren lange vor meinen aus dem Urwald auf die Pampa geschwärmt sein. Mich kennzeichnen blaue Augen von Meer-, See- oder Flußeinfluß.
Obendrein müssten sie auch länger in dichten, dumpfen Waldgegenden gehaust haben, sind doch seine Augen rotbraun.
So kommen wir ins Gespräch: Verteilungskämpfe, rückläufige Evolution, siehe Kriminalitätsrate und Kriege allerorten, steigende Unterdrückung, Bevölkerungswachstum, Pandemien - aber glücklicherweise sind wir schon auf dem Weg zum Mars!
Er sei Zahnarzt, kein Astronom.
Aufgrund genetisch rückläufiger Evolution bzw. Einrastung in den natürlichen Zustand meiner ursprünglichen Zahnstellung habe ich mir jüngst eine Kiefernkorrektur geleistet. Als Kind hatte Mamam diese Justierung bei mir vollziehen lassen, letztere sich nun wie die menschengeschichtliche Evolution verhielt, nämlich zurück in den Urzustand der wilden Tiere und keulenschwingenden Primaten.
„Das ist sehr, sehr teuer!“
„Nicht, wenn man sich dies in Ungarn, in Budapest machen lässt!“
„Die ungarischen Mädels sind die schönsten der Welt!“
Sind nicht die skandinavischen Frauen die schönsten? (Judith, falls Du das hier liest, verzeih mir, bocsanot [botschanot], daß ich dies sage. Ich habe Dich immer geliebt und vermisse Dich noch heute!)
„Aber mittlerweile gibt es so dickleibige Frauen – die Amis [Nord-Amerikaner] haben ihre Spuren hinterlassen.“
Das ist die Frage, die ich aber bei mir behalte. Früher waren die Frauen dünner vor Hunger und hatten wohl ein stetes schmerzendes Hungergefühl und nunmehr sind sie in ein wohlbäuchiges Sattheitsgefühl versetzt, vorerst, bis es dann zu anderen beschwerlichen Dahin- und definitiven früheren Ableben kommt. Wahrscheinlich ist dem Menschen ersteres wichtiger, würde sonst der Westen nicht an dieser Front gewinnen.
Der Zug kommt.
Wir steigen ein.
Infolgedessen sprechen wir nicht viel: ich lese Zeitung, er träumt wohl von den Dirnen dortunten in der flachen Puszta und der blauen Donau,während sein Blick aus dem Zugfenster über die südoberfränkische Ebene schweift, das auch in mir Fernweh in die milderen und trockneren Gradenbreite der ungarischen Tiefebene weckt.
Aber ich gestehe, ich versuche ihn schon ein bißchen auf die Palme zubringen. Denn ich kann schwer einen Zusammenhang herstellen zwischen seiner Geldneid und seines Berufs als Arzt, zudem Zahnarzt und kann mich nicht beherrschen zu bemerken: „Beim Zahnarzt hat man doch auch einmal 10 Euro Praxisgeld bezahlen müssen. Also, getrennt, bei einem x-beliebigen Arzt bereits und obendrauf noch bei Dentalspezialisten.“
Er zeigt sich überwältigt von den negativen Folgen dieser ehemaligen Praxis-Handhabung und lamentiert darüber.
Wir erreichen unterdessen die Drahtzieher-Stadt Erlangen – seiner Konstitution nach zu schließen, hätte ich mir bei einer früheren Bekanntschaft vielleicht viele schlechte Erfahrungen mit den anderen deutschen Zahnärzten erspart – nicht nur seiner Neandertaler-Statur nach, weil ein solcher Mediziner zupacken können soll und muss. Eben auch mit Zahnspangen, die aufspringen und so herausstehen, daß man damit nächtlich Harakiri machen müsste. Der teure deutsche Arzt hat am Freitag aber keine Termine mehr frei. Die Notaufnahme schneidet sie mir vorerst ab. Am Montag wird vom Zahnarzt eine neue reingezogen. Am Montagabend springt sie wieder auf. Am Dienstag wird sie erneut justiert. Am Abend springt sie wieder auf.
Und dafür blecht man das vierfache dessen, was man in Ungarn tut!
„Aber deutsche Ärzte sind die besten in Verdrahtung...“, oder so etwas Ähnlichem tönt er, während wir in die gelobte Stadt der angeblich besten Drahtzieher der Welt wohnen.
„Fahren Sie nun wieder zurück?“
„Außerdem wohne ich nicht in Bamberg, sondern Nürnberg.“
Für die Nichtortskundigen: das ist die andere Richtung. Für die Psychologen: er hat nicht locker gelassen, der Drahtzieher da, meint ich sei ein von Anfang an unterstellter notorischer Schwarzfahrer oder so ähnlich.
„Köszönöm szepen!“
„Was heißt das?“
„Danke sehr.“
„Achso!“
„Szivesa [schivesa] müssen Sie dann sagen.“
„Achso!“
„Viszontlátásra! [Visontlatascha]“
Ein Lachen, ein Grinsen, ein Grienen – welch eine breite Neandertal-Schnute.
Wir erheben uns, der „deutsche“ Mann wendet sich ganz gewissenhaft noch einmal zu seinem Sitzplatz um und sagt: „Auch nichts vergessen!“ „Vor allem nicht den Kopf!“, sage ich. Obwohl es darum auch nicht schade gewesen wäre.
Es dauert, bis wir vollständig in den Bahnhof eingefahren sind. Derweil bewundere ich die Statur dieses Exemplars eines idealtypischen Zahnarztes: ein wahrhaftiger Hüne. dicke Knochen, nämlich einiges dicker als meine und die sind auch nicht von schlechten Eltern. Vor ihm würde ich mich leichten Herzens auf den Schleudersitz, Arztsitz, Operationsstuhl legen. Gesetzt den Fall, er ist auch noch  entschlußfreudig, dann wäre er wohl perfekt in seinem Beruf.
„Man hat mir damals abgeraten nach Budapest an die Semmelweiß-Universität zu gehen – wegen des Ungarisch.“ Mit Bedauern hat er dies ausgedrückt – möglicherweise im imaginären Anblick der schönsten Frauen der Welt.
Unsereins hat sich da nicht abhalten lassen, wenngleich ein geistes- noch einmal eine andere Sache sein dürfte als ein naturwissenschaftliches Studium. Obwohl dentalwissenschaftliche Termini auch an Latein und Griechisch angelehnt sein dürften. Oder? Nachdem ich nur auf ein älteres, zudem dialektales, deutsches und kein anderes bekanntes, weder Englisches, noch Lateinisches, noch Griechisches Wort, soweit es mir bekannt ist, im Ungarischen gestoßen bin, könnte selbst ein Wissenschaftsstudium ganz schön schwierig sein, mit diesen ungarischen Eigenheiten, die Europa gerade auf politischem Terrain so stark stechende Kopf- bis sogar Zahnschmerzen bereiten.
Abgesehen davon ist der beste Sprachunterricht noch immer der im Bett. Und spricht die Gespielin fast nur Englisch gleich allen Prostituierten auf der Welt, hat man einen Indikator dafür,  dass nicht unbedingt echte Liebe darin zu finden ist. (Judith, daß war eine Liebeserklärung!)
Meine Bemerkung nimmt er mir nicht übel. Glücklicherweise ist er mit seinem Drahtesel beschäftigt. Er geht damit ruckzuck um. Bestimmt ein guter Zahnarzt, zumindest physisch bringt er alle Voraussetzungen dafür mit...
„Örülök! Enchanté. Habe die Ehre!“
Und ab der Fisch mit Lichtgeschwindigkeit!

©    Werner Pentz

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (23.02.21)
"Maßenarbeitslosigkeit" - was ist das?

Rest gerne gelesen, auch wenn es hier und da etwas arg dick aufgetragen ist, finde ich.

 pentz meinte dazu am 23.02.21:
danke

wo bitte ist zu stark aufgetragen? die Fakten sind geschehen, worüber diese KG berichtet.

angesichts der frage zur "obdachlosen"geschichte, frage ich mich mit verlaub, nicht böse gemeint, ob Ihre Realitätswahrnehmung nicht vom Der-Wunsch-ist-der-Vater-des-Gedankens geleitet ist

tipp: mal wieder aus dem Parnaß raus!

lb grüße

wp

Antwort geändert am 24.02.2021 um 14:12 Uhr

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 24.02.21:
Also wenn du mit der Authentizitätskeule kommst, ist jede Textkritik vergebliche Liebesmühe, wie man so schön sagt.

In der Tat habe ich keinen Kontakt zu Obdachlosen, ist das so ungewöhnlich?

 pentz schrieb daraufhin am 24.02.21:
jetzt hast Du aber kontakt...

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 26.02.21:
Auf den Arm nehmen kann ich mich selbst, freundlich ausgedrückt.

 pentz ergänzte dazu am 28.02.21:
wie machst Du das, pragmatisch gefragt?
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