Ein Gesicht, mehr nicht

Protokoll zum Thema Identität

von  eiskimo

Er wollte sie nicht wegwerfen, seine alten Passfotos. Und was für Fotos. Er hat mittlerweile eine ganze Kollektion. Angefangen von einem Schülerausweis, einer Monatskarte für die Straßenbahn über den ersten „Lappen“, den er seinerzeit bei der Bundeswehr gemacht hatte bis hin zu den abgelaufenen Reisepässen, von denen er auch schon ein paar hat ansammeln können.
Früher waren da ja noch richtige Fotos drin, die bei den Dokumenten aufgeklebt oder eingestanzt wurden. Bei einigen wurde das Passbild mit abgestempelt, damit es nicht in betrügerischer Absicht ausgetauscht werden konnte.
Die ältesten sind in Schwarz-Weiß. Das Foto in seinem Spielerpass für den Handball-Verein hatte noch sein Bruder selbst aufgenommen und in der heimischen Dunkelkammer (dem Badezimmer) auch abgezogen. Schlecht fixiert hatte er es, die weißen Partien hatten schon schnell braune Ränder bekommen.
Die Passfotos, die er später brauchte, waren dann schon in Farbe. Meist hatte er sie in einem dieser Automaten machen lassen – vier Stück für fünf Mark. Den Hintergrund konnte man, bevor man sich auf dem Dreh-Hocker platzierte, selber wählen: Vorhang lassen oder Vorhang wegziehen. Weggezogen saß man vor einer weißen Wand, sonst hatte man den Faltenwurf des grauen Vorhangs als triste Deko im Nacken.
Manche Fotos hatten sehr gelitten. Die aus der Straßenbahn-Monatskarte waren ja täglich im Einsatz gewesen, schön gequetscht in der Gesäßtasche. Da hatte er schon vorzeitig reichlich Falten abbekommen. Dafür waren seine Pose und der Blick ausgesprochen unverkrampft.
Je jünger die Fotos, so stellte er fest, desto verkrampfter sah er aus. Das lag daran, dass die Vorgaben für Passfotos immer rigider geworden waren. Die Brille musste ab wegen möglicher Reflexe, der Blick offen ins Objektiv, Mund geschlossen, leichtes Seitenprofil – entsprechend  hölzern kam er am Ende rüber.
Natürlich hatte er in seiner Foto-Sammlung festgestellt, wie rasch und wie sehr die abgebildete Person da gealtert war. Der rasante Schwund der Haare, deren zunehmende Graufärbung, der immer schütterer werdende Schnäuzer...
Es hat ihn nicht sonderlich berührt. Diese Fotos waren schon damals, als sie noch amtlich Geltung hatten,  nicht mit ihm identisch. Er empfand sie immer als eine Art Karikatur. Da hatte er sich nämlich nur für einen Moment so verstellt, wie die Kamera es verlangte. Klick.
Denn einmal kleinformatig fixiert in dem betreffenden Ausweis, war er dort reduziert auf ein optisches Behelfsprodukt, auf eine formale Zuordnungshilfe, mehr nicht. Nie war es da um ihn selber gegangen.
Er hat sie trotzdem behalten, diese alten Passfotos. Nettes Beiwerk zu einem vorbeifliegenden Leben.

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Kommentare zu diesem Text


 Annabell (03.03.21)
Hallo Eiskimo,
Dein Protokoll "Ein Gesicht, mehr nicht" hast Du perfekt beschrieben. Richtig aus dem Leben gegriffen. Dafür ein *chen.
Einen schönen Mittwoch wünscht Dir
Annabell

Kommentar geändert am 03.03.2021 um 09:07 Uhr

 eiskimo meinte dazu am 03.03.21:
Danke, liebe Annabell. Es freut mich, was Du da schreibst.
Diese Begegnungen mit seinen alten Passbildern ("ohjee!") hat wohl jeder.
LG
Eiskimo

 franky (03.03.21)
Hi lieber Eiskimo,

Ganz toll, wie du deinen Beibackzettel gestaltet hast.
Ich kann mich auch noch gut auf den Fotoautomaten erinnern, der befand sich meist am Bahnhof. Es gab da manchmal sogar Warteschlangen.

LG Franky

 eiskimo antwortete darauf am 03.03.21:
Ja, im Bahnhof und bei uns vor dem Karstadt. Da haben viele Spaßvögel auch "Gruppenfotos" drin gemacht - das war eine echte gymnastische Übung, kein Verglei ch zu den heutigen Selfies.
LG
Eiskimo

 AZU20 (03.03.21)
Warum sollte man sie auch wegwerfen... die Erinnerungen? LG

 AchterZwerg (03.03.21)
Am schlimmsten.sind tatsächlich die, die vor ca. 10 Jahren das Lächeln verboten..
Da gibt es eins von mir, das eine aktive Massenmörderin zeigt.
Oder dies auf der mit 18 erworbenen Pappe (mit der fahr ich heute noch), auf dem ich wie Anfang 30 aussehe, mit meiner schmucken Hochsteckfrisur ...

Ach ja. Gern mitgelesen,
der8.

 eiskimo schrieb daraufhin am 03.03.21:
Trugst Du mit Anfang 30 schon die Zipfelmütze (über der Hochsteckfrisur) ??
Scherz beiseite. Man kann sich von seinen Passfotos in der Tat nur heftigst distanzieren. Die Ähnlichkeit mit dem gerade Weggelaufenen ist rein zufällig...
lG
Eiskimo
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