Glück

Text zum Thema Liebe, lieben

von  RainerMScholz

Eine schier unmenschliche Kraft, eine ungeheure Anstrengung des Geistes und des Herzens muss ich aufbringen, um dieses Element auszublenden, die Zeit davor und die Zeit danach; und den Raum jenseits dieses Punktes, das Stoffliche, die Dinge und die Begebenheiten. Die Welt außerhalb dieses Moments, wie sie ist.
Dieser kurze Augenblick. Unsere Lippen berühren sich beinahe, der Atem strömt in den Mund des anderen; ich spüre ihren Körper an meinem, die Sanftheit der Haut, die pulsierende Wärme, ihre drängenden Brüste, ihre fordernden Hüften, ihren flachen, sich unter ihrem Pulsen hebenden und senkenden Bauch; und trotz allem küssen wir uns nicht, sondern die Haut, das Fleisch unserer Lippen lauert begierig einander gegenüber, Zungen züngeln, Hauch hechelt nahezu, die Wangen sind gerötet, die feinen Härchen, der Flaum – katzengesträubt; und dann eine kurze Berührung der zarten Lippenhaut, wie zufällig, ein Zusammenschmelzen roter Elektronen und glasigen Speichels, wie geheimer Magnetismus aus dem Nichts des Alls, eine Zungenspitze voller letzter Geheimnisse, fließend, jungfäulich ohne Bedauern und ohne Reue, weder Vergangenheit noch Zukunft seiend.
Und dann schießen wir in die Nacht. Wir wissen nicht, wo sie endet oder beginnt. Niemand weiß das. Wo ist dieser Ort, der unerreichbar scheint. Wann war er, oder zu welcher Zeit wird er kommen, dieser eine Punkt, dieser Moment. Wer ist dieser Andere, diese Eine – bedeutungslose, zuwiderlaufende Fragen, deren Beantwortung in ewiger Obsoleszenz verhallt.
Ich gehe in deinen Mund und du in meinen; nur um zu schweigen und zu sein.
Alles und jedes soll so bleiben, dieser Sturz soll ewig währen, so hell und klar und so schwarz und rein, wie die ewig leuchtende Nacht, wie die dunkelste Sonnenröte und das schimmernste Wasser. Nur dieser Wimpernschlag. Er soll bleiben.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Hilde (62)
(11.03.21)
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 RainerMScholz meinte dazu am 14.03.21:
Das ist mir schwer gefallen, einen für meine Begriffe positiven Text zu schreiben. Das Unglück schreibt sich leichter.
Gruß + Dank,
R.
Hilde (62) antwortete darauf am 15.03.21:
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 RainerMScholz schrieb daraufhin am 16.03.21:
Man könnte es auch umgekehrt sehen: hielte ich den Mund, und schriebe nicht, dann würde mein Hirn zerbersten, ich würde Synapsen auskotzen und Eingeweide, Amoklaufen, Wildfremden Arme und Beine ausreißen, ich wäre ein abgründiger Rassist und Sexist und Menschenhasser, ich hätte Karriere gemacht bei der Deutschen Bank oder bei Suhrkamp, wäre Politiker geworden und Führerbefiehlwirfolgen, KZ-Wächter aus Berufung oder Posaunist bei den Wildegger Herzbuben, Koch auf Papua Neu-Guinea, wo übrigens mein missionarischer Urgroßonkel verschollen ist, oder Jolly Roger-schwenkender Supertankerüberfaller...
Ich danke auch!
Rainer
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