Es ist so schwer, alt zu werden

Text zum Thema Alter

von  unangepasste

„Grüß Gott, meine lieben Enkelkinder!“
Meine Großmutter steht im Türrahmen und streckt die Arme in die Höhe. Ich reiche ihr die Hand, schlüpfe in die unbequemen Fellhausschuhe, in denen ich stets das Gefühl habe, auf Absätzen zu gehen, und lasse mich auf dem Sofa nieder. Meine Geschwister folgen mir, zwängen sich an mir vorbei und versinken in dem gelben Polster.
Meine Oma nimmt am vorderen Ende des Tisches Platz, wie jeden sechsundzwanzigsten Dezember, denn dort kann sie uns am besten überblicken.
„Heute habe ich keine Geschenke für euch“, entschuldigt sie sich.
Meist ist das der Zeitpunkt, wenn die Kindheit von uns abgleitet, Tropfen für Tropfen in den Boden sickert. Manchmal blicken wir ihr noch nach und betrachten das Muster, das sie im Teppich hinterlässt. Dennoch können wir sie nicht festhalten. Eines Tages finden wir eine leere Stelle, eine Falte, aus der sie entschwunden ist und die sich nun warnend vor uns ausbreitet.
Während sie die kleinen Päckchen auspackt, die wir ihr mitgebracht haben, schwelgt sie in Erinnerungen.
„Wisst ihr noch, wie wir früher in den Oktoberferien in die Stadt gegangen sind?“ Sie fährt fort: „Einmal hast du dir einen Fotoapparat gewünscht.“ Dabei schaut sie mich an. Ich erwidere, dass er noch immer Bilder macht, und hoffe, dass sie sich freut.
Mit gänzlich leeren Händen steht sie nicht da. Das hätte sie auch nicht verkraftet. Jeder erhält ein Buch aus dem Regal im Flur, mal lesenswert, mal erhobener Zeigefinger, und einen Umschlag mit Geld.
„Heute müsst ihr euch selber kaufen, was ihr braucht.“
Ihr fehlt das orangefarbene Papier, und das Wenige verschwindet hinter so manchem Geschenk früherer Weihnachten, das sich sperrig und prächtig in der Erinnerung aufbaut. Der Dank klingt hilflos, das Schweigen zu laut.
Mein Blick schweift in der Wohnung umher. Der Fernseher, „dieses hässliche Gerät“, ist mit einem Tuch abgedeckt. Das Fenster schmücken jedes Jahr dieselben Sterne. Gewohnheit und Erhalt wird wichtig, wenn man alt wird, denke ich. Vielleicht krallt sie sich deshalb so daran fest, weil das Leben damit immer weiterging und weil sie sich auch ein wenig fremd fühlt in einer Welt, die sich so schnell wandelt. Der große Flügel streckt mir vorwurfsvoll den schwarzen Lack entgegen, als wüsste er, dass ich mit fünfzehn Jahren das Spiel aufgegeben hatte. Schon lange klingen keine Melodien mehr durchs Haus.
Dann reißt mich meine Großmutter aus den Gedanken. „Was war das schönste Erlebnis in diesem Jahr?“ Sie kommt auf unsere Zukunft zu sprechen, will wissen, wie das Studium läuft. Mit wachem Blick wendet sie sich an meinen Bruder:
„Jetzt habe ich mir endlich aufschreiben lassen, wie dein Fach heißt. Wenn mich jemand fragt, kann ich auch antworten.“ Sie überlegt kurz, schaut im Zimmer umher und fragt:
„Was macht man später damit? Wie nennt man den Beruf?“
„Er ist dann Umwelt- und Ressourcenmanager“, antwortet der Vater.
Sie schüttelt sachte den Kopf und meint:
„Toll, dass es das alles gibt. Und die vielen Sprachen, die die jungen Leute heute lernen. Zu meiner Zeit war das anders.“
Sie reicht uns einige Ausdrucke aus dem Internet, Informationen von ihrer Tochter, „ein sehr moderner Mensch“, wie sie betont.
Die Kraft in ihrem Körper lässt nach. Und doch, der Geist hat sich nicht verändert. Noch immer ist sie zu Spitzen bereit.
„Kannst du nicht mit dem Auto zur Arbeit fahren? Du hast doch schon so viel gelernt in deiner langen Berufsausbildung!“
Dem Wort „lang“ verleiht sie einen fordernden Unterton. Wir überhören es rücksichtsvoll und lenken die Aufmerksamkeit auf andere Sätze. Sie erzählt, wie sie als Kind Holz sammelte, wenn ein Haus zusammengebrochen war, welche Masten am längsten brannten und das Zimmer warmhielten; wie sie vor der verschlossenen Wohnzimmertür stand, die erst am Abend wieder geöffnet wurde; von einem Schlafanzug, den sie auspackte, und dass ihr in der Nacht, als sie ihn trug, endlich wieder warm war.
Nach zwei Stunden machen wir uns auf den Heimweg. Wir ziehen uns die Jacken an, während meine Großmutter im Flur steht und seufzt:
„Es ist so schwer, alt zu werden.“

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (13.03.21)
Eine berührende Geschichte über das Alter, gut konstruiert auf den letzten Satz hin.

 unangepasste meinte dazu am 14.03.21:
Vielen Dank!
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