Faire Chance

Schauspiel zum Thema Ansichtssache

von  Terminator

Ein mephistophelischer Schurke hat irgendwo im Nirgendwo zwei Gruppen von Menschen in zwei Kerker gesperrt. Die Kerker lassen sich von Außen leicht öffnen, aber von Innen weder durch Muskelkraft noch durchs Nachdenken. Diese Menschen sind in einer Not, die nicht erfinderisch macht, sondern tot. In einer Stunde werden diese Menschen ersticken. Du bist etwas weniger als eine Stunde von jedem der Kerker entfernt - geometrisch gesehen so ziemlich in der Mitte - und kannst somit nur eine Gruppe retten. Alles, was du weißt, ist, dass die eine Gruppe aus 11 Personen besteht und die andere aus zwei. Wen rettest du? Die 11 Leute, das ist immerhin eine Fussballmannschaft. Die zwei könnten ein Paar sein - und du, bist du zufällig unfreiwillig Single? Nimm doch Rache am glücklichen Pärchen und rette die größere Anzahl - jeder wird sagen, du hast das Richtige getan. Nicht?

Streng moralisch gesehen, ist mehr nicht besser. Die zwei Unglücklichen sind auch Menschen. Jeder hat eine faire Chance verdient. Du hast eine Münze in der Tasche - wirf sie! Kopf heißt die zwei Glücklichen da, Zahl heißt Zahl. Du wirfst Kopf. Die Zwei dürfen es sein. Aber etwas stört dich daran - du kannst ja nicht nur zählen, sondern auch rechnen. In der Gruppe mit 11 Personen sind natürlich auch zwei Leute enthalten, sogar fünfkommafünf Mal. Warum also die Zwei da, und nicht zwei von den 11? Der Münzwurf ist unfair. Du hast noch vom Glücksspiel letzten Samstag einen zwölfseitigen Würfel. Du schimpfst, dass es insgesamt 13 sind, und der Würfel somit zwecklos. Du machst dir 13 Lose. Ziehst du einen der Zwei, rettest du die Beiden. Ziehst du einen der 11, rettest du natürlich die 10 anderen mit. Ist doch fair, oder?

Mathematisch wäre nichts daran auszusetzen, aber das Leben ist keine Mathematik. Etwas gefällt dir nicht an dieser Fairness, du hast ein ungutes Gefühl. Du bist wahrscheinlich nah an den Sprüngen, doch um dir ganz sicher auf dieselben zu helfen, sage ich: stell dir vor, du wärst einer dieser Menschen. Da kommt irgendein Idiot daher und wirft eine Münze oder zieht Lose, und es geht darum, ob du überlebst oder stirbst. Es hätte genausogut eine Maschine sein können. Wie fühlst du dich, wenn du eine faire Chance gehabt hast, aber, so läuft nunmal das Spiel, eine Niete gezogen hast? Du musst sterben, das ist ohnehin klar, aber du stirbst nicht als Mensch, sondern als ein Los, eine Spielfigur. Kein gutes Gefühl. Natürlich kann es dir egal sein, warum dich jemand rettet oder sterben lässt. Hauptsache Tatsache: entweder du lebst, oder du stirbst.

Jetzt darfst du wieder den Helden spielen. Ganz ehrlich - willst du so einen Nihilisten wirklich retten? Ist es dir nicht egal, ob jemand, dem es egal ist, warum er lebt oder stirbt, lebt oder stirbt? Du hast ein moralisches Prinzip, das da lautet 11 : 2 = 5,5 (und es ist demnach 5,5 mal moralisch besser, die 11 Leute zu retten als die zwei), oder aber, dass jeder eine faire Chance verdient. Du arbeitest dein Prinzip an einem ihm angemessenen Verfahren ab, und ansonsten ist es dir furzegal, wer lebt und wer stirbt. Würde jemand dich retten wollen? Wahrscheinlich nicht, sondern nur sein Prinzip an einem angemessenen Verfahren abarbeiten, wobei es dieser Person furzegal wäre, ob du lebst oder stirbst.

Wenn du dich entscheidest, selbst zu entscheiden, macht es dich menschlicher, aber auch fehlbarer. Du könntest aus minderwertigen psychologischen Gründen eine folgenschwere Entscheidung treffen, die du moralisch nicht würdest vertreten können. Du könntest nach Lust und Laune, also nach Willkür entscheiden, was nicht weniger zynisch wäre, als sich hinter einer Münze zu verstecken. Es wäre nur nicht feige, und deine Falten würden, wenn du alt bist, nicht die Geschichte eines abgenutzten Körpers erzählen, sondern die Geschichte eines Menschen, der richtige und falsche, gute und schlechte Entscheidungen getroffen hat. Du entscheidest, du stellst dich der Verantwortung, darauf kommt es an, und wenn du dich aus psychologischen Gründen für unfähig erklärst, auf eigene Faust die richtige Entscheidung zu treffen, dann eliminierst du dich selbst als moralisches Subjekt und machst dich zu einem Psychoroboter. Aber ist das nicht eine Spur zu romantisch, die Eigenverantwortung so zu überhöhen, wo sie im Endeffekt zu keinem besseren Ergebnis führen kann, als der mechanische Zufall? Du bist besser - ein besserer Mensch - wenn du auf eigene Faust und Verantwortung entscheidest, aber dadurch handelst du nicht besser. Der Münzwurf kann übrigens, wenn man es romantisch mag, auch als eine Entscheidung Gottes interpretiert werden.

Error. Rechner abgestürzt. Egal, wie deine persönliche Einstellung ist, was für Wertvorstellungen du hast, wie du handelst, es werden entweder zwei oder elf Menschen sterben. Alles umsonst. Alles sinnlos. Mach, was du willst. Sei böse. Damit dich keiner der unterlassenen Hilfeleistung bezichtigen kann, musst du eine der Türen aufmachen. Aber ansonsten kannst du dir genüsslich ausmalen, wie die Elf kurz vorm Ersticken durchdrehen und sich die Köpfe einschlagen, während du die Zwei rettest, und dich somit heimlich als den Mörder von neun Extraleuten feiern kannst. Du kannst aber auch dir größere Gruppe retten - dir werden neun Menschen mehr dankbar sein, und Dankbarkeit kann man immer gut gebrauchen. Denk dir dabei, wie die Zwei, womöglich Eltern von zehn glücklichen Kindern, erbärmlich verrecken, - du sexy Bösewicht, hast zwar die größere Gruppe gerettet, aber mindestens einen Menschen mehr unglücklich gemacht, als die Differenz zwischen 11 und 2 - und dazu noch kleine, unschuldige Kinder! Nun, selbst wenn du so ein Teufel bist, kannst du in dieser Situation nicht böser handeln, als der allerheiligste Märtyrer. Na gut, der Märtyrer würde sich wahrscheinlich aus dem höchstmoralischen Prinzip des größtmöglichen Leidens der Entscheidung verweigern und ins Gefängnis gehen. Weniger dramatisch geht auch: ein streng gläubiger Mensch würde nicht Gott spielen wollen, und aus dieser Borniertheit heraus alle sterben lassen.

Wie also, zum Teufel, handelt man hier richtig? Wie handelt man so richtig falsch, dass einem die Hörner wachsen? Hier fällt beides zusammen. Was lernen wir? Dass eine Handlung an sich nicht moralisch sein kann, sondern nur der Wille, die Absicht, der Gewissensbiss? Wer es noch nicht gelernt hat, hat eben was gelernt. Aber hier geht es nicht um eine Kantstunde, hier geht es um Menschen, lebende und sterbende Menschen, keine abstrakten Probleme der Moralphilosophie. Vielleicht sollte man die Letztere als Gotteslästerung verbieten, denn jeder moralphilosophische Satz ist zynisch und riecht streng nach Hybris. Nicht dass wir, wenn wir über Moral nachdenken, Gott spielen - der Einwand wäre zu naiv - , aber dass wir dabei die anderen Menschen, die echte, lebende, leidende und hoffende Menschen sind wie wir, zu Zahlen, Fällen und Problemen herabsetzten, dass wir vom Menschen als Menschen abstrahieren, ist das unverzeihlich Überhebliche dabei.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (16.03.21)
Eins ist sicher: wenn "du" so lange überlegst, ist die Stunde rum und keine der beiden Gruppen gerettet.
Ob uns das lehrt, daß Reflektieren nicht immer die beste Vorgehensweise bei moralischen Dilemmata ist? Das gefiele mir nicht, ist aber vielleicht dennoch so.

 Graeculus meinte dazu am 16.03.21:
P.S.:
Im Gespräch mit einem bekannten deutschen Utilitaristen habe ich einmal in die kleinere Gruppe seine eigene Frau eingebaut.
Ohne mit der Wimper zu zucken hat er die größere Gruppe als die zu rettende bestimmt.Wenn man bedenkt, daß Moral ein Fall der 'view from nowhere' ist, also der objektiven Perspektive ohne Rücksicht auf die persönlichen Interessen, dann ist das ganz konsequent.
Ich aber bin mir nicht sicher, ob das nicht der Fall eines dialektischen Umschlags von Moral in Unmoral ist.

 Terminator antwortete darauf am 17.03.21:
Kommt ein Flüchtling zu Rabbi Josua und bittet um Zuflucht. Der Rabbi sagt, er muss erst in der Mischna lesen, ob der den Flüchtling verstecken oder ausliefern soll. Nach der Schrifft trifft er korrekt seine Entscheidung. Dann aber kommt der Prophet Elia und sagt: Josua, Gott zürnt mit dir! Habe ich etwas falsch gemacht, fragt Josua. Nein, sagt Elia, aber du hast dich vor der Entscheidung gedrückt.

Moral wird zur Unmoral, wenn sie ein Automat wird.

 FrankReich schrieb daraufhin am 15.02.22 um 11:19:
Derjenige, der jemanden vor eine solche Wahl stellt, handelt unmoralisch, egal wie der Wähler sich da entscheidet. Schwarzweißdenken hilft also nicht weiter, wenn verhindert soll, dass dieser oder ein ähnlicher Gewissenskonflikt durch eine bestimmte Quelle jemals wieder auftritt. Wer in diesem Fall gegen alle Erwartungen handelt und versucht, das Übel an der Wurzel auszurotten, trifft meiner Ansicht nach die beste Entscheidung, nämlich die einzig freie.

Ciao, Frank

 Terminator äußerte darauf am 15.02.22 um 15:32:
Ist es nicht die Erwartung an einen moralischen Menschen, gegen die Erwartung zu handeln?

 RainerMScholz ergänzte dazu am 15.02.22 um 20:55:
Die zweite Hälfte des letzten Absatzes finde ich gut.
Und Gott würfelt nicht, ist ja klar.
Nur Satan ist Spieler.
Der Vongottabtrünnige.
Der Nötige.
Und Genötigte.
Grüße,
R.

 FrankReich meinte dazu am 15.02.22 um 23:21:
@Terminator
Nein, von einem moralischen Menschen wird erwartet, sich an die Spielregeln zu halten.

Ciao, Frank
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