Man kann dem Kraken entkommen

Essay zum Thema Ermutigung

von  eiskimo

Dieser Text gehört zum Projekt    Corona-Texte
Covid 19, der große Krake. Den einen vernichtet er die Existenz, den anderen raubt er Kindheit oder Jugend,  wieder andere sperrt  dieser übergriffige Räuber ein in Altenheime, in Isolierstationen oder lässt sie langsam ersticken  in ihrem trüben Alltag ohne Feiern, ohne Reisen, ohne Abwechslung – die Verlustrechnung ist lang und immer länger. Werden  und bleiben wir alle nur die großen Verlierer?
Ich wage eine Gegenrechnung :
Mein Ex-Kollege Ritchie,  vor Covid 19 immer nur auf Reisen, lernt seit einem Jahr Spanisch. Intensiv. Mit einer interaktiven Methode. Mit viel Musik, mit virtuellen Begegnungen und viel Zeitaufwand  – Ritchie hat Spaß!
Seine Frau Jutta hat das Nordic Walking entdeckt. Sie ist fast jeden Tag mit zwei, drei Gleichgesinnten draußen in den Parks oder auch nahgelegenen Wandergebieten, und sie hat sich, wie sie glaubhaft versichert, noch nie so fit gefühlt.
Stephan B., auch ein Kollege von früher, schickt mir jetzt in regelmäßigen Abständen selbst zusammengeschnittene Videos. Es sind Bilderserien, die er mit Musik unterlegt. Da hat er den Makro-Bereich entdeckt, direkt hinter seinem Haus im Garten. Alles, was da kreucht und fleucht, das fängt er  mit seinen  Nahvorsatzlinsen überlebensgroß ein, um es am PC  in stundenlanger Kleinarbeit vorführbar zu machen – echte Augenöffner! Und für ihn ein ganz neues Hobby.
Den Garten als neues Betätigungsfeld entdeckt haben auch meine belgischen Nachbarn, die Dejeans. Aber sie legen ihn komplett neu an. In harter körperlicher Arbeit haben sie ihn buchstäblich leer gemacht, und jetzt gestalten sie ihn komplett neu: Hochbeete sind entstanden, eine kleine Sitzecke, ein Gewächshaus – gut, dass da mal so ein großes Zeitfenster war, um sich an ein derartiges Projekt  heran zu trauen, sagen sie nicht ohne Stolz.
Meine Frau erzählt mir von ihrer Gymnastikgruppe, dass da jetzt allein schon drei Partnerinnen „auf den Hund gekommen“ seien. Corona habe sie derart runtergezogen, dass sie sich nun tatsächlich einen Hund zugelegt hätten….und dies als große Hilfe gegen das Stimmungstief empfänden.  Gassi Gehen sei ja auch eine Form von Gymnastik…und bringt täglich neue nette Begegnungen.
Wir selber haben noch immer keinen Hund. Aber wir machen seit einiger Zeit Fotobücher. Angefangen haben wir mit dem Sichten und Sortieren uralter Urlaubsfotos. Ganze Festplatten waren da vollgestopft mit Reise-Erinnerungen. Unbeachtet und unverarbeitet lagerten die da. Das schnelllebige Unterwegs-Sein vor Corona ließ die Speicher immer mehr wachsen. Wann hätten wir die sonst wiederentdeckt?  Fotobücher zusammenstellen, das wissen wir jetzt, ist auch ein starkes Erlebnis. Eine Art Reise in die Vergangenheit.
Vielleicht traue ich mich jetzt auch noch an ein weiteres großes Projekt, das ich schon immer im Herzen hatte: Einen Roman schreiben.  Die Pandemie wird uns ja noch ein paar Monate den Rücken frei halten. Sie wird uns weiter  zwingen, uns auf weniger zu beschränken. Es wird weniger sein in der Breite, dafür aber – denke ich -  mehr in der Tiefe.
Der Krake ist natürlich immer noch da. Ich will ihn auch nicht schönreden. Aber seinen Fangarmen kann man zeitweise entkommen. Man muss sich freilich etwas bewegen.


Anmerkung von eiskimo:

Wem nichts Kreatives einfällt: Die längst überfällige Gebiss-Sanierung mitsamt Parodontitis-Behandlung hätte jetzt auch ausreichend Platz. Zahnlücken, dicke Backe, schief sitzende Provisorien sind in Zeiten des Homeoffice ja kein Problem.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (27.03.21)
hallo Eiskimo,
deine Beispiele für sinnvolle Freizeitbeschäftigung zu Zeiten von Corona sind überzeugend. Meine Sorge ist, die Volkswirtschaften der Welt die Pandemie wirtschaftlich überleben.
LG
Ekki

 Graeculus meinte dazu am 27.03.21:
Das ist auch meine Sorge. Virologen, die derzeit das große Wort führen, sind eben keine Ökonomen.

 eiskimo antwortete darauf am 27.03.21:
Ich denke, die Virologen machen ihren Job. Wie deren Erkenntnisse in die Gestaltung des öffentlichen (Über)ebens umgesetzt werden, das ist das Problem. Da scheint mir eine fatale deutsche Gründlichkeit am Werk.

 Graeculus schrieb daraufhin am 27.03.21:
Vor allem Prof. Wieler vom RKI stellt zunehmend Forderungen nach Maßnahmen, die eigentlich Sache der Politik sind, welche alle Aspekte - und nicht nur die medizinischen - berücksichtigen sollte. Wielers Hauptargument ist die drohende Überlastung des Gesundheitssystems - eine Gefahr, der sich seiner Ansicht nach alles unterzuordnen habe.

"Der Krieg", so sagte Georges Clemenceau einmal, "ist viel zu wichtig, um ihn den Militärs zu überlassen." Das kann man m.E. hier übertragen.

 eiskimo äußerte darauf am 27.03.21:
Dieser Prof. Wieler nutzt die Bühne, die er täglich mit seinen Fall-Zahlen bekommt, sehr offensiv. Es ist Aufgabe der Politiker, seine Interpretation an der Gesamtlage zu messen, Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Bildungswesen, das sind vertraute Bereiche.
Das neue Virus aber mit seinen Mutationen ist nicht kalkulierbar. Vielleicht rührt von daher eine gewisse Einseitigkeit.

 AchterZwerg (28.03.21)
Leider stellt sich in der Pandemie nicht nur die Frage nach sinnvoller Freizeitgestaltung.
Der schlechthin unbezahlbare ""Tanz auf dem Vulkan könnte auch zum finalen Veitstanz mutieren.

Skeptische Grüße
der8

 eiskimo ergänzte dazu am 28.03.21:
Natürlich muss "der Laden am Laufen gehalten" werden, das hat eindeutig Vorrang.
Aber angenommen, Schulen, Kitas Flughäfen, Feriendomizile müssen dicht machen, - da fällt vielen die "ewige Freizeit" gehörig auf die Füße. Kraken-Alarm.
wehrhafte Grüße von
Eiskimo

Antwort geändert am 28.03.2021 um 10:08 Uhr
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram