Stehplatz

Innerer Monolog zum Thema Erinnerung

von  RobertBrand

Dieser Text gehört zum Projekt    Corona-Texte
Stehplatz

In der Schreibtischschublade lagern Konzerttickets.
Um genau zu sein - Abrisse der Konzerttickets.
Wie viele es wohl schon sind?
Viele.
Zu Viele?
Oder nicht genug?
In den letzten fünfundzwanzig Jahren ist einiges an Konzerterfahrung zusammen gekommen.
Kraut und Rüben - sozusagen.
Billy Joel, Stadthalle Wien, ohne Vorband, zu spät gekommen - bei Plätzen in der dritten Sitzreihe.
Annihilator
Genesis - extra dafür nach Linz gefahren.
Phil Collins solo
Queen und Paul Rodgers - zweimal.
Brian May Solo
Keane
Judas Priest - drei- oder viermal schon auf der angeblich letzten Tour
Iron Maiden - einmal in Wien - und einmal dafür nach Graz gefahren
Savatage
Nevermore
Kiss - gefühlte dreimal auf der absolut letzten Tour
Overkill
U2
Slayer - extra dafür nach Berlin geflogen. Abschiedstour. Drei Wochen später Ankündigung sie spielen auch am Nova Rock in Österreich 2019
Rolling Stones
Transibirian Orchester
Jon Olivas Pain
Stratovarius
Amy McDonald - beim ersten Mal rockig unterwegs wie auf den Alben - beim zweiten mal eher Acoustic
The Corrs - vorm Schloss Schönbrunn
Dido - auch vor Schönbrunn
Therapy? - im kleinen Rock Haus in Wien, wer es noch kannte - das einer Tiefgarage für einen Wohnblock weichen musste
Die Ärzte
Farin Urlaub Racing Team
Metallica
Die Leningrad Cowboys - auf der Donauinsel vor gefühlten hundert Jahren
Aerosmith - in München
Avril Lavigne
Die Fantastischen Vier
R.E.M. - einmal Stadthalle Wien, einmal vor Schönbrunn
Wir sind Helden
Rammstein
Apocalyptica
Guns ´n´Roses - Reunions Tour
Pink!

Um der Unvollständigkeithalber nur einige zu nennen.

Jedesmal die gespannte Erwartung vor dem Konzert - welche Stücke werden gespielt, die man kennt?
Welche neuen Stücke?
Welche Klassiker - Greatest Hits sozusagen.

Jedesmal das Anstehen vor dem Konzert.
Das Drängen und Drücken zwischen all den fremden Leibern, zuerst zur KurzKörperKontrolle, dann weiter Ticket checken, und rein aufs Parkett.

Der Geruch der Schnitzelsemmel draußen an der Erfrischungstheke, das Anstellen um ein Bier oder ein Mineral - wenn man Glück hat und der Autofahrer sein darf für den Abend - Weißwein schmeckt selbst in Spritzmischungen oft zum Tote aufwecken - daher eher Radler oder wenn dann wirklich gleich nur Anti - also Mineral oder Zuckerlwasser.

Das Stehen und Staunen zwischen all den fremden Menschen, alle mit dem gleichen Ziel, einen geilen Konzertabend zu erleben.
Das Vorbeidrängen der immer gleichen Figuren, die kurz danach mit 6 oder 8 Halbe Liter Bierbecher zurückkamen und sich wieder in die andere Richtung zu drängen um ihre Gruppe wieder zu finden.

Das Kleben der Schuhe auf dem Boden, überseht mit allerhand Getränkeresten und auch Körperflüssigkeiten, wobei man gar nicht so genau wissen wollte, durch welche Öffnungen oder welche Poren sie nur aus einem der unzähligen anderen verschwitzten Menschen wieder ausgedrungen sind.

Der unverkennbare Geruch oder Gestank - je nachdem wie man es sieht - von Zigaretten, Zigarillos und hin und wieder auch der eine oder Joe, der an einem gemütlich rauchend vorbeiwandert in der Hand eines tiefentspannten Konzertgehers.

Das Warten auf den Headliner des Abends.
Die Vorbands über sich ergehen lassen, die einen oft Nüsse interessieren.
Und meistens auch noch ganz schlecht klingen.
Bemerkenswerte Ausnahme - Apocalyptica vor Rammstein - die waren sensationell.
Das übliche Glück, dass sich kurz vor Beginn des Headliners ein Typ mit zwei Meter dreißig vor einem aufbaut und man sich wo anders hinstellen muss, um doch noch was zu sehen.

Mit ein bisschen Glück kein Bier in den Nacken, in den Rücken oder in die Knöchel geschüttet bekommen.

Und dann - zwei oder zweieinhalb Stunden eine solide Show, gute Unterhaltung und ein schöner Abend.

In meiner Schreibtischschublade liegen nicht nur alte abgerissene Konzerttickets.
In meiner Schreibtischschublade liegen auch gültige Karten für Iron Maiden.
Eigentlich für 2020 - aber wegen Corona verschoben auf 2021.
2021 - wieder verschoben. Ersatztermin - noch ungewiss.
Es bleibt spannend, wann ich wieder zwischen mehreren tausend Menschen stehen darf um dieses gemeinschaftliche Erlebnis eines Konzertes genießen zu dürfen, mit all dem potentiellen Bier im Nacken, den vorbeiwandernden Vanillebomben, den Riesen, hinter denen die Sonne untergeht, dem grausigen Spritzwein, der Tote wieder auferstehen lässt und der bodenbedeckenden Melange aus Flüssigkeiten die an den Schuhen klebt.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (29.04.21)
Bin kein Konzertgänger, aber ich kann mit einer gedanklichen Transferleistung die Sehnsucht des Protagonisten nachvollziehen. Schön sind die Details, z.B. "Das Warten auf den Headliner des Abends. Die Vorbands über sich ergehen lassen, die einen oft Nüsse interessieren", erinnert an eine gute alte Kolumne hier.
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