Die feigen Verbrechen

Prosagedicht zum Thema Anpassung

von  Terminator

Jeder hat vom Hinhalten der anderen Wange etwas gehört, aber die wenigsten etwas verstanden. Beim Verneinen des Auge-um-Auge-Prinzips geht es um einen Racheverzicht, wenn man es sehr größzügig auslegen will, aber eigentlich nur darum, den Geist nicht dem Buchstaben unterzuordnen, sprich in jedem und jedem weiteren und nochmal anderen Fall nach seinem Gewissen zu entscheiden; es geht christlicherweise darum, Gerechtigkeit bewusst zu leben, denn maschinell gelebte Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Nächstenliebe ist des Menschen wie Gott ihn schuf unwürdig.

Wie verbrecherisch fahrlässig geht eigentlich der hinterhältige Hinhälter seiner Wange - und Zuhälter der Wange des zu beschützenden Schwächeren - mit dem Leben um, dass in der langen jüdisch-christlichen Tradition stets als heilig verstanden wurde? Was ist nachts an einem U-Bahnhof zu tun? Der Angreifer mag betrunken sein, eine schlechte Kindheit gehabt haben, einen der unglücklicheren Migrationshintergründe haben, oder einfach psychisch krank sein, - aber wieso muss ich mein Ich ihm opfern und mich an seine Stelle versetzen, an sein Leben, an seine Familie, an seine Zukunft denken? Was ist mit meinem Leben, mit meiner Familie, mit meiner Zukunft?

Ich habe großen Respekt vor Selbstmördern, die tot sind, und empfinde tiefe Verachtung für Selbstmörder, die noch leben. Die gescheiterten Selbstmordversucher sind nicht gemeint - gemeint sind die weltfremden Eskapisten, die geistlos über ihrem Leben, besser, ihrer Dahinvegetation schweben, die sich emotional von ihren Mitmenschen tragen, ihr Leben von sogenannten Umständen bestimmen und sich bereitwillig misshandeln lassen. Diese Charakterparasiten wähnen sich moralisch überlegen und charakterlich unverwundbar, dabei ist es nur das Nichts, das sie sind, das nicht verletzt werden kann. Sie leben nicht, sie werden gelebt; sie sterben nicht, sie sind schon immer tot gewesen.

Welchen Sinn hat es, ein gutes Leben zu führen, wenn man bereit ist, es einem Mörder vor die Füße zu werfen? Diese Opferhaltung ist ganz und gar nicht christlich, sie ist gottlos und nihilistisch. Wer sich nicht verteidigen kann, weil der Angreifer zu stark oder der Angreifer zu viele sind, ergreife die Flucht, werde listig, tu, was man tun kann, aber verfalle nur nicht in die Opferhaltung, denn diese zeigt dem Angreifer, dass man geschlagen werden will, und eben nicht die moralische Überlegenheit dieser falsch verstandenen Friedfertigkeit.

Wer als Erwachsener aus Feigheit keinen Mut zur Zivilcourage zeigt, ist ein erbärmliches Wesen, wer aber die Hilfeleistung aus der Kenntnis der Gesetzeslage oder aus rationaler Sorge um das eigene Leben unterlässt, handelt klug und pragmatisch, wenn auch kalt und gar brutal. Resultiert die Nichteinmischung in eine gefährliche Situation aus eigener gewissenhafter Abwägung, so ist sie zu respektieren, - und wer die Neutralität des Mitmenschen nicht respektieren will, breche zuerst die eigene.

Darf man einen Mörder töten? Man muss, wenn man den Mord ernst nimmt, und nicht als seelisch Toter über dem eigenen Leben, das selbstverschuldeterweise keines ist, Ehrenrunden schwebt. Darf man sich wehren? Natürlich. Streng genommen, hat man sogar die Pflicht dazu, sobald man auch nur den leisesten Zeigefinger in Richtung eines Selbstmörders hebt. Haltet die andere Wange hin - gebt zu, dass ihr Sünder seid, fehlerhaft, unaufrichtig, - werdet nicht hochmütig und wehrt Kritik nicht ab, bewahrt euch selbst vor moralischem Eigendünkel. Das ist es, was mit der anderen Wange gemeint ist. Verzicht auf Notwehr und Verweigerung der Nothilfe mit dem Feigenblatt der moralischen Skrupel zu rechtfertigen, ist nicht bloß beschämende Feigheit, sondern auch höchst perverse und in Anbetracht ihrer Konsequenzen sogar gemeingefährliche Feigheit.

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