Nothaltebucht inmitten von Geschehen

Essay zum Thema Lebenseinstellung

von  LotharAtzert

Eine kleine Episode bloß, fast sechzig Jahre zurückliegend, doch fiel sie mir gestern wieder ein, als die Sprache auf Haltbarkeit kam (Stelzies Aphorismus „haltbar“):
Ich saß damals in der Straßenbahn, alle Plätze waren so weit besetzt, als ein Kind mit Schulranzen auf dem Rücken und Mutter an der Haltestelle zustieg und in Türnähe stehenblieb. Das Mädchen umfasste mit einer Hand seine Schultüte, in der anderen hielt es einen Beutel, fragend die Mutter etwas besorgt, ob diese es festhalte, was jene zugleich bestätigte. Und in der Tat hielt die Mutter es mit beiden Händen am Ranzen fest.
Aufgrund meiner Wesensnatur fragte ich mich sofort, ob es nicht sinnvoller wäre, würde sie bloß mit einer Hand das Kind und mit der anderen sich selbst an einer der dafür vorgesehenen Stangen festhalten.
Die Tür schloß sich, die Straßenbahn fuhr los und mußte aufgrund der Verkehrssituation kurz darauf heftig abbremsen. Die beiden flogen eins zwei Meter durch den Gang und konnten nur mit knapper Not einen Sturz vermeiden.
So ist das halt, wenn man andere festhält, ohne selbst einen gesicherten Stand zu haben.
Nun ist viel Zeit vergangen und ich frage mich plötzlich wieder, nämlich ob die beiden daraus das ihre gelernt haben, denn zum Lernen ist das Leben da. Das Kind, daß die Versicherung eines Haltes durch andere nicht immer der Wahrheit entspricht und die Mutter, daß sie leichtfertig mit einer Schutzbefohlenen umgegangen ist, wie das im Beamtendeutsch so schön heißt. Und ich, daß die Bilder des Geschehens immer eine Botschaft bergen, wenn man gewillt ist, offen zu schauen.

Was wäre gewesen, hätte ich die Mutter vor dem Ereignis darauf hingewiesen, sich selbst festzuhalten? Zum einen wäre ich der altkluge Karikaturbeamte gewesen, zum andern, und hierauf liegt die ganze Gravitation des Saturnischen, wäre die Lernsituation verhindert worden und das Mädchen aus purem Vertrauen vielleicht später einem Vergewaltiger in die Hände gefallen, wobei das nur wieder ein Beispiel ist. Im Idealfall hat jeder sein eigenes Bei-Spiel. In meinem … vielleicht wurde ja, um das Fallen in der Schwerkraft zu lernen, aus dem jungen Mädchen eine Ballerina.
Nichteingreifen empfiehlt der Daoismus und, wo das Herz es erträgt, empfehlen es alle Erfahrenen. Denn ohne Gefahr, Erfahrung und also auch Erfahrende bleibt alles ungeborene leere Information.


Anmerkung von LotharAtzert:

Wer hat die Haltbarmachung erfunden? -
Louis Pasteur
Geboren: 27. Dezember 1822, Dole, Frankreich
Verstorben: 28. September 1895, Marnes-la-Coquette, Frankreich

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (18.04.21)
An sich selbst testete Pasteur die Haltbarmachung schon mal erfolgreich aus: Mit 73 erreichte er seinerzeit ein geradezu biblisches Alter!
Vermutlich hielt er sich aber auch in gängigen Fahrzeugen immer gut fest ...

Lächelnde Grüße
der8.

 LotharAtzert meinte dazu am 18.04.21:
Na denn - ich bin am 14. Januar 73 geworden. Aber das kV mit meinen Schriften haltbarer zu machen wrd verdammt viel schwerer.
Vieleicht Superpasstor

schwermütige Dankesgrüße retour

 FrankReich (18.04.21)
Was wäre gewesen, wenn Mutter und Tochter sich den Hals gebrochen hätten? 🤔
Aber einmal abgesehen vom letzten großen Absatz empfinde ich den Text als lehrreich, da ich bei solchen Situationen in Zukunft eingreifen werde, vorausgesetzt, ich begreife sie in ihrer möglichen Tragweite. 😂

Ciao, Frank

 LotharAtzert antwortete darauf am 18.04.21:
Wie - du willst eingreifen, um was genau zu erreichen?

 FrankReich schrieb daraufhin am 18.04.21:
Lothar!!! 😂

 DanceWith1Life äußerte darauf am 18.04.21:
Wie erreicht man "Lothar!!!"?

 LotharAtzert ergänzte dazu am 19.04.21:
Mit dem Linienbus 64 von der Konstabler Wache bis Bad Vilbel-Heilsberg.
Heil Kräuter

 FrankReich meinte dazu am 19.04.21:
👋😂👍

 Soshura (18.04.21)
Vielleicht gibt es eine Botschaft der Nichtbilder? Jene, die außerhalb Deiner Ahnungen liegen. So kannst Du "eingreifen" ohne einzugreifen.

Gern gelesen, Danke Lothar.

 LotharAtzert meinte dazu am 19.04.21:
Tun durch Nichttun, ja, so nannten es die Übersetzer des Daoismus ins Deutsche.

Danke dir, Peter
tashi delek

 Soshura meinte dazu am 19.04.21:
Nichts zu Danken, einfach nen Sitzplatz anbieten. Altersgerecht, versteht sich. ;)
Stelzie (55)
(19.04.21)
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 LotharAtzert meinte dazu am 19.04.21:
Ja, freilich. Allgemein haben wir nur das Problem andersrum: fast jeder meint, er müsse in alles eingreifen und das ist oft zum Schaden aller. Das Hören auf die innere Stimme ist ja nicht mehr so up to date.

Auch dir eine gute Woche
Dankesgruß
Lothar

 Regina (19.04.21)
Und die Moral von der Geschicht,
für wer da fallen möchte nicht,
sollte Kind und dessen Sachen
halten und sich selbst bewachen.

LG Gina

 LotharAtzert meinte dazu am 19.04.21:
So ist es Lebenden bestimmt,
Geschick zu lernen überall.
Wer Vorgestelltes übernimmt,
lernt aufzustehen nach dem Fall.

Danke
LG Lothar

 harzgebirgler (20.04.21)
es kennt der mensch schon längst kein halten mehr
bis einst vielleicht zur götter wiederkehr.

 LotharAtzert meinte dazu am 22.04.21:
Gemach, gemach, sie kommen ach schon bald,
zurück in unsern schönen deutschen Wald.

ahnt dankend deinem Worten Ätznatron.
Mit Gruß zurück in den Harz
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