Vor dem Abgrund

Kurzgeschichte zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

Er hatte am Rand des Flachdachs gestanden und war fest entschlossen zu springen. Er wollte der Sinnlosigkeit entfliehen, seiner Sinnlosigkeit. Er glaubte, dass es ihm an Empathie fehle, um von jemandem selbstlos geliebt zu werden. Er wusste, dass er weder Entschlusskraft noch Durchhaltevermögen hatte, um in der Lebenspraxis erfolgreich zu sein. Er war eine Null, ein Versager.
Als er an der Trennlinie zwischen Leben und Tod stand, bestätigte sich, dass ihm wieder die Entschlusskraft fehlte, um die Angst zu besiegen und den entscheidenden Schritt zum Sprung zu tun.

Sein Zögern reichte, dass sich ihm ein erfahrener Psychologe nähern konnte, dem es gelang, für einen Moment die Gewissheit seiner Unzulänglichkeit für das Leben zu erschüttern und ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Für eine kurze Zeitspanne glaubte er der geschliffenen Rhetorik des Fachmanns, dass seine Kinder und seine Frau ihn liebten trotz seines permanenten Versagens und dass er es nicht verantworten könne, diese große Liebe zu enttäuschen.

Er zog den einen Fuß, der schon in der Luft hing, zurück. Dieser Augenblick reichte für eine kraftvollen Sprung des Lebensretters, der ihn von hinten umarmte und vor dem Abgrund zurück riss. Willenlos ließ er sich in dessen Arme fallen und von den beschwörenden Worten, dass seine Lieben auf ihn warteten, betören.
Für kurze Zeit war es auch so, wie es ihm der Psychologe versprochen hatte. Man ging sehr einfühlsam mit ihm um und vermittelte ihm das Gefühl, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein.
Doch der nächste Depressionsschub ließ nicht lange auf sich warten. Er fühlte sich wie erstarrt und zu keiner sinnvollen Handlung mehr fähig. Man hatte dies geahnt und vorsorglich seelischen Beistand für ihn organisiert. Doch die tröstenden und aufbauenden Worte kamen aus sehr weiter Ferne und erreichten ihn nur als sinnlose Schallwellen.
Diesmal stand sein Entschluss fest. Er würde noch einmal versuchen zu springen und den Einflüsterungen des besten Psychologen nicht mehr erliegen. Mit unwiderstehlicher Gewalt lockte das befreiende Nichts.

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Kommentare zu diesem Text

Agnete (66)
(11.05.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.05.21:
Hallo Agnete, ich habe das ebenso wie du mit großer Sorge festgestellt. Ich habe freilich einen Hoffnungsschimmer. Ein Freund von mir litt unter einer schweren Depression und konnte mit guter psychologischer Behandlung geheilt werden.
LG
Ekki
Sin (56)
(11.05.21)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 11.05.21:
Merci, Sin. Dieses Versprechen hast du dir verdient.
Herzliche Grüße
Ekki
Sin (56) schrieb daraufhin am 11.05.21:
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 AZU20 (11.05.21)
Depressionen zu überwinden gehört mit zu den schwierigsten Akten im Menschsein. LG

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 11.05.21:
Mir scheint, dass alle Psychologen deine Aussage stützen, Armin. Danke.
LG
Ekki

Antwort geändert am 11.05.2021 um 13:13 Uhr

 Graeculus (11.05.21)
Gut hineinversetzt in eine Psyche, die vermutlich nicht Deine eigene ist. Auch gut, daß Du konsequent auf eine Bewertung verzichtest.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 11.05.21:
Merci, Graeculus. Ja, ich bin dankbar für eine heitere Seele. Du hast recht ,es steht keinem Menschen zu, psychische Erkrankungen zu bewerten.

 harzgebirgler (11.05.21)
wer freitod wählt hat scheinbar gute gründe
doch besser fänd' ich's wenn er widerstünde.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.05.21:
Hallo Henning,

spätestens seit Goethes Werther ist der Freitod ein beliebtes literarisches Motiv, aber in der Realität hinterlässt er große Trauer.

LG
Ekki
Marie (63)
(11.05.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.05.21:
Grazie, Marie, du hast erkannt, woran mir gelegen war.

Liebe Grüße
Ekki

 RainerMScholz (11.05.21)
Er glaubte, dass es ihm an Empathie fehle, um von jemandem selbstlos geliebt zu werden.

Dieser Satz macht mir als gewiefter Disempathiker wirklich Probleme.
Grüße,
R.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.05.21:
Durch welche Korrektur könnte ich deinen Problemen abhelfen?

 RainerMScholz meinte dazu am 11.05.21:
Nicht nötig; ich wollte nur auf die Tragweite des Satzes aufmerksam machen.
Korr. zu Komm.: als gewieftem
(hat sich bald ausgewiefert)

Antwort geändert am 11.05.2021 um 23:34 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.21:
Dann danke ich dir, Rainer.

 TassoTuwas (12.05.21)
Hallo Ekki,
ich traue mir nicht zu ein Urteil über jemanden abzugeben, der seinem Leben ein Ende setzt. Selbst die Menschen in seiner unmittelbaren Nähe können nur vermuten. So wie jeder Mensch einmalig ist, ist es auch jeder Suizid und bleibt ein Geheimnis.
Wir wissen nur vor diesem Schritt muss ein dramatischer innerer Kampf stattgefunden haben.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.21:
Lieber Tasso, was den Suizid angeht, sind die meisten Menschen toleranter geworden. das ist gut so.
Herzliche Grüße
Ekki

 linkeln (20.05.21)
...da ist aber ein wahrer Text, obwohl ich das Ende nicht so gut finde, aber das ist subjektiv....

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.05.21:
Vielen Dank, linkeln. das Ende ist nicht schön, aber vielleicht realitätsnah.
LG
Ekki
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