Der Stau - Kap. 9

Geschichte zum Thema Ausweglosigkeit/ Dilemma

von  Manzanita

Neben mir liegt jemand. Neben mir liegt, ach, wer ist das? Das ist, das ist, Sara. Ja, das ist Sara, aber, was macht die da? Warum liegt Sara neben mir. Haben wir ein Zimmer zusammen? Nein, das ist gar kein Zimmer, hier gibt es ja richtig Durchzug, Wind! Was… Wo sind wir? Wo sind wir?! Warum schlafe ich auf einem Sitz? Ist das ungemütlich! Aber, sind wir noch nicht angekommen auf der Jugendherberge?

Nein. Anscheinend nicht. Immer noch in diesem scheiß Bus. Wie lange wir wohl noch brauchen werden? Hatte die Hausmeyer nicht was von paar „Stündchen“ gelabert? Ja, hatte sie. Das weiß ich noch ganz genau! Dumme Kuh! Hat ja keine Ahnung, paar Stündchen, wir fahren schon seit gestern um sieben Uhr morgens!

Ich will hier raus! Ich will endlich ankommen! Nein, Fluchen hilft nicht. Immerhin ist das besser als Unterricht zu haben. Jetzt ist alles so leise, alle schlafen. So leise… Man, wir stehen ja immer noch im Stau! Wir fahren gar nicht! Scheiße. Wie viel Uhr ist es überhaupt? Mal schauen, wo ist das Handy? Da, scheiße, ich habe drauf geschlafen! Naja, besser das Handy hat Potemperatur als nachts bei der Kälte irgendwo rumzustehen. Morgen bin ich bestimmt erkältet. Scheiß Bus. Egal, ich wollte die Uhrzeit gucken. Halb sieben. Man, um die Uhrzeit müssten wir doch schon längst da sein? Scheiße. Ist ja zwar schön hier drin, aber will ich für immer hier drin bleiben? Nicht mal bis ich sechzehn bin will ich das.

Aber wenn die noch alle schlafen… Vielleicht kann ich dann kurz raus und mich ein bisschen strecken? Vielleicht. Alle haben die Augen zu. Alle? Ja. Manche schnarchen auch. Dann könnte ich es doch zumindest mal versuchen. Ah, was, ach so, Daniel versucht mir von vorne die Hand zu geben. Ja, alles gut, ich lebe noch, Daniel. Was? Jetzt guckt er mich an, in die Augen. Wie peinlich! Jetzt, jetzt, jetzt küsst er mich durch die Luft. Hier, im Bus doch nicht, du Trottel. Raus, wir müssen raus! Ja, raus, weißt du, Daniel, da draußen, da, ja. Durch die Tür, weißt du, ja, die steht offen, noch nicht aufgefallen? Nein, es ist ihm eindeutig noch nicht aufgefallen. Trottel.

Er geht vor. Leise, bitte sei leise. Bitte, weck niemanden! Gut, noch schnarchen alle. Ich stehe auf. Fast falle ich wieder um, mein Gleichgewicht habe ich heute wohl noch nicht all zu sehr trainiert. Egal, jetzt nach draußen gehen. Fast bin ich an der Tür angekommen, aber, wo sind unsere lieben Lehrer? Die saßen doch den ganzen Tag über vorne… Sehr interessant, was die wohl machen.

Kalt. Sehr kalt. Die Hausmeyer würde sagen: „Eine angenehme Morgenbrise kommt dir entgegen“, ob sie ihr auch entgegenkommt? Gute Frage. Aber ich habe das Handy nicht mitgenommen, das machen in Filmen die Spezialagenten auch nicht, die werden ja sonst geortet. Hoffentlich hat Daniel nicht das Handy mit. Aber schau, da sitzt er. Er hat eine Decke mitgenommen. Er will sich wohl neben mich legen. Pervers. Aber, wenn ich mal drüber nachdenke, habe ich auch nichts dagegen. Bescheuert. Wir sind alle bescheuert. Zum Glück sieht uns niemand.

Er begrüßt mich. Ja, hallo, was für ein Zufall, du auch hier? Ja, er auch hier. Er ist ganz rot im Gesicht, wahrscheinlich ich auch. Peinlich. Er zieht sich sein Hemd aus. Ganz langsam, Knopf für Knopf. Als ob? Nein, das will ich dann doch nicht. Da liegen ist ja noch angemessen, aber wir wollen nicht übertreiben. Ich lege mich zu ihm. Er stoppt das „Hemdöffnungsverfahren“. Er wird noch röter. Dann… Will ich wirklich nicht? Dann… Dann legt er sich auf die Seite. Auf meine Seite, um genauer zu sein. Nein. Nein! Aber er hört mich nicht. Ich sage ja auch nichts. Ich werde bestimmt auch immer röter. Seine rechte Hand trennt sich von seinem restlichem Körper. Sie greift. Wonach greift sie? Nein. Nein! Ich will nicht! Ich muss etwas unternehmen. Entweder „ja“ oder „nein“ sagen. Ich will nicht. Seine Hand kommt näher. Er kommt näher.

„Nein!“, sage ich. Ganz leise. So leise war ich noch nie. Hat er mich überhaupt gehört?

Ja, hat er. Seine Hand ist ganz schnell wieder bei ihm. Ich stehe auf, küsse ihn auf die Stirn und gehe wieder zum Bus. Bestimmt guckt er jetzt wirklich bescheuert, und ich habe schon viele Jungs mit bescheuertem Gesichtsausdruck gesehen. Aber ich drehe mich nicht um. Ich will zurück.

Herr Stein kommt mir entgegen. Scheiße.

„Und, Fräulein, auch schon früh auf den Beinen?“, fragt er.

Ich will gerade irgendetwas vor mich hin murmeln, aber da ist er schon vorbei gejoggt. Ich steige ein. Der Bus steht immer noch an der gleichen Stelle. Mittlerweile sind alle wach, oder tun zumindest so, aber es ist immer noch ganz still. Ich setze mich hin. Scheiße, Sara ist auch schon wach.

„Wo warst du?“, flüstert sie.

„Geht dich eine Scheiße an.“

Hoffentlich kommen wir jemals an. Sonst muss ich Mama anrufen…

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (23.05.21)
Schöne, stimmungsvolle Teenager-Geschichte, gerne gelesen.

 Manzanita meinte dazu am 23.05.21:
Danke!

Manzanita
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