Große und kleine Katastrophen - oder wo nichts mehr heilig ist

Essay zum Thema Mitmenschen

von  eiskimo

Erderwärmung, Überbevölkerung, Hungersnöte, Flüchtlingsströme, Artensterben,  Wassermangel,  jetzt auch noch Pandemien  – die Droh-Szenarien, die den nahenden Kollaps ankündigen, sind Legion. Wir kennen sie, denn man hält sie uns immer wieder vor Augen, je nach dem, wie und wo es gerade am meisten brennt.
Es drohen meines Erachtens aber noch andere Gefahren, die zwischen  all den schon genannten  völlig untergehen. Unspektakuläre, alltägliche Fehlentwicklungen, die sich im Laufe der Zeit hochschaukeln  und unsere Existenz arg beeinträchtigen. Und die könnten langfristig unser Zusammenleben viel nachhaltiger vergiften.
Ich denke da – um ein  konkret es Beispiel zu nennen - an die immer offenere Respektlosigkeit. Waren es anfangs verbale Entgleisungen, so eskaliert die totale Enthemmtheit vieler Zeitgenossen inzwischen hoch zu massiver Behinderung  ( z.B. von Rettungskräften) oder gar gezielter Körperverletzung, wenn etwa Partygäste nach der Sperrstunde die anrückende Polizei mit Bierflaschen bewerfen.
Ich könnte andere Beispiele nennen aus Schulen, wo immer häufiger hemmungslose Kids  nicht nur das Mobiliar zerstören, sondern auch die Lehrer/innen tätlich angreifen; von Grünanlagen oder S-Bahnen, die regelmäßig zugemüllt werden , von Sachbeschädigung durch wilde Graffiti – gar nicht zu reden über das Internet, wo sich manche in noch primitiverer Form  an ihren Opfern  abreagieren. Konstante Selbstoptimierung, rabiate Selbstinszenierung, nur noch um das eigene Ich kreisende Selbst-Bespaßung.
Was mit dieser Verrohung  der (Diskussions-)Kultur  einher geht, das ist  – so meine Beobachtungen - eine wachsende Gleichgültigkeit. Immer mehr Menschen ziehen sich zurück, halten sich heraus aus der Gestaltung des  öffentlichen Lebens, um nur noch ihr privates Glück auszubauen.
Dieser Rückzug ins Private macht natürlich den Weg frei  für neue und – das fürchte ich – noch  dreistere Respektlosigkeit(en). Was früher im Dorf an sozialer Kontrolle stattfand,  gibt es in unseren anonymen Wohnvierteln nicht mehr. Das Interesse an einem respektvollen Miteinander offenbar auch nicht.  Da geht menschlich viel kaputt oder es entwickelt sich erst gar nicht.
Sollten die großen globalen  Katastrophen tatsächlich eintreten und unsere Existenz bedrohen,  könnte es also sein, dass  wir hier selber schon aktiv vor gearbeitet haben – ein  gepflegtes  interkulturelles Miteinander wäre vorher schon von uns emsigen Ego-Shootern weggeräumt.


Anmerkung von eiskimo:

Eine andere bedenkliche Entwicklung, die uns m.E. zunehmend belasten wird, ist die Bequemlichkeit. Ich meine diesen maßlosen Anspruch - natürlich vom Dienstleistungssektor gefördert - alles immer und überall gereicht zu bekommen, natürlich spontan und "to go" - bloß kein Bedürfnis mal aufschieben müssen. E-Scooter und Pappbecher pflastern mittlerweile die Innenstadt-Straßen....
Dies nur als Vorankündigung für einen weiteren Jammer-Text

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (15.06.21)
Etwa seit dem 2. Jahrtausend v.u.Z. begegnet uns diese Klage über die Folgen des Lebens unter den Bedingungen der Anonymität - also etwa seit es Staaten und Städte gibt, im Unterschied zu dem überschaubaren, durch soziale Kontrolle geprägten Leben in Stammesgesellschaften.

Vgl. das berühmte "Gespräch eines Mannes mit seinem Ba" aus Ägypten (ca. 1800 v.u.Z.):
Mit wem soll ich heute sprechen?
Die Angehörigen sind schlecht, die Freunde von heute
kann man nicht lieben.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Habgierig sind die Herzen, ein jeder beraubt seinen Nächsten.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Der Milde ist zugrundegegangen,
Gewalttätigkeit ergreift Besitz von jedermann.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Das Antlitz des Schlechten glänzt zufrieden,
das Gute ist zu Boden geworfen überall.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Wer einen Mann wegen seiner schlechten Tat zur Rede stellt,
bringt alle Bösewichter zum Lachen.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Man plündert. Jeder bestiehlt seinen Nächsten.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Der Verbrecher ist ein Vertrauensmann,
der Bruder, mit dem man lebte, ist zum Feind geworden.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Man erinnert sich nicht an Gestern
und vergilt (auch) nicht dem, der jetzt (Gutes) tut.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Die Angehörigen sind böse,
man wendet sich zu Fremden, um Redlichkeit zu finden.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Die Herzen sind zugrunde gerichtet,
jedermann wendet den Blick zu Boden vor seinen Angehörigen.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Die Herzen sind habgierig,
man kann sich auf keines Menschen Herz (mehr) verlassen.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Es gibt keine Gerechten,
die Welt bleibt denen überlassen, die Unrecht tun.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Es mangelt an Vertrauten,
man nimmt Zuflucht zum Unbekannten, um ihm zu klagen.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Es gibt keinen Glücklichen,
und jener, mit dem man (früher) ging, ist nicht mehr.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Ich bin mit Elend beladen, weil mir ein Vertrauter fehlt.

Mit wem soll ich heute sprechen?
Das Übel, welches die Welt schlägt - kein Ende hat es!
Die im Internet übliche, auf die gesamte Welt ausgedehnte Anonymität hat dieses Problem zwar nicht geschaffen, aber verstärkt.
Ist die Rückkehr zu Stammesgesellschaften von ca. 100 Mitgliedern eine Alternative? Oder haben wir es mit der Schattenseite eines unumgänglichen Phänomens zu tun?

Wer einmal in einem Dorf gelebt hat, wird die dort stattfindende soziale Kontrolle nicht idealisieren. Auch sie hat ihre Schattenseiten.

 eiskimo meinte dazu am 15.06.21:
Danke für diesen tollen Text. Das Problem bzw. die Wahrnehmung eines solchen ist sehr alt.
Ich kann auch für 8 Mrd. Menschen keine Rückkehr in Stammesgesellschaften empfehlen.
Trotzdem meine ich: Es läuft aktuell bei uns in dem, was das Miteinander sozialverträglich halten soll, einiges schief. Nenne es Verwahrlosung, soziale Kälte, Atomisierung der Gesellschaft, Werteverlust....
Vielleicht hast du Recht, dass es unumgänglich ist bei der Vermassung.
Kommentarlos hinnehmen mag ich es dennoch nicht.

 Graeculus antwortete darauf am 15.06.21:
Wenn Dir das ägyptische Gedicht gefällt - es geht noch weiter:
Der Tod steht heute vor mir
wie das Genesen eines Kranken,
wie wenn man ins Freie tritt nach einem Leiden.

Der Tod steht heute vor mir
wie der Duft von Weihrauch,
wie Sitzen unter dem Segel am Tag des Windes.

Der Tod steht heute vor mir
wie Duft der Lotosblüten,
wie Wohnen am Ufer der Trunkenheit.

Der Tod steht heute vor mir
wie das Aufhören des Regens,
wie die Heimkehr eines Mannes vom Feldzug nach Hause.

Der Tod steht heute vor mir
wie die Klarheit des Himmels,
wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.

Der Tod steht heute vor mir
wie der Wunsch eines Menschen, sein Heim wiederzusehen,
nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbrachte.

***

Wahrlich, wer dort ist, ist ein lebendiger Gott,
der die Sünde bestraft an dem, der sie tut.

Wahrlich, wer dort ist, der steht im Sonnenschiff,
Erlesenes verteilt er daraus für die Tempel.

Wahrlich, wer dort ist, der ist ein Weiser,
der nicht gehindert werden kann,
zum Sonnengott zu gelangen, wenn er spricht.
Ich kann das nicht ohne tiefe Rührung lesen.

Du siehst: Die Hoffnung liegt in einem besseren Leben nach dem Tod. Schön wär's ja.
Die Alternative: die irdische Welt zu einem 'besseren Ort' zu machen. Daran mühen sich die Menschen seit 2500 Jahren, seit den ersten Utopien, ab.

 eiskimo schrieb daraufhin am 15.06.21:
Wirklich packend! Und wir wähnen uns an der Spitze des Fortschritts. ..
Danke!
Wie hat Camus noch gesagt: nutzen wir den Spielraum des Möglichen

 DanceWith1Life äußerte darauf am 15.06.21:
Ein Junge kan eines Tages zum Stammesältesten,
Ich habe eine Frage.
Sprich
Wie kann es sein, dass Menschen, gut sind und gutes tun, die meiste Zeit oder auch nur manchmal. Und dieselben Menschen, böse sind und böses tun.
In jedem von uns kämpfen zwei Wölfe, ein guter Wolf, der gutes will und ein böser Wolf, der böses will.
Der Junge schwieg einen Augenblick.
Ich habe noch eine Frage.
Sprich.
Welcher Wolf gewinnt.
Der, welcher am meisten gefüttert wird.
Die wohl verbreitetste Strategie ist nun dergestalt, dass die Menschen versuchen, den bösen Wolf zu besiegen.
Nur, das füttert den guten garnicht.
Füttere den guten und lass ihn den Kampf gewinnen.
So die Worte des Stammesältesten, eine Geschichte, die in vielen indegenen Kulturen erzählt wird.
Sie zu verstehen, bedeutet weder zur Dorfkultur zurückzukehren, noch den technischen Fortschritt zu verteufeln oder überzubewerten.

Antwort geändert am 15.06.2021 um 14:34 Uhr

 EkkehartMittelberg (15.06.21)
Ich weiß nicht, wie man dem Untergangsszenario, das Eiskimo hier beschreibt, begegnen kann. Das Schlimme ist, dass er keineswegs übertrieben hat. oder gibt es hoffnungsvolle Perspektiven im Diesseits, die er übersah?

 eiskimo ergänzte dazu am 16.06.21:
@EkkehartMittelberg, @ AZU2O
Danke für Eure Einschätzungen! Da wären wir schon zu dritt...
LG
Eiskimo

 AZU20 (15.06.21)
Du jammerst nicht, Du sagst nur sehr deutlich die Wahrheit. LG
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