Epochentypische Gedichte. Uwe Timm: Lob der Idylle

Interpretation zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

In einer kurzen Epoche, die von 1967 - 1973 dauerte, entstand die Lyrik der Außerparlamentarischen Opposition  bzw. der Neuen Linken, wie diese politische Bewegung auch genannt wurde. Ich verweise zum Verständnis der Außerparlamentarischen Opposition als politischer Bewegung auf den Wikipedia- Artikel "Außerparlamentarische Opposition"
https://de.wikipedia.org/wiki/Ausserparlamentarische_Opposition
Die Lyrik dieser fast ausschließlich von politischen Zielen bestimmten Bewegung verstand sich als Agitation und Propaganda und hatte mit den sublimen poetischen Stilmitteln bürgerlicher politischer Lyrik wenig im Sinn. So erscheinen die meisten Gedichte dieser Protestphase aus heutiger Sicht als plumpe Tendenzliteratur. Wer sich über diese propagandistische Literatur näher informieren möchte, findet einige Beispiele  unter der Überschrift "Bei uns hat jeder die Freiheit. Aus der Zeit der APO" in meinem Buch "Kommt uns nicht mit Fertigem. Politische Lyrik aus zwei Jahrhunderten", Berlin: Cornelsen, 2001, S. 27 ff.
Es gibt aber dennoch einige Gedichte aus dieser Epoche, die das Niveau feinster politischer Lyrik erreichen und den schnellen Verschleiß von Gebrauchslyrik überdauert haben. Zu ihnen gehört

Uwe Timm: Lob der Idylle

        Schön ist es
am Abend an einem See der holsteinischen Schweiz
- vielleicht unter herbstfarbenen Buchen -
den Sonnenuntergang zu genießen
wissend
dass der Milchpfennig auch nach der Bundestagswahl gezahlt wird
            während auf den Feldern die Knechte
            die Ernte einfahren

        schöner
am Morgen auf der Terrasse einer Villa
- zum Beispiel auf dem Falkensteiner Ufer -
in aller Ruhe die Vierjahreszeiten von Vivaldi
mit einem Bourbon-Whisky hinunterzuspülen
wissend
dass die Tariflöhne nicht gekündigt werden
            während in den Maschinenhallen die Arbeiter
            mit geübten gleichmäßigen Griffen die Gewinde fräsen

        schöner noch
an einem Novembernachmittag vor der Küste Teneriffas
beim Surfing den Blick auf die schneebedeckte Kuppe
des Pico de Teide zu richten
wissend
dass die Aktien steigen
            während die Kumpels vor Ort mit kraftvollen Stößen
            den Kohlenhobel an das Flöz schieben

        am schönsten
in der Nacht auf einer Safari in Südafrika
das gleichmäßige Äsen
eines weißen Nashorns zu beobachten
wissend
dass der Boy den afrikanischen Hummer im Wasser siedet
            während die südafrikanischen Streitkräfte mit dem CIA
            für Ruhe und Ordnung im Lande sorgen

      Beunruhigend aber der Gedanke
dass es Leute gibt
die keinen Sinn für Schönheit haben

                                                                      1971 erschienen
(aus: Widersprüche: Hamburg. Neue Presse 1971)
zit. nach: Ekkehart Mittelberg: Zugänge zur Lyrik. Berlin: Cornelsen, 5. Auflage 1986, S. 98

Interpretation

Schon bei der ersten Lektüre des Gedichts fällt die raffinierte Zeilengestaltung auf. Sie lässt, mit Leerzeilen besonders hervorgehoben, das erste schöne Bild von dem See an der holsteinischen Schweiz wirken. Der Genuss heimatlicher Natur ist zwar schön, er wird aber noch besser durch Wissen (das eine Zeile für sich erhält), dass die Ökonomie auch im Kleinen stimmt (Milchpfennig) und er wird noch besser durch die Antithese der Feldarbeit lohnabhängiger Knechte.                                                                                                                                Die zweite Strophe nutzt den Parallelismus der Wortstellung (schön - schöner) und zeigt, ohne es direkt zu sagen, dass das LyrIch von der Wahrnehmung "Großkopferter" spricht, denn die Grundstückspreise der Villen am Falkensteiner Ufer in Hamburg liegen immens hoch. Es wird  klar, dass von dem Genuss gesellschaftlich Privilegierter die Rede ist,  denn die Vierjahreszeiten von Vivaldi und Bourbon-Whisky sagen Knechten und Arbeitern nichts.
Nun wird der raffinierte Parallelismus im Aufbau des Gedichts offensichtlich, denn es folgen drei Parallelen zur ersten Strophe: 1. das Partizip  "wissend", 2. die ökonomische Beruhigung in dem dass-Satz, die ihrerseits gesteigert wird, denn jetzt geht es nicht nur um den Milchpfennig, sondern um die Konstanz von Tariflöhnen und 3.  der Adversativsatz mit "während" (Gegensatz von Schönheitsidylle und Maloche in den Maschinenhallen), der zugleich ein beruhigender Temporalsatz ist (während das LyrIch seinen Whisky schlürft, fräsen die Arbeiter gleichmäßig die Gewinde.)
Die dritte Strophe offenbart, dass der Komparativ "schöner" dehnbar ist, denn das November-Panorama vor der Küste Teneriffas ist  noch exquisiter. Die Parallelismen sowie die Antithese (während) aus den ersten beiden Strophen werden konsequent fortgesetzt. Der ökonomische Effekt wird freilich gesteigert, weil es jetzt nicht nur um konstante Tariflöhne, sondern um Aktiengewinne geht  Nicht ausgesprochene Pointen sind ständig präsent. Der Blick auf den Pico de Teide ist frei, die Kumpels im Dunkel unter Tage starren auf das Kohlenflöz.
Die vierte Strophe führt zum erwarteten Superlativ "am schönsten". Man blickt nach oben und entdeckt, dass das "Lob der Idylle" mit der Strenge einer Fuge gestaltet ist. Nirgends weicht der Autor ab:  nicht von der Zeilengestaltung mit den bewusst eingesetzten Leerzeilen, nicht von den illustrierenden Eingangsbildern, die immer extravaganter werden (diesmal das gleichmäßig äsende weiße Nashorn) und nicht von den oben erwähnten drei Parallelismen, die den mitschwingenden Zynismus von Strophe zu Strophe steigern (Ruhe und Ordnung mit Hilfe der südafrikanischen Streitkräfte und des CIA).
"Lieb Vaterland magst ruhig sein", denkt der in die Schönheitsklimax eingewickelte Leser.

Doch dann kommt in der  5. Strophe lakonisch die kühle  Pointe gegen die Genussmenschen, die als Ästheten in der scheinbar sicheren Idylle  hausen: Sie werden von dem beunruhigenden Gedanken heimgesucht, "dass es Leute gibt, die keinen Sinn für Schönheit haben".
1971 schien zumindest der akademischen Jugend die Revolution, der die Abschaffung  von Privilegien wichtiger als Schönheit sein sollte, in greifbarer Nähe.  Man hatte sich getäuscht: Die kapitalistische Idylle ist sehr stabil.

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Kommentare zu diesem Text

klausKuckuck (71)
(09.07.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.07.21:
Merci, Klaus, ich vermute, dass Timms "Lob der Idylle" trotz "Milchpfennig" und "Kohlenhobel" als Klassiker moderner politischer Lyrik weiterhin Leser finden wird.
LG
Ekki

 Willibald (09.07.21)
Eine feine Analyse, die - ohne Überanstrengung des Leserss - die Mikrostruktur bei Timm aufhellt. Wow.

Nebenbei:
Ohne Brechtsche Hammerdialektik und vielleicht auf eine raffinierte Art ambivalent: Den Hedonismus preisend, ohne ihn allzu politisch zu demontieren/disqualifizieren: Robert Gernhardt.

Schön, schöner, am schönsten

Schön ist es, Champagner bis zum Anschlag zu trinken
und dabei den süßen Mädels zuzuwinken: Das ist schön.

Schöner ist es, andere Menschen davor zu bewahren, allzusehr auf weltliche Werte abzufahren: Das ist schöner.

Noch schöner ist es, speziell der Jugend aller Rassen eine Ahnung von geistigen Gütern zukommen zu lassen: Das ist noch schöner.

Am schönsten ist es, mit so geretteten süßen Geschöpfen einige gute Flaschen Schampus zu köpfen: Das ist am allerschönsten.

Und weiter für Lyrikaficionados:

GOTTFRIED BENN

Was schlimm ist

Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

Kommentar geändert am 09.07.2021 um 10:02 Uhr

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 09.07.21:
Hallo Willibald,
ich bin immer wieder aufs Neue verblüfft, welch geistreiche Bezüge du in deinen Kommentaren dank deiner profunden Belesenheit herstellst. Grazie
Ekki

 Dieter_Rotmund (09.07.21)
Uwe Timm hat mal APO-Gedichte geschrieben? Der Autor von "Heißer Sommer", "Kerbels Flucht", "Johannisnacht" (sehr lustig!) und " Die Entdeckung der Currywurst" ??? Lese gerade "Am Beispiel meines Bruders".

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 09.07.21:
Hast du den Anfang meiner Interpretation aufmerksam gelesen? Uwe Timm gehört zu den wichtigsten Autoren der 68er Generation. Er hebt sich wohltuend von der Tendenzliteratur der APO ab, obwohl er mit der Bewegung sympathisierte.

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 09.07.21:
Jugendsünden...

 AZU20 (09.07.21)
Schön, dass Du an Uwe Tim erinnerst. LG

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 09.07.21:
Merci, Armin, ich denke auch, dass er es verdient hat.
LG
Ekki

 TassoTuwas (09.07.21)
Hallo Ekki,
das nenn ich gelungen!
Keine aufdringliche Besserwisserei und ohne sauertöpfische Anklage, dafür am Beginn jeder Strophe heile Welt, die zum Ende, mit leichter Hand konterkariert wird.
Die beruhigend Gedanke am Schluss ist von zeitloser Gültigkeit
Herzliche Grüße
TT

Kommentar geändert am 09.07.2021 um 13:12 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.07.21:
Gracias,Tasso,
ich hoffe, dass es immer wieder Menschen geben wird, die den Schönheitsgenuss satter Ausbeuter stören.
Herzliche Grüße
Ekki

 Quoth (09.07.21)
Hallo EkkehardMittelberg, ein gut gefülltes Konto macht frei für die ästhetische Betrachtung der Welt, und nicht nur dafür, auch für die ästhetische Verarbeitung der Welt in Kunst und Literatur, sprich für's Kreative. Und dafür muss man gar kein Ausbeuter sein, sondern kann eine behagliche Pension beziehen! Vielen Dank für die Erinnerung an diesen hintersinnigen Text! Quoth

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.07.21:
Merci, Quoth, ich halte "hintersinnig für eine gute Charakteristik dieses Textes.

 FRP (09.07.21)
Tja, für mich ist das Prosa, da kann der Autor die Zeilen noch so raffiniert verschieben. Lyrik und Agitation, geht das zusammen? Die Antwort für mich bleibt: nein.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.07.21:
Danke, FRP. Da war meine Mühe wohl umsonst, aufzuzeigen, dass es in diesem Text noch andere Stilmittel als Zeilenverschiebungen gibt.
Ich grenze ihn doch gerade gegen Agitprop ab. Er ist auf jeden Fall keine billige Agitation.

 FRP meinte dazu am 09.07.21:
Das war keinesfalls gegen Dich gerichtet, Deine Ausführungen sind sehr interessant. Und trotzdem: Mit einem Gedicht hat das Werk für mich nichts gemein. Abgesehen vom Inhalt ist hier jedes Wort Prosa. "Wissend, das die Tariflöhne nicht gekündigt werden"?! Nein warte, das ist keine Prosa, das ist ein Finanzbericht. Von billiger Agitation habe ich auch nichts geschrieben, obwohl ich sehr froh bin, dass die Ho-Ho-Ho-Chi-Minh Generation überwunden ist. Aber gut, genau mit dieser Form von "Gedichten" hat mich die DDR während meiner Schulzeit zu Tode genervt. Gerade darin ist es epochentypisch. Nichts für ungut.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.07.21:
Aus meiner Sicht ist Politische Lyrik prinzipiell für jeden Wortschatz offen, auch für den aus Finanzberichten. Es kommt immer darauf an, was der Autor mit dem Wortschatz kritisch entlarven will.
Ich kenne Politische Lyrik aus der DDR recht gut. Meistens fehlt ihr die geistreiche Eleganz des Gedichts von Timm.

 harzgebirgler (10.07.21)
in des betrachters auge liegt
die schönheit, die's zu sehen kriegt
meinte einst zumindest goethe
dem sich heut noch manche böte.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.07.21:
Merci, Henning.
Manche Augen kriegen nichts Schönes zu sehen,
weil sei von Schönheit nichts verstehen. :)

LG
Ekki
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